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Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Erstes Vierteljahr.

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Noch einmal: Ethik und Politik

bescheiden sein, wenn wir das Erreichte mit der Forderung vergleichen? "O,
daß dem Menschen nichts Vollkommnes wird, empfind' ich nun", sagt Goethe-
Faust. Aber gibt man darum die Normen auf, die Ideale preis!? Hören
wir aus Betrug zu tadeln, Diebstahl und Mord zu strafen, weil es noch immer
Diebe, Betrüger, Mörder gibt? Wer sich durch die mangelhafte Durchführung
von Moralgeboten entmutigen lassen will, findet im Privatleben reichen Anlaß
zu Pessimismus und brauchte nicht auf diesen Krieg zu warten oder den bösen
Staat auszunehmen. Unvollkommenheit überall -- dieser Fundamentaltatsache
gegenüber müssen sich ethische Vollkommenheit-Ansprüche auf allen Gebieten
behaupten.

Die unheilbare Trennung zwischen Politik und Moral, nach der jener nur
die Aufgabe zufiele, die Macht des Staates zu fördern, dieser nur der so¬
genannte Altruismus, der Dienst an anderen, beruht auf einer unrichtigen
Ethik. Es ist gar nicht an dem. daß das Leben für den "anderen" zur Be¬
gründung einer solchen ausreichte; der reine Altruismus ist, wie ich in meiner
bei Göschen erschienenen Ethik gezeigt habe, als Theorie ungenügend. "Selbst¬
behauptung", Selbsterhaltung, Selbstvervollkommnung sind auch beim einzelnen
ethische Aufgaben; selbst der altruistischste Berus unserer Kultur, die Kranken¬
pflege, erfordert eine Sorge des Pflegenden für sich selbst, sonst wird man
selbst krank, unfähig, oder stirbt und kann jedenfalls nichts leisten. Wirklich
nur für andere kann kein Mensch leben. Das Opfer ist überhaupt eine
Ausnahme, nicht die Regel, und nur mit Selbstaufopferung kann man wohl
sterben, z. B. für das Vaterland, aber niemals leben. Die "Selbstbehauptung",
die man der Politik sür den Staat zuweist, hat auch der einzelne nötig, auch
der Tugendhasteste; äußerlich hat sie ihm eben der Kulturstaat abgenommen.
Nun dieser sie auf seinen Schultern trägt, scheint sie beim Privatmann un¬
nötig; aber vor dem allgemeinen Landfrieden mußte auch der ethische Bürger
in Wehr und Waffen reisen, um nicht erschlagen zu werden; Kulturpioniere in
fernen Ländern und Kolonien müssen sich ohne Staatsschutz helfen; schließlich
jeder, wenn die Polizei nicht da ist oder versagt. Der Kulturstaat aber
ermöglicht es erst dem einzelnen, viel mehr für andere zu handeln und
zu leben, weil er die nächste Sorge um sein und der Seinigen Leben nicht
mehr hat.

Die Bergpredigt, die immer als Typus der Ethik herangezogen wird, ist
nicht die ganze Ethik, nicht einmal die ganze christliche. "Seligpreisungen"
bedeuten in der Sprache der Philosophie die Aufstellung höchster, absoluter
Werte, nicht aber eine Kasuistik für den Alltag und das ganze Leben. Ge¬
priesen wird, wem und wann es gelingt, solchem Ideal nachzustreben; poli¬
tisches Tun mag da noch am weitesten entfernt sein -- weit genug bleibt doch
auch das Privatleben zurück hinter solchen ethischen Rekordleistungen. Sie
müssen auch hier bestimmt werden nach den Forderungen des Lebens, soll eine
Jndividualethik nicht hyperidealistisch, zwar sehr rein aber dafür desto un-


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Noch einmal: Ethik und Politik

bescheiden sein, wenn wir das Erreichte mit der Forderung vergleichen? „O,
daß dem Menschen nichts Vollkommnes wird, empfind' ich nun", sagt Goethe-
Faust. Aber gibt man darum die Normen auf, die Ideale preis!? Hören
wir aus Betrug zu tadeln, Diebstahl und Mord zu strafen, weil es noch immer
Diebe, Betrüger, Mörder gibt? Wer sich durch die mangelhafte Durchführung
von Moralgeboten entmutigen lassen will, findet im Privatleben reichen Anlaß
zu Pessimismus und brauchte nicht auf diesen Krieg zu warten oder den bösen
Staat auszunehmen. Unvollkommenheit überall — dieser Fundamentaltatsache
gegenüber müssen sich ethische Vollkommenheit-Ansprüche auf allen Gebieten
behaupten.

