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Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Erstes Vierteljahr.

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Belgiens Neutralität

Das find Sophismen, nach Art des Acervus-Beweises, wonach es keine
Sandhaufen gibt, weil man nicht sagen kann, mit dem wievielten Sandkorn
hingestreuter Sand zum Haufen wird. Natürlich sind die rechtlichen Begriffe
Not. Notwehr. Notstand dehnbar; sie sind darauf zugeschnitten, der Viel¬
gestaltigkeit des Lebens, der Würdigung jedes einzelnen Falles gerens! zu
werden. Auch im Privat- und Strafrecht gibt der Gesetzgeber diesen Begriffen
in klarer Absicht einen weiten Spielraum, und wer in Notstand oder Notwehr
handelt, läuft Gefahr, daß er nachher durch den Richter in: Stich gelassen
wird.

Daß der Notbegriff gerade im Völkerrecht oder doch im Gebiet des
Neutralitätsrechts keine Stätte habe, ist vereinzelt gesagt worden, ist aber nicht
haltbar. Es wäre höchst unvernünftig, ungerecht und undurchführbar, wenn
souveränen Staaten ein Recht versagt sein sollte, das in allen Rechtsordnungen
der Welt von jeher als unantastbares Menschenrecht gegolten hat: das Recht
im Falle echter Not sich hinwegzusetzen über die normalen Schranken sonst
geltender Rechtsregeln, das Recht, den Wert seiner lebendigen Existenz
einzusetzen gegen den Wert von Sachgütern, das Recht unersetzlichen Gütern
die ersttzbaren Güter anderer zu opfern.

Wenn es wahr ist einerseits, daß der Durchmarsch durch Belgiens Gebiet
für uns eine militärische Notwendigkeit, also eine staatliche Lebensfrage war.
und wenn es anderseits wahr wäre, daß es Deutschlands Regierung trotzdem
völkerrechtlich schlechthin verwehrt war, in Belgien einzurücken, so muß man
sagen, daß dieses Völkerrecht ein ohnmächtiges Buchstabenrecht ohne Wahrheit
und ohne die Kraft wirklicher Geltung war, ein Recht von 'demselben Wert
wie der Schein des Shnlock. ein Stück Papier mit unsittlichen, mit unmög¬
lichen Inhalt: der Verpflichtung zur Selbstopferung, zum passiven
Selbstmord.

Wir wissen aber aus zahlreichen Zeugnissen alter und neuer Juristen,
auch englischer und amerikanischer Autoritäten, daß das Notrecht, das unbedingte
Recht der SelbsterlMung stets als unentziehbares. unverzichtbares Daseinsrecht
der standen gegolten hat. Statt aller nenne ich nur aus älterer Zeit Hugo
Grotius und Vattel. aus neuerer Zeit Lawrence, Hall, Twiß und Westlake.
Die theoretische Anzweiflung dieses Rechtes, welche neuerdings unternommen ist,
scheitert an der Natur der Sache, an der Wahrheit der Tatsachen.

Es ist nicht wahr, daß die Staaten jemals übereingekommen sind, auf
das Recht der Not zu verzichten. Niemals aufgehört hat deswegen das Recht
der Staaten, durch Notwehr und Notstandshandlung die Pflicht der Selbst¬
erhaltung zu üben.

Das überlieferte Völkerrecht erlaubt die Kriegführung. Das Völkerrecht prüft
auch nicht, ob die Kriegsführung auf gerechter Veranlassung beruht. Der Staat,
welcher seine Existenz auf des Schwertes Spitze und Schneide setzt, übt recht¬
mäßige Gewalt, wie er sich gleichzeitig dem rechtmäßigen Entschluß aller anderen


Belgiens Neutralität

Das find Sophismen, nach Art des Acervus-Beweises, wonach es keine
Sandhaufen gibt, weil man nicht sagen kann, mit dem wievielten Sandkorn
hingestreuter Sand zum Haufen wird. Natürlich sind die rechtlichen Begriffe
Not. Notwehr. Notstand dehnbar; sie sind darauf zugeschnitten, der Viel¬
gestaltigkeit des Lebens, der Würdigung jedes einzelnen Falles gerens! zu
werden. Auch im Privat- und Strafrecht gibt der Gesetzgeber diesen Begriffen
in klarer Absicht einen weiten Spielraum, und wer in Notstand oder Notwehr
handelt, läuft Gefahr, daß er nachher durch den Richter in: Stich gelassen
wird.

Daß der Notbegriff gerade im Völkerrecht oder doch im Gebiet des
Neutralitätsrechts keine Stätte habe, ist vereinzelt gesagt worden, ist aber nicht
haltbar. Es wäre höchst unvernünftig, ungerecht und undurchführbar, wenn
souveränen Staaten ein Recht versagt sein sollte, das in allen Rechtsordnungen
der Welt von jeher als unantastbares Menschenrecht gegolten hat: das Recht
im Falle echter Not sich hinwegzusetzen über die normalen Schranken sonst
geltender Rechtsregeln, das Recht, den Wert seiner lebendigen Existenz
einzusetzen gegen den Wert von Sachgütern, das Recht unersetzlichen Gütern
die ersttzbaren Güter anderer zu opfern.

