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Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Erstes Vierteljahr.

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Antiqua oder Fraktur?

daß es ein punktförmiges Gebiet deutlichsten Sehens in der Zentralgrube des
gelben Fleckes der Netzhaut des Auges gebe und daß wir. bei dem Streben,
deutlich zu sehen, ein Bild des zu beobachienden Gegenstandes auf diesem
Punkte entwürfen. Bei Gegenständen von auch nur einiger Ausdehnung, z. B.
bei Druckbuchstaben, müßten wir dann deren Teile sukzessive den Punkt deut¬
lichsten Sehens passieren lassen. Das Sehen, insbesondere das Erkennen der
Schriftzeichen beim Lesen, würde also bei kontinuierlich bewegtem Auge und
während dieser Augenbewegung erfolgen. Schon die "Psychologischen Unter¬
suchungen über das Lesen auf experimenteller Grundlage" (Halle 1898)
von B. Erdmann und R. Dodge haben die Unzulänglichkeit dieser Annahme
erwiesen. Die Augenbewegung beim Lesen vollziehen sich nicht kontinuier¬
lich, sondern ruckweise, und das Erkennen der Schriftzeichen, welches
das Lesen erfordert, erfolgt nicht während dieser "Augenrucke" (die
dazu keine Zeit lassen), sondern während der Ruhepausen. Diese sind also
im eigentlichsten Sinne "Lesepausen" und die Augenrucke lediglich Jnter-
fixationsbewegungen. Es kommt also alles darauf an, das Gesichtsfeld des
in der Lesepause ruhenden Auges, das sogenannte "Lesefeld" zu uniersuchen.
Erdmann hat solche Untersuchungen insbesondere mit Hilfe des Tachistoskops,
welches diese Lesefelder isoliert, angestellt, und ich habe ähnliche Untersuchungen
viele Jahre lang in Bonn und später in Bern fortgesetzt. Alle diese Versuche
bestätigten das auch von andern Forschern übereinstimmend gefundene Ergebnis,
daß das Erkennen der Schriftzeichen während der Lesepause (das "Lesen") sich
nach der sogenannten optischen Gesamtform nicht einzelner Buchstaben, sondern
desjenigen Buchstabenkomplexes vollzieht, der während der Lesepause das Lese¬
feld erfüllt. Es kymmen insbesondere nicht etwa einzelne besonders hervor¬
stechende Merkmale einzelner, sogenannter "dominierender" Buchstaben ip Be¬
tracht, sondern einzig und allein die Gesamtform des Lesefeldes. Hieraus er¬
steht man, wie verkehrt es ist, wenn Soennecken schreibt: "Ein Vergleich der
Bestandteile beider Schriften zeigt die Systemlosigkeit der Fraktur und die
Gesetzmäß'gkeit der Antiqua." Denn jene Bestandteile fügen sich in einer
"schöpferischen Synthese" zur optischen Gesamtform des Lesefeldes zusammen,
und die "Systematik" und "Gesetzmäßigkeit" einer Schrift -- soweit mit
diesen nicht eben eindeutigen und klaren Worten deren G?eignetheit für die
Zwecke des Lesens, also ihre "Deutlichkeit" bezeichnet werden soll -- nach
jenen isolierten Bestandteilen zu beurteilen, wäre gleich dem Verfahren, die
Eigenschaften einer chemischen Verbindung nach denen ihrer Elemente, z. B.
die Eigenschaften des Wassers nach denen des Wasserstoffes und des Sauer¬
stoffes beurteilen zu wollen: Aus dem gleichen Grunde kann es auch nur als
eine unklare und zweideutige Redewendung angesehen werden, wenn gesagt
wird, der Aufbau der Antiqua aus den geraden Strichen usw. sei "leicht er-
üärlich", während die Fraktur "wegen ihrer vielen verschiedenen Einzelteile
unverstandene, an sich nichtssagende Liniengebilde" seien. Was gibt es denn


