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Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Erstes Vierteljahr.

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Belgiens Neutralität

Abmachungen von 1818 und 1831 der rein politische Charakter, die völker¬
rechtliche Wert- und -Inhaltlosigkeit des Neutralisiern gsvorgang.es des letzten
Zweifels entkleidet. Die Widerruflichkeit und Wandelbarkeit, das preLunum
(privatrechtlich gesprochen) als das Wesen der belgischen Neutralisierung wird
durch die heimlichen Festungsabkommen bis zur Nacktheit enthüllt, so sehr man
auch das Bemühen wahrnimmt, das völkerrechtliche Mäntelchen so zu hängen,
daß die politische Blöße nicht allzu anstößig hervortrete.

Die Einverleibung des Kongostaates in Belgien, die seit 1904 vollzogene
Teilung der Großmächte in zwei neugruppierte gewaltige politische Lager, sind
Momente, denen man vielfach entscheidende Bedeutung und die Wirkung bei¬
gemessen hat, den Vertrag von 1839 aufzuheben. Ein größeres Gewicht liegt
aber in der Tatsache der von allem Anfang an bestandenen Inhaltlosigkeit
und Unaufrichtigkeit des Neutralisierungsaktes.




Eine ganz andere Frage ist die des Haager Neutralitätsabkommens von
1907. Die in Betracht kommenden Bestimmungen lauten in der' Über¬
setzung:

Art. 1. Das Gebiet der neutralen Mächte ist unverletzlich. Art. 2. Es
ist den Kriegführenden untersagt, Truppen durch das Gebiet einer neutralen
Macht hindurchzufühlen. Art. 5. Eine neutrale Macht darf auf ihrem Gebiet
keine der bezeichneten Handlungen dulden. Art. 10. Die Tatsache, daß eine
neutrale Macht die Verletzung ihrer Neutralität selbst zurückweist, kann nicht
als eine feindliche Handlung angesehen werden.

Es gibt zwei Gesichtspunkte, aus denen das Recht Deutschlands, trotz
dieser Bestimmungen den Einmarsch in Belgien zu bewirken, gerechtfertigt
werden könnte.

Der eine beruht auf der in dem Haager Abkommen enthaltenen Klausel,
daß das Abkommen nur gilt in einem Kriege, in der alle Kriegführenden
Vertragsmächte sind. Aus tatsächlichen und rechtlichen Gründen, auf die hier
nicht eingegangen werden soll, erscheint dieser Gesichtspunkt nicht zutreffend.
Erwähnt sei nur. daß Serbien, das dem Neutralitätsabkommen nicht beigetreten
ist, erst am 6. August die diplomatischen Beziehungen mit dem Deutschen Reich
abgebrochen hat.

Der zweite und sieghaft durchschlagene Gesichtspunkt ist der vom Reichs¬
kanzler am 4. August 1914 als heiliger Hochschild des guten deutschen Ge¬
wissens emporgshaltene Rechtstitel: Not kennt kein Gebot!

Unsere Feinde haben unseren Notruf mit Hohn beantwortet. Der Oxforder
Kronjurist Sir Erle Richards hat in einem Pamphlet: "Haben wir noch ein Völker¬
recht?" den Humor seiner Landsleute mit der Behauptung angerufen, auf Not
könne auch eine Familie sich beziehen, welcher ihr Haus und ihr Gärtchen zu¬
nächst völlig genügten, deren wachsende Kinderschaar aber nötig macht, dem
Nachbarn seinen Garten und fein Haus wegzunehmen.


Belgiens Neutralität

Abmachungen von 1818 und 1831 der rein politische Charakter, die völker¬
rechtliche Wert- und -Inhaltlosigkeit des Neutralisiern gsvorgang.es des letzten
Zweifels entkleidet. Die Widerruflichkeit und Wandelbarkeit, das preLunum
(privatrechtlich gesprochen) als das Wesen der belgischen Neutralisierung wird
durch die heimlichen Festungsabkommen bis zur Nacktheit enthüllt, so sehr man
auch das Bemühen wahrnimmt, das völkerrechtliche Mäntelchen so zu hängen,
daß die politische Blöße nicht allzu anstößig hervortrete.

Die Einverleibung des Kongostaates in Belgien, die seit 1904 vollzogene
Teilung der Großmächte in zwei neugruppierte gewaltige politische Lager, sind
Momente, denen man vielfach entscheidende Bedeutung und die Wirkung bei¬
gemessen hat, den Vertrag von 1839 aufzuheben. Ein größeres Gewicht liegt
aber in der Tatsache der von allem Anfang an bestandenen Inhaltlosigkeit
und Unaufrichtigkeit des Neutralisierungsaktes.




Eine ganz andere Frage ist die des Haager Neutralitätsabkommens von
1907. Die in Betracht kommenden Bestimmungen lauten in der' Über¬
setzung:

Art. 1. Das Gebiet der neutralen Mächte ist unverletzlich. Art. 2. Es
ist den Kriegführenden untersagt, Truppen durch das Gebiet einer neutralen
Macht hindurchzufühlen. Art. 5. Eine neutrale Macht darf auf ihrem Gebiet
keine der bezeichneten Handlungen dulden. Art. 10. Die Tatsache, daß eine
neutrale Macht die Verletzung ihrer Neutralität selbst zurückweist, kann nicht
als eine feindliche Handlung angesehen werden.