Wenn es wahr ist einerseits, daß der Durchmarsch durch Belgiens Gebiet
für uns eine militärische Notwendigkeit, also eine staatliche Lebensfrage war.
und wenn es anderseits wahr wäre, daß es Deutschlands Regierung trotzdem
völkerrechtlich schlechthin verwehrt war, in Belgien einzurücken, so muß man
sagen, daß dieses Völkerrecht ein ohnmächtiges Buchstabenrecht ohne Wahrheit
und ohne die Kraft wirklicher Geltung war, ein Recht von 'demselben Wert
wie der Schein des Shnlock. ein Stück Papier mit unsittlichen, mit unmög¬
lichen Inhalt: der Verpflichtung zur Selbstopferung, zum passiven
Selbstmord.

Wir wissen aber aus zahlreichen Zeugnissen alter und neuer Juristen,
auch englischer und amerikanischer Autoritäten, daß das Notrecht, das unbedingte
Recht der SelbsterlMung stets als unentziehbares. unverzichtbares Daseinsrecht
der standen gegolten hat. Statt aller nenne ich nur aus älterer Zeit Hugo
Grotius und Vattel. aus neuerer Zeit Lawrence, Hall, Twiß und Westlake.
Die theoretische Anzweiflung dieses Rechtes, welche neuerdings unternommen ist,
scheitert an der Natur der Sache, an der Wahrheit der Tatsachen.

Es ist nicht wahr, daß die Staaten jemals übereingekommen sind, auf
das Recht der Not zu verzichten. Niemals aufgehört hat deswegen das Recht
der Staaten, durch Notwehr und Notstandshandlung die Pflicht der Selbst¬
erhaltung zu üben.

Das überlieferte Völkerrecht erlaubt die Kriegführung. Das Völkerrecht prüft
auch nicht, ob die Kriegsführung auf gerechter Veranlassung beruht. Der Staat,
welcher seine Existenz auf des Schwertes Spitze und Schneide setzt, übt recht¬
mäßige Gewalt, wie er sich gleichzeitig dem rechtmäßigen Entschluß aller anderen


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[0343] Belgiens Neutralität Das find Sophismen, nach Art des Acervus-Beweises, wonach es keine Sandhaufen gibt, weil man nicht sagen kann, mit dem wievielten Sandkorn hingestreuter Sand zum Haufen wird. Natürlich sind die rechtlichen Begriffe Not. Notwehr. Notstand dehnbar; sie sind darauf zugeschnitten, der Viel¬ gestaltigkeit des Lebens, der Würdigung jedes einzelnen Falles gerens! zu werden. Auch im Privat- und Strafrecht gibt der Gesetzgeber diesen Begriffen in klarer Absicht einen weiten Spielraum, und wer in Notstand oder Notwehr handelt, läuft Gefahr, daß er nachher durch den Richter in: Stich gelassen wird. Daß der Notbegriff gerade im Völkerrecht oder doch im Gebiet des Neutralitätsrechts keine Stätte habe, ist vereinzelt gesagt worden, ist aber nicht haltbar. Es wäre höchst unvernünftig, ungerecht und undurchführbar, wenn souveränen Staaten ein Recht versagt sein sollte, das in allen Rechtsordnungen der Welt von jeher als unantastbares Menschenrecht gegolten hat: das Recht im Falle echter Not sich hinwegzusetzen über die normalen Schranken sonst geltender Rechtsregeln, das Recht, den Wert seiner lebendigen Existenz einzusetzen gegen den Wert von Sachgütern, das Recht unersetzlichen Gütern die ersttzbaren Güter anderer zu opfern. Wenn es wahr ist einerseits, daß der Durchmarsch durch Belgiens Gebiet für uns eine militärische Notwendigkeit, also eine staatliche Lebensfrage war. und wenn es anderseits wahr wäre, daß es Deutschlands Regierung trotzdem völkerrechtlich schlechthin verwehrt war, in Belgien einzurücken, so muß man sagen, daß dieses Völkerrecht ein ohnmächtiges Buchstabenrecht ohne Wahrheit und ohne die Kraft wirklicher Geltung war, ein Recht von 'demselben Wert wie der Schein des Shnlock. ein Stück Papier mit unsittlichen, mit unmög¬ lichen Inhalt: der Verpflichtung zur Selbstopferung, zum passiven Selbstmord. Wir wissen aber aus zahlreichen Zeugnissen alter und neuer Juristen, auch englischer und amerikanischer Autoritäten, daß das Notrecht, das unbedingte Recht der SelbsterlMung stets als unentziehbares. unverzichtbares Daseinsrecht der standen gegolten hat. Statt aller nenne ich nur aus älterer Zeit Hugo Grotius und Vattel. aus neuerer Zeit Lawrence, Hall, Twiß und Westlake. Die theoretische Anzweiflung dieses Rechtes, welche neuerdings unternommen ist, scheitert an der Natur der Sache, an der Wahrheit der Tatsachen. Es ist nicht wahr, daß die Staaten jemals übereingekommen sind, auf das Recht der Not zu verzichten. Niemals aufgehört hat deswegen das Recht der Staaten, durch Notwehr und Notstandshandlung die Pflicht der Selbst¬ erhaltung zu üben. Das überlieferte Völkerrecht erlaubt die Kriegführung. Das Völkerrecht prüft auch nicht, ob die Kriegsführung auf gerechter Veranlassung beruht. Der Staat, welcher seine Existenz auf des Schwertes Spitze und Schneide setzt, übt recht¬ mäßige Gewalt, wie er sich gleichzeitig dem rechtmäßigen Entschluß aller anderen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_331409/343>, abgerufen am 25.08.2024.