Antiqua oder Fraktur?

daß es ein punktförmiges Gebiet deutlichsten Sehens in der Zentralgrube des
gelben Fleckes der Netzhaut des Auges gebe und daß wir. bei dem Streben,
deutlich zu sehen, ein Bild des zu beobachienden Gegenstandes auf diesem
Punkte entwürfen. Bei Gegenständen von auch nur einiger Ausdehnung, z. B.
bei Druckbuchstaben, müßten wir dann deren Teile sukzessive den Punkt deut¬
lichsten Sehens passieren lassen. Das Sehen, insbesondere das Erkennen der
Schriftzeichen beim Lesen, würde also bei kontinuierlich bewegtem Auge und
während dieser Augenbewegung erfolgen. Schon die „Psychologischen Unter¬
suchungen über das Lesen auf experimenteller Grundlage" (Halle 1898)
von B. Erdmann und R. Dodge haben die Unzulänglichkeit dieser Annahme
erwiesen. Die Augenbewegung beim Lesen vollziehen sich nicht kontinuier¬
lich, sondern ruckweise, und das Erkennen der Schriftzeichen, welches
das Lesen erfordert, erfolgt nicht während dieser „Augenrucke" (die
dazu keine Zeit lassen), sondern während der Ruhepausen. Diese sind also
im eigentlichsten Sinne „Lesepausen" und die Augenrucke lediglich Jnter-
fixationsbewegungen. Es kommt also alles darauf an, das Gesichtsfeld des
in der Lesepause ruhenden Auges, das sogenannte „Lesefeld" zu uniersuchen.
Erdmann hat solche Untersuchungen insbesondere mit Hilfe des Tachistoskops,
welches diese Lesefelder isoliert, angestellt, und ich habe ähnliche Untersuchungen
viele Jahre lang in Bonn und später in Bern fortgesetzt. Alle diese Versuche
bestätigten das auch von andern Forschern übereinstimmend gefundene Ergebnis,
daß das Erkennen der Schriftzeichen während der Lesepause (das „Lesen") sich
nach der sogenannten optischen Gesamtform nicht einzelner Buchstaben, sondern
desjenigen Buchstabenkomplexes vollzieht, der während der Lesepause das Lese¬
feld erfüllt. Es kymmen insbesondere nicht etwa einzelne besonders hervor¬
stechende Merkmale einzelner, sogenannter „dominierender" Buchstaben ip Be¬
tracht, sondern einzig und allein die Gesamtform des Lesefeldes. Hieraus er¬
steht man, wie verkehrt es ist, wenn Soennecken schreibt: „Ein Vergleich der
Bestandteile beider Schriften zeigt die Systemlosigkeit der Fraktur und die
Gesetzmäß'gkeit der Antiqua." Denn jene Bestandteile fügen sich in einer
„schöpferischen Synthese" zur optischen Gesamtform des Lesefeldes zusammen,
und die „Systematik" und „Gesetzmäßigkeit" einer Schrift — soweit mit
diesen nicht eben eindeutigen und klaren Worten deren G?eignetheit für die
Zwecke des Lesens, also ihre „Deutlichkeit" bezeichnet werden soll — nach
jenen isolierten Bestandteilen zu beurteilen, wäre gleich dem Verfahren, die
Eigenschaften einer chemischen Verbindung nach denen ihrer Elemente, z. B.
die Eigenschaften des Wassers nach denen des Wasserstoffes und des Sauer¬
stoffes beurteilen zu wollen: Aus dem gleichen Grunde kann es auch nur als
eine unklare und zweideutige Redewendung angesehen werden, wenn gesagt
wird, der Aufbau der Antiqua aus den geraden Strichen usw. sei „leicht er-
üärlich", während die Fraktur „wegen ihrer vielen verschiedenen Einzelteile
unverstandene, an sich nichtssagende Liniengebilde" seien. Was gibt es denn


