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Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Zweites Vierteljahr.

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Gegensatz; und wieder ist zu betonen, daß Volksleben etwas Differenziertes und
Kompliziertes ist und bei unbefangener Betrachtung viel reicher, als das Schema
der Parteien. Ist auch nicht zu leugnen, daß die Berücksichtigung der Mino¬
ritäten ein ethisches Moment enthält und so der Proporz ausgleichend und
beruhigend wirken kann, so steht dem als Nachteil entgegen der Zwang gerade
für die Ausnahmemenschen, lediglich als Parteimitglieder aufzutreten; dieser
zeigt sich allerdings erst in den Verhandlungen, während die Vorteile des
Proporzes beim Wahlakt liegen.

Gerade für diesen jedoch ergibt sich zum Schluß noch ein wichtiger Gesichts¬
punkt: was ist der Zweck der Wahl, und geht er vielleicht über den Zeitpunkt
ihrer Vornahme hinaus? Und was für Tatsachen erführe man durch sie?
Die Fiktion, als ergäbe sie völlig unbeeinflußte Äußerungen der Volksseele,
mag agitatorisch nützlich sein, ist aber genau ebenso eine Heuchelei, wie die
Fiktion der Gleichheit der Stimmen. Vielmehr zeigt eine Wahl, inwieweit es
den Parteien gelungen ist, die Stimmberechtigten zu beeinflussen; ihre ganze
Tätigkeit vor der Wahl besteht aus nichts anderem, und nur gröbste Mittel
find dabei verboten. Ganz scharf gefaßt erfährt man also eigentlich nicht, wie
das Volk denkt, sondern wieviel Energie, Geschicklichkeit und Skrupellosigkeit
eine Partei besitzt, dem Volke seine Parteigrundsätze zu suggerieren und sie
ihm als die Erfüllung seiner Wünsche erscheinen zu lassen. Dieser geistige
Einfluß der Parteien wird nun in der Verhältniswahl als stabil gefaßt und
verewigt, ja für den alleinigen Maßstab politischen Lebens erklärt. Kein
politisches Heil, als in. für und durch die Partei; selbständigeres Denken ist
ausgeschlossen. Bezweckt man nun durch die Wahl, die im Leben von Millionen
ihre einzige politische Handlung, ja Betätigungsmöglichkeit darstellt, etwas
Höheres als das Momentane, nämlich Anregung. Förderung und Vertiefung
des Interesses für den Staat, so ist es bedenklich, die gegenwärtigen Parteien
Zahlenmäßig in Listen zu stabilisieren. Nur zu leicht wird dadurch Fortschritt
und Veränderung innerhalb der Gruppen im Keime erstickt, und der Gedanke
der Entwicklung, der unser ganzes geschichtliches und staatliches Denken durch¬
sieht, kommt zu kurz. Ein Pluralwahlrecht ist ein bewegliches, vorwärts¬
treibendes Element; eine Pluralstimme kann man zu erwerben und zu erringen
suchen und so durch eigene Leistung, nicht nur durch einen Wahlzettel, sich eine
erhöhte Geltung im politischen Leben sichern, ohne gezwungen zu sein, auf die
gegenwärtigen Parteidogmen zu schwören; schließlich kann das System der Zu¬
teilung von solchen in größeren Zeitabschnitten abgeändert werden, wie wir ja
auch dauernd neue Gesetze machen. Dieser theoretische Punkt scheint mir der
wichtigste und erwägenswerteste aller vorgetragenen, wogegen eine Vollständigkeit
dessen, was Philosophie zum Problem des Wahlrechts etwa zu sagen hätte,
nicht von diesen knappen Ausführungen verlangt werden darf.




Gegensatz; und wieder ist zu betonen, daß Volksleben etwas Differenziertes und
Kompliziertes ist und bei unbefangener Betrachtung viel reicher, als das Schema
der Parteien. Ist auch nicht zu leugnen, daß die Berücksichtigung der Mino¬
ritäten ein ethisches Moment enthält und so der Proporz ausgleichend und
beruhigend wirken kann, so steht dem als Nachteil entgegen der Zwang gerade
für die Ausnahmemenschen, lediglich als Parteimitglieder aufzutreten; dieser
zeigt sich allerdings erst in den Verhandlungen, während die Vorteile des
Proporzes beim Wahlakt liegen.

Gerade für diesen jedoch ergibt sich zum Schluß noch ein wichtiger Gesichts¬
punkt: was ist der Zweck der Wahl, und geht er vielleicht über den Zeitpunkt
ihrer Vornahme hinaus? Und was für Tatsachen erführe man durch sie?
Die Fiktion, als ergäbe sie völlig unbeeinflußte Äußerungen der Volksseele,
mag agitatorisch nützlich sein, ist aber genau ebenso eine Heuchelei, wie die
Fiktion der Gleichheit der Stimmen. Vielmehr zeigt eine Wahl, inwieweit es
den Parteien gelungen ist, die Stimmberechtigten zu beeinflussen; ihre ganze
Tätigkeit vor der Wahl besteht aus nichts anderem, und nur gröbste Mittel
find dabei verboten. Ganz scharf gefaßt erfährt man also eigentlich nicht, wie
das Volk denkt, sondern wieviel Energie, Geschicklichkeit und Skrupellosigkeit
eine Partei besitzt, dem Volke seine Parteigrundsätze zu suggerieren und sie
ihm als die Erfüllung seiner Wünsche erscheinen zu lassen. Dieser geistige
Einfluß der Parteien wird nun in der Verhältniswahl als stabil gefaßt und
verewigt, ja für den alleinigen Maßstab politischen Lebens erklärt. Kein
politisches Heil, als in. für und durch die Partei; selbständigeres Denken ist
ausgeschlossen. Bezweckt man nun durch die Wahl, die im Leben von Millionen
ihre einzige politische Handlung, ja Betätigungsmöglichkeit darstellt, etwas
Höheres als das Momentane, nämlich Anregung. Förderung und Vertiefung
des Interesses für den Staat, so ist es bedenklich, die gegenwärtigen Parteien
Zahlenmäßig in Listen zu stabilisieren. Nur zu leicht wird dadurch Fortschritt
und Veränderung innerhalb der Gruppen im Keime erstickt, und der Gedanke
der Entwicklung, der unser ganzes geschichtliches und staatliches Denken durch¬
sieht, kommt zu kurz. Ein Pluralwahlrecht ist ein bewegliches, vorwärts¬
treibendes Element; eine Pluralstimme kann man zu erwerben und zu erringen
suchen und so durch eigene Leistung, nicht nur durch einen Wahlzettel, sich eine
erhöhte Geltung im politischen Leben sichern, ohne gezwungen zu sein, auf die
gegenwärtigen Parteidogmen zu schwören; schließlich kann das System der Zu¬
teilung von solchen in größeren Zeitabschnitten abgeändert werden, wie wir ja
auch dauernd neue Gesetze machen. Dieser theoretische Punkt scheint mir der
wichtigste und erwägenswerteste aller vorgetragenen, wogegen eine Vollständigkeit
dessen, was Philosophie zum Problem des Wahlrechts etwa zu sagen hätte,
nicht von diesen knappen Ausführungen verlangt werden darf.




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_331841/118>, abgerufen am 27.12.2024.