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Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Erstes Vierteljahr.

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Noch einmal: Ethik und Politik

anderen als ethischen Gesichtspunkt aus will man denn den Lügenfeldzug ver¬
dammen, den unsere Feinde gegen uns geführt haben? Und soll man nicht
sagen dürfen, daß unser Verhalten gegen Belgien, ein extremer Notfall,
hundertmal vornehmer und anständiger war. als das ekelhafte Vorgehen der
Entente in Griechenland, für das keinerlei zwingender Grund oder Lebensnot
vorlag? Es ist geradezu erschreckend, wie z. B. Baumgarten dazu gedrängt
wird, die ungeheure englische Heuchelei (Freiheit der Kleinen, Kampf für
Zivilisation usw.) zu verteidigen und zu entschuldigen. Heuchelei hat eine
Stelle in der praktischen Moral, aber nur wenn sie ein Durchgangspunkt auf
dem Wege zu sittlicher Wahrheit ist; der Schwankende heuchelt zunächst einmal
"Tugend", bis sie ihm zur zweiten Natur geworden und dann ehrlich ist.
Aber von dieser psychologischen Feinheit ist doch hier keine Rede; diese
Heuchelei ist auch keine Anerkennung ethischer Forderungen, sondern bewußter
Betrug. Geschichtsfälschung, Verhetzung.

Das Verhältnis von Ethik und Politik ist also genau wie bei der Privatmoral
das einer dauernden, nie restlos erfüllten Forderung, eines Ideals, verbunden
mit der Hoffnung auf einen immer größeren Sieg des Guten. Daß diese
fortschreitende Moralisierung beim Staat einfach dadurch kommt, daß die Politik
immer mehr demokratisiert wird, wie Baumgarten meint, ist eine irrige Hoffnung;
die Volksmasse ist nicht moralischer als der einzelne und die alte Idee der
Aufklärungszeit, auch Kants, nur die Monarchen machten Kriege, ist heute doch
nicht mehr aufrecht zu erhalten. Am wenigsten wird die Politik moralisiert
werden, wenn man aus Schrecken über die Greuel dieser Zeit die Flinte ins
Korn wirft und den Staat machiavellistischen und Nietzscheschen Prinzipien über¬
antwortet. Wer verzweifeln will wegen des ungeheueren Abstands zwischen Sollen
und Wirklichkeit, der verlebendige sich einmal den Abstand zwischen dem tatsächlichen
Zustand unserer Voreltern und der Ethik, die ihnen etwa Bonifazius predigte.
Ich halte diesen für größer, als den in der heutigen Politik, denn Ansätze zur
Ethisierung sind hier zweifellos vorhanden; auf solche wies ich schon im ersten
Aufsatz hin. Die Wahrheit siegt z. B. doch langsam über die Lüge: Amerika
hat das Belogenwerden schon satt. Und ist es nicht ein Fortschritt und echt deutsch,
wenn unser Reichskanzler den Einmarsch in Belgien offen beim Namen nannte,
anstatt Lügen dafür zu ersinnen? Das hieß nicht: Verträge gelten gar nichts;
aber sie sind nicht das höchste und letzte. Über ihnen steht der Zwang der Not,
der Eisen bricht -- und Papier. Also muß eine Vertragsverletzung durch höhere
Staatsinteressen gerechtfertigt sein; wohl ihnen, wenn Italien und Rumänien auch
das von sich sagen könnten. Für die Vergewaltigung Griechenlands lag jedenfalls
keine Not vor; ebensowenig für die Nichtachtung des Frankfurter Vertrags, die
Frankreichs Eroberungspolitik seit Jahren zu Grunde lag. Es läßt sich also sehr
wohl im einzelnen Fall nach ethischen Gesichtspunkten urteilen, wenn man seinen
Verstand nicht zum Weißwaschen des alten Zynikers Machiavelli verwendet oder
ethische Theorien aufstellt, die auch im Privatleben als Maßstab ungeeignet sind.