Die unheilbare Trennung zwischen Politik und Moral, nach der jener nur
die Aufgabe zufiele, die Macht des Staates zu fördern, dieser nur der so¬
genannte Altruismus, der Dienst an anderen, beruht auf einer unrichtigen
Ethik. Es ist gar nicht an dem. daß das Leben für den „anderen" zur Be¬
gründung einer solchen ausreichte; der reine Altruismus ist, wie ich in meiner
bei Göschen erschienenen Ethik gezeigt habe, als Theorie ungenügend. „Selbst¬
behauptung", Selbsterhaltung, Selbstvervollkommnung sind auch beim einzelnen
ethische Aufgaben; selbst der altruistischste Berus unserer Kultur, die Kranken¬
pflege, erfordert eine Sorge des Pflegenden für sich selbst, sonst wird man
selbst krank, unfähig, oder stirbt und kann jedenfalls nichts leisten. Wirklich
nur für andere kann kein Mensch leben. Das Opfer ist überhaupt eine
Ausnahme, nicht die Regel, und nur mit Selbstaufopferung kann man wohl
sterben, z. B. für das Vaterland, aber niemals leben. Die „Selbstbehauptung",
die man der Politik sür den Staat zuweist, hat auch der einzelne nötig, auch
der Tugendhasteste; äußerlich hat sie ihm eben der Kulturstaat abgenommen.
Nun dieser sie auf seinen Schultern trägt, scheint sie beim Privatmann un¬
nötig; aber vor dem allgemeinen Landfrieden mußte auch der ethische Bürger
in Wehr und Waffen reisen, um nicht erschlagen zu werden; Kulturpioniere in
fernen Ländern und Kolonien müssen sich ohne Staatsschutz helfen; schließlich
jeder, wenn die Polizei nicht da ist oder versagt. Der Kulturstaat aber
ermöglicht es erst dem einzelnen, viel mehr für andere zu handeln und
zu leben, weil er die nächste Sorge um sein und der Seinigen Leben nicht
mehr hat.

Die Bergpredigt, die immer als Typus der Ethik herangezogen wird, ist
nicht die ganze Ethik, nicht einmal die ganze christliche. „Seligpreisungen"
bedeuten in der Sprache der Philosophie die Aufstellung höchster, absoluter
Werte, nicht aber eine Kasuistik für den Alltag und das ganze Leben. Ge¬
priesen wird, wem und wann es gelingt, solchem Ideal nachzustreben; poli¬
tisches Tun mag da noch am weitesten entfernt sein — weit genug bleibt doch
auch das Privatleben zurück hinter solchen ethischen Rekordleistungen. Sie
müssen auch hier bestimmt werden nach den Forderungen des Lebens, soll eine
Jndividualethik nicht hyperidealistisch, zwar sehr rein aber dafür desto un-


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[0047] Noch einmal: Ethik und Politik bescheiden sein, wenn wir das Erreichte mit der Forderung vergleichen? „O, daß dem Menschen nichts Vollkommnes wird, empfind' ich nun", sagt Goethe- Faust. Aber gibt man darum die Normen auf, die Ideale preis!? Hören wir aus Betrug zu tadeln, Diebstahl und Mord zu strafen, weil es noch immer Diebe, Betrüger, Mörder gibt? Wer sich durch die mangelhafte Durchführung von Moralgeboten entmutigen lassen will, findet im Privatleben reichen Anlaß zu Pessimismus und brauchte nicht auf diesen Krieg zu warten oder den bösen Staat auszunehmen. Unvollkommenheit überall — dieser Fundamentaltatsache gegenüber müssen sich ethische Vollkommenheit-Ansprüche auf allen Gebieten behaupten. Die unheilbare Trennung zwischen Politik und Moral, nach der jener nur die Aufgabe zufiele, die Macht des Staates zu fördern, dieser nur der so¬ genannte Altruismus, der Dienst an anderen, beruht auf einer unrichtigen Ethik. Es ist gar nicht an dem. daß das Leben für den „anderen" zur Be¬ gründung einer solchen ausreichte; der reine Altruismus ist, wie ich in meiner bei Göschen erschienenen Ethik gezeigt habe, als Theorie ungenügend. „Selbst¬ behauptung", Selbsterhaltung, Selbstvervollkommnung sind auch beim einzelnen ethische Aufgaben; selbst der altruistischste Berus unserer Kultur, die Kranken¬ pflege, erfordert eine Sorge des Pflegenden für sich selbst, sonst wird man selbst krank, unfähig, oder stirbt und kann jedenfalls nichts leisten. Wirklich nur für andere kann kein Mensch leben. Das Opfer ist überhaupt eine Ausnahme, nicht die Regel, und nur mit Selbstaufopferung kann man wohl sterben, z. B. für das Vaterland, aber niemals leben. Die „Selbstbehauptung", die man der Politik sür den Staat zuweist, hat auch der einzelne nötig, auch der Tugendhasteste; äußerlich hat sie ihm eben der Kulturstaat abgenommen. Nun dieser sie auf seinen Schultern trägt, scheint sie beim Privatmann un¬ nötig; aber vor dem allgemeinen Landfrieden mußte auch der ethische Bürger in Wehr und Waffen reisen, um nicht erschlagen zu werden; Kulturpioniere in fernen Ländern und Kolonien müssen sich ohne Staatsschutz helfen; schließlich jeder, wenn die Polizei nicht da ist oder versagt. Der Kulturstaat aber ermöglicht es erst dem einzelnen, viel mehr für andere zu handeln und zu leben, weil er die nächste Sorge um sein und der Seinigen Leben nicht mehr hat. Die Bergpredigt, die immer als Typus der Ethik herangezogen wird, ist nicht die ganze Ethik, nicht einmal die ganze christliche. „Seligpreisungen" bedeuten in der Sprache der Philosophie die Aufstellung höchster, absoluter Werte, nicht aber eine Kasuistik für den Alltag und das ganze Leben. Ge¬ priesen wird, wem und wann es gelingt, solchem Ideal nachzustreben; poli¬ tisches Tun mag da noch am weitesten entfernt sein — weit genug bleibt doch auch das Privatleben zurück hinter solchen ethischen Rekordleistungen. Sie müssen auch hier bestimmt werden nach den Forderungen des Lebens, soll eine Jndividualethik nicht hyperidealistisch, zwar sehr rein aber dafür desto un- 3*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_331409/47>, abgerufen am 23.07.2024.