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Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Erstes Vierteljahr.

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Der Plan der Nationalisierung der englischen Eisenbahnen

getreten, so hätte das Parlament sicherlich die Ermächtigung zur weiteren
Tariferhöhung erteilt, denn es hätte den Stimmen der vereinigten Eisenbahn¬
interessen nicht Widerstand zu leisten vermocht.

Wenn wir uns nun unvoreingenommen fragen, welches denn die dem
kundigen Beobachter aus den eingangs charakterisierten Umständen offensichtlich
zutage tretenden Mängel des englischen Eisenbahnwesens sind, so zeigen sich
diese in der vollkommen unzweckmäßigen, verschwenderischen und unproduktiven
Ausnutzung des teilweise allerdings erstklassiger, aber nicht auf seinem Stande
erhaltenen Materials und in der vollständig versagenden Überwachung der
Bahnen seitens einer übergeordneten Regierungsstelle, die in der Lage wäre,
gewisse Betriebs- und Verkehrsgrundsätze nach einheitlichen Gesichtspunkten fest¬
zustellen. Von den 1560 000 FraKwaggons, die England (Großbritannien
und Irland) im Jahre 1910 nach den vorliegenden statistischen Ausweisen besaß,
wurden im genannten Jahre insgesamt nur 377 Millionen Tonnen Last be¬
fördert, somit von jedem Waggon nur 270 Tonnen im Jahre, oder etwa
880 Kilogramm pro Tag. Reduziert man diese Last auf die tatsächlich durch¬
laufenen Zugkilometer, so ergibt sich als Durchschnittsleistung für jeden dieser
-- im Durchschnitt 6 Tonnen fassenden -- Lastwaggons eine Tagesleistung
von 880 Kilogramm auf 14 Kilometer. Das ist eine verschwenderisch geringe
Leistung gegenüber dem Arbeitsausmaß unserer Staatsbahnwaggons, denn sie
beträgt kaum mehr als einhalb Prozent der vollen, möglichen Leistung. Dieser
Verschwendung an totem Material, die um so unbegreiflicher ist, weil die Ruhe¬
pausen der Waggons nicht oder nicht genügend zur Aufbesserung des alten
Materials verwendet wurden, reiht sich dann die Verschwendung an lebendem
Material, am Material der Hilfsarbeiter und insbesondere des Verschubdienstes
an, mit dem rücksichtslos gewirtschaftet wurde und an dem in diesem erklärten
Lande der Humanität ein direkter Raubbau getrieben wird. Auch hier sprechen
die von der Statistik gegebenen Daten für sich, wobei allerdings in Betracht
zu ziehen ist, daß es sich um Ziffern aus dem Kriegsjahre handelt, deren Höhe
vielleicht zum Teil auf das ungeübte Personal zurückzuführen ist. Danach
wurden im Jahre 1915 im Verschubdienst allein nicht weniger als 106 Menschen
getötet und 2751 verwundet. Alles in allem wurden im englischen Eisenbahn¬
dienst in diesem Jahre nicht weniger als 398 Menschen getötet und 4937 ver¬
wundet; außerdem wurden' noch 21 000 anderweitige Verletzungen geringerer
Natur herbeigeführt.

Diese Ziffern bewiesen an sich schon das Vorhandensein unhaltbarer und
rückständiger Verkehrseinrichtungen, wenn dieser Nachweis nicht schon durch die
anderen angegebenen Tatsachen erbracht wäre, und diese Zustände hätten sich
nicht in das gesamte englische Eisenbahnwesen einnisten und es zu einer Art
von reaktionären System ausgestalten können, wenn nicht jenes andere erwähnte
Moment, das Fehlen jeder zielbewußter, verständigen, die Interessen des
Gesamtpublikums währenden staatlichen Überwachung des englischen Eisenbahn-


Der Plan der Nationalisierung der englischen Eisenbahnen

getreten, so hätte das Parlament sicherlich die Ermächtigung zur weiteren
Tariferhöhung erteilt, denn es hätte den Stimmen der vereinigten Eisenbahn¬
interessen nicht Widerstand zu leisten vermocht.

Wenn wir uns nun unvoreingenommen fragen, welches denn die dem
kundigen Beobachter aus den eingangs charakterisierten Umständen offensichtlich
zutage tretenden Mängel des englischen Eisenbahnwesens sind, so zeigen sich
diese in der vollkommen unzweckmäßigen, verschwenderischen und unproduktiven
Ausnutzung des teilweise allerdings erstklassiger, aber nicht auf seinem Stande
erhaltenen Materials und in der vollständig versagenden Überwachung der
Bahnen seitens einer übergeordneten Regierungsstelle, die in der Lage wäre,
gewisse Betriebs- und Verkehrsgrundsätze nach einheitlichen Gesichtspunkten fest¬
zustellen. Von den 1560 000 FraKwaggons, die England (Großbritannien
und Irland) im Jahre 1910 nach den vorliegenden statistischen Ausweisen besaß,
wurden im genannten Jahre insgesamt nur 377 Millionen Tonnen Last be¬
fördert, somit von jedem Waggon nur 270 Tonnen im Jahre, oder etwa
880 Kilogramm pro Tag. Reduziert man diese Last auf die tatsächlich durch¬
laufenen Zugkilometer, so ergibt sich als Durchschnittsleistung für jeden dieser
— im Durchschnitt 6 Tonnen fassenden — Lastwaggons eine Tagesleistung
von 880 Kilogramm auf 14 Kilometer. Das ist eine verschwenderisch geringe
Leistung gegenüber dem Arbeitsausmaß unserer Staatsbahnwaggons, denn sie
beträgt kaum mehr als einhalb Prozent der vollen, möglichen Leistung. Dieser
Verschwendung an totem Material, die um so unbegreiflicher ist, weil die Ruhe¬
pausen der Waggons nicht oder nicht genügend zur Aufbesserung des alten
Materials verwendet wurden, reiht sich dann die Verschwendung an lebendem
Material, am Material der Hilfsarbeiter und insbesondere des Verschubdienstes
an, mit dem rücksichtslos gewirtschaftet wurde und an dem in diesem erklärten
Lande der Humanität ein direkter Raubbau getrieben wird. Auch hier sprechen
die von der Statistik gegebenen Daten für sich, wobei allerdings in Betracht
zu ziehen ist, daß es sich um Ziffern aus dem Kriegsjahre handelt, deren Höhe
vielleicht zum Teil auf das ungeübte Personal zurückzuführen ist. Danach
wurden im Jahre 1915 im Verschubdienst allein nicht weniger als 106 Menschen
getötet und 2751 verwundet. Alles in allem wurden im englischen Eisenbahn¬
dienst in diesem Jahre nicht weniger als 398 Menschen getötet und 4937 ver¬
wundet; außerdem wurden' noch 21 000 anderweitige Verletzungen geringerer
Natur herbeigeführt.

Diese Ziffern bewiesen an sich schon das Vorhandensein unhaltbarer und
rückständiger Verkehrseinrichtungen, wenn dieser Nachweis nicht schon durch die
anderen angegebenen Tatsachen erbracht wäre, und diese Zustände hätten sich
nicht in das gesamte englische Eisenbahnwesen einnisten und es zu einer Art
von reaktionären System ausgestalten können, wenn nicht jenes andere erwähnte
Moment, das Fehlen jeder zielbewußter, verständigen, die Interessen des
Gesamtpublikums währenden staatlichen Überwachung des englischen Eisenbahn-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_331409/96>, abgerufen am 25.08.2024.