Noch einmal: Ethik und Politik

anderen als ethischen Gesichtspunkt aus will man denn den Lügenfeldzug ver¬
dammen, den unsere Feinde gegen uns geführt haben? Und soll man nicht
sagen dürfen, daß unser Verhalten gegen Belgien, ein extremer Notfall,
hundertmal vornehmer und anständiger war. als das ekelhafte Vorgehen der
Entente in Griechenland, für das keinerlei zwingender Grund oder Lebensnot
vorlag? Es ist geradezu erschreckend, wie z. B. Baumgarten dazu gedrängt
wird, die ungeheure englische Heuchelei (Freiheit der Kleinen, Kampf für
Zivilisation usw.) zu verteidigen und zu entschuldigen. Heuchelei hat eine
Stelle in der praktischen Moral, aber nur wenn sie ein Durchgangspunkt auf
dem Wege zu sittlicher Wahrheit ist; der Schwankende heuchelt zunächst einmal
„Tugend", bis sie ihm zur zweiten Natur geworden und dann ehrlich ist.
Aber von dieser psychologischen Feinheit ist doch hier keine Rede; diese
Heuchelei ist auch keine Anerkennung ethischer Forderungen, sondern bewußter
Betrug. Geschichtsfälschung, Verhetzung.

Das Verhältnis von Ethik und Politik ist also genau wie bei der Privatmoral
das einer dauernden, nie restlos erfüllten Forderung, eines Ideals, verbunden
mit der Hoffnung auf einen immer größeren Sieg des Guten. Daß diese
fortschreitende Moralisierung beim Staat einfach dadurch kommt, daß die Politik
immer mehr demokratisiert wird, wie Baumgarten meint, ist eine irrige Hoffnung;
die Volksmasse ist nicht moralischer als der einzelne und die alte Idee der
Aufklärungszeit, auch Kants, nur die Monarchen machten Kriege, ist heute doch
nicht mehr aufrecht zu erhalten. Am wenigsten wird die Politik moralisiert
werden, wenn man aus Schrecken über die Greuel dieser Zeit die Flinte ins
Korn wirft und den Staat machiavellistischen und Nietzscheschen Prinzipien über¬
antwortet. Wer verzweifeln will wegen des ungeheueren Abstands zwischen Sollen
und Wirklichkeit, der verlebendige sich einmal den Abstand zwischen dem tatsächlichen
Zustand unserer Voreltern und der Ethik, die ihnen etwa Bonifazius predigte.
Ich halte diesen für größer, als den in der heutigen Politik, denn Ansätze zur
Ethisierung sind hier zweifellos vorhanden; auf solche wies ich schon im ersten
Aufsatz hin. Die Wahrheit siegt z. B. doch langsam über die Lüge: Amerika
hat das Belogenwerden schon satt. Und ist es nicht ein Fortschritt und echt deutsch,
wenn unser Reichskanzler den Einmarsch in Belgien offen beim Namen nannte,
anstatt Lügen dafür zu ersinnen? Das hieß nicht: Verträge gelten gar nichts;
aber sie sind nicht das höchste und letzte. Über ihnen steht der Zwang der Not,
der Eisen bricht — und Papier. Also muß eine Vertragsverletzung durch höhere
Staatsinteressen gerechtfertigt sein; wohl ihnen, wenn Italien und Rumänien auch
das von sich sagen könnten. Für die Vergewaltigung Griechenlands lag jedenfalls
keine Not vor; ebensowenig für die Nichtachtung des Frankfurter Vertrags, die
Frankreichs Eroberungspolitik seit Jahren zu Grunde lag. Es läßt sich also sehr
wohl im einzelnen Fall nach ethischen Gesichtspunkten urteilen, wenn man seinen
Verstand nicht zum Weißwaschen des alten Zynikers Machiavelli verwendet oder
ethische Theorien aufstellt, die auch im Privatleben als Maßstab ungeeignet sind.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_331409/50>, abgerufen am 23.07.2024.