Es gibt zwei Gesichtspunkte, aus denen das Recht Deutschlands, trotz
dieser Bestimmungen den Einmarsch in Belgien zu bewirken, gerechtfertigt
werden könnte.

Der eine beruht auf der in dem Haager Abkommen enthaltenen Klausel,
daß das Abkommen nur gilt in einem Kriege, in der alle Kriegführenden
Vertragsmächte sind. Aus tatsächlichen und rechtlichen Gründen, auf die hier
nicht eingegangen werden soll, erscheint dieser Gesichtspunkt nicht zutreffend.
Erwähnt sei nur. daß Serbien, das dem Neutralitätsabkommen nicht beigetreten
ist, erst am 6. August die diplomatischen Beziehungen mit dem Deutschen Reich
abgebrochen hat.

Der zweite und sieghaft durchschlagene Gesichtspunkt ist der vom Reichs¬
kanzler am 4. August 1914 als heiliger Hochschild des guten deutschen Ge¬
wissens emporgshaltene Rechtstitel: Not kennt kein Gebot!

Unsere Feinde haben unseren Notruf mit Hohn beantwortet. Der Oxforder
Kronjurist Sir Erle Richards hat in einem Pamphlet: „Haben wir noch ein Völker¬
recht?" den Humor seiner Landsleute mit der Behauptung angerufen, auf Not
könne auch eine Familie sich beziehen, welcher ihr Haus und ihr Gärtchen zu¬
nächst völlig genügten, deren wachsende Kinderschaar aber nötig macht, dem
Nachbarn seinen Garten und fein Haus wegzunehmen.


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[0342] Belgiens Neutralität Abmachungen von 1818 und 1831 der rein politische Charakter, die völker¬ rechtliche Wert- und -Inhaltlosigkeit des Neutralisiern gsvorgang.es des letzten Zweifels entkleidet. Die Widerruflichkeit und Wandelbarkeit, das preLunum (privatrechtlich gesprochen) als das Wesen der belgischen Neutralisierung wird durch die heimlichen Festungsabkommen bis zur Nacktheit enthüllt, so sehr man auch das Bemühen wahrnimmt, das völkerrechtliche Mäntelchen so zu hängen, daß die politische Blöße nicht allzu anstößig hervortrete. Die Einverleibung des Kongostaates in Belgien, die seit 1904 vollzogene Teilung der Großmächte in zwei neugruppierte gewaltige politische Lager, sind Momente, denen man vielfach entscheidende Bedeutung und die Wirkung bei¬ gemessen hat, den Vertrag von 1839 aufzuheben. Ein größeres Gewicht liegt aber in der Tatsache der von allem Anfang an bestandenen Inhaltlosigkeit und Unaufrichtigkeit des Neutralisierungsaktes. Eine ganz andere Frage ist die des Haager Neutralitätsabkommens von 1907. Die in Betracht kommenden Bestimmungen lauten in der' Über¬ setzung: Art. 1. Das Gebiet der neutralen Mächte ist unverletzlich. Art. 2. Es ist den Kriegführenden untersagt, Truppen durch das Gebiet einer neutralen Macht hindurchzufühlen. Art. 5. Eine neutrale Macht darf auf ihrem Gebiet keine der bezeichneten Handlungen dulden. Art. 10. Die Tatsache, daß eine neutrale Macht die Verletzung ihrer Neutralität selbst zurückweist, kann nicht als eine feindliche Handlung angesehen werden. Es gibt zwei Gesichtspunkte, aus denen das Recht Deutschlands, trotz dieser Bestimmungen den Einmarsch in Belgien zu bewirken, gerechtfertigt werden könnte. Der eine beruht auf der in dem Haager Abkommen enthaltenen Klausel, daß das Abkommen nur gilt in einem Kriege, in der alle Kriegführenden Vertragsmächte sind. Aus tatsächlichen und rechtlichen Gründen, auf die hier nicht eingegangen werden soll, erscheint dieser Gesichtspunkt nicht zutreffend. Erwähnt sei nur. daß Serbien, das dem Neutralitätsabkommen nicht beigetreten ist, erst am 6. August die diplomatischen Beziehungen mit dem Deutschen Reich abgebrochen hat. Der zweite und sieghaft durchschlagene Gesichtspunkt ist der vom Reichs¬ kanzler am 4. August 1914 als heiliger Hochschild des guten deutschen Ge¬ wissens emporgshaltene Rechtstitel: Not kennt kein Gebot! Unsere Feinde haben unseren Notruf mit Hohn beantwortet. Der Oxforder Kronjurist Sir Erle Richards hat in einem Pamphlet: „Haben wir noch ein Völker¬ recht?" den Humor seiner Landsleute mit der Behauptung angerufen, auf Not könne auch eine Familie sich beziehen, welcher ihr Haus und ihr Gärtchen zu¬ nächst völlig genügten, deren wachsende Kinderschaar aber nötig macht, dem Nachbarn seinen Garten und fein Haus wegzunehmen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_331409/342>, abgerufen am 25.08.2024.