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[0421] Antiqua oder Fraktur? daß es ein punktförmiges Gebiet deutlichsten Sehens in der Zentralgrube des gelben Fleckes der Netzhaut des Auges gebe und daß wir. bei dem Streben, deutlich zu sehen, ein Bild des zu beobachienden Gegenstandes auf diesem Punkte entwürfen. Bei Gegenständen von auch nur einiger Ausdehnung, z. B. bei Druckbuchstaben, müßten wir dann deren Teile sukzessive den Punkt deut¬ lichsten Sehens passieren lassen. Das Sehen, insbesondere das Erkennen der Schriftzeichen beim Lesen, würde also bei kontinuierlich bewegtem Auge und während dieser Augenbewegung erfolgen. Schon die „Psychologischen Unter¬ suchungen über das Lesen auf experimenteller Grundlage" (Halle 1898) von B. Erdmann und R. Dodge haben die Unzulänglichkeit dieser Annahme erwiesen. Die Augenbewegung beim Lesen vollziehen sich nicht kontinuier¬ lich, sondern ruckweise, und das Erkennen der Schriftzeichen, welches das Lesen erfordert, erfolgt nicht während dieser „Augenrucke" (die dazu keine Zeit lassen), sondern während der Ruhepausen. Diese sind also im eigentlichsten Sinne „Lesepausen" und die Augenrucke lediglich Jnter- fixationsbewegungen. Es kommt also alles darauf an, das Gesichtsfeld des in der Lesepause ruhenden Auges, das sogenannte „Lesefeld" zu uniersuchen. Erdmann hat solche Untersuchungen insbesondere mit Hilfe des Tachistoskops, welches diese Lesefelder isoliert, angestellt, und ich habe ähnliche Untersuchungen viele Jahre lang in Bonn und später in Bern fortgesetzt. Alle diese Versuche bestätigten das auch von andern Forschern übereinstimmend gefundene Ergebnis, daß das Erkennen der Schriftzeichen während der Lesepause (das „Lesen") sich nach der sogenannten optischen Gesamtform nicht einzelner Buchstaben, sondern desjenigen Buchstabenkomplexes vollzieht, der während der Lesepause das Lese¬ feld erfüllt. Es kymmen insbesondere nicht etwa einzelne besonders hervor¬ stechende Merkmale einzelner, sogenannter „dominierender" Buchstaben ip Be¬ tracht, sondern einzig und allein die Gesamtform des Lesefeldes. Hieraus er¬ steht man, wie verkehrt es ist, wenn Soennecken schreibt: „Ein Vergleich der Bestandteile beider Schriften zeigt die Systemlosigkeit der Fraktur und die Gesetzmäß'gkeit der Antiqua." Denn jene Bestandteile fügen sich in einer „schöpferischen Synthese" zur optischen Gesamtform des Lesefeldes zusammen, und die „Systematik" und „Gesetzmäßigkeit" einer Schrift — soweit mit diesen nicht eben eindeutigen und klaren Worten deren G?eignetheit für die Zwecke des Lesens, also ihre „Deutlichkeit" bezeichnet werden soll — nach jenen isolierten Bestandteilen zu beurteilen, wäre gleich dem Verfahren, die Eigenschaften einer chemischen Verbindung nach denen ihrer Elemente, z. B. die Eigenschaften des Wassers nach denen des Wasserstoffes und des Sauer¬ stoffes beurteilen zu wollen: Aus dem gleichen Grunde kann es auch nur als eine unklare und zweideutige Redewendung angesehen werden, wenn gesagt wird, der Aufbau der Antiqua aus den geraden Strichen usw. sei „leicht er- üärlich", während die Fraktur „wegen ihrer vielen verschiedenen Einzelteile unverstandene, an sich nichtssagende Liniengebilde" seien. Was gibt es denn

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Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_331409/421>, abgerufen am 25.08.2024.