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Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Erstes Vierteljahr.

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Belgiens Neutralität

und taten. Sie wollten die Möglichkeit eines Einmarsches in Belgien offen
halten und ihn als verträglich mit der Neutralität Belgiens behandeln.

In dem unter den Augen der Großmächte entstandenen Artikel 121 der
belgischen Verfassungsurkunde hat Belgien dementsprechend ausdrücklich das Recht
in Anspruch genommen, durch Gesetz den Einmarsch fremder Truppen zu gestatten.
Es heißt dort: "Ausländische Truppenteile dürfen belgisches Gebiet nur auf
Grund eines Gesetzes besetzen oder passieren (occuper on traverser)."

Zwei unter dem Namen der Festungsverträge neuerdings vielbesprochene
Geheimverträge Englands, Rußlands, Österreichs, Preußens, der eine am
15. November 1818 in Aachen, der andere am 14. Dezember 1831 in London
ohne Frankreichs Vorwissen abgeschlossen, werfen auf dies alles das grellste Licht.

Der belgische Staatsmann Goblet d'Alviella hat diese Verträge 1863 literarisch
eingehend behandelt. Im Jahre 1889 hat der belgische Major Girard auf sie
hingewiesen. 1902 sind sie von Descamps gedruckt und 1912 von Girard be¬
tont worden. Daß auch in Treitschkes Deutscher Geschichte ausführlich über das
Aachener Militärprotokoll berichtet und dessen politische Bedeutung hervorgehoben
ist, scheint in weiteren Kreisen unbekannt geblieben zu sein.

Die vier Vertragschließenden waren gegen Frankreich verbunden durch die
Quadrupelverträge vom 1. März 1814 und vom 21. November 1815. Diese
Verträge wurden von ihnen durch einen am 15. November 1818 geschlossenen
öffentlichen Vertrag aufrecht erhalten. Diesem Vertrage nun wurde eine Geheim¬
klausel beigefügt, welche bestimmte, daß "in LÄ8U koeäen8" Belgien von England
und Preußen in der Weise besetzt werden solle, daß im Einvernehmen
des Königs von Holland England Ostende, Nieuport. Dpern und die Schelde-
befestigungen. Preußen aber Huy, Namur, Dinant, Charleroi, Mariembourg
und Philippeville besetzen solle. Am 14. Dezember 1831 aber wurde;
wiederum in einem Geheimvertrage, vereinbart, daß der König der Belgier hin-
sichtlich des Militärprotokolls vom 15. November 1818 an die Stelle des Königs
von Holland trete.

Angesehene Juristen und Historiker haben aus den Geheimabkommen von
1318 und von 1831 ein Besetzungsrecht, eine "Servitut" hergeleitet, auf Grund
deren Deutschlands Einmarsch im August 1914 als Ausübung partieller Terri¬
torialhoheit gerechtfertigt gewesen wäre. Ich kann dieser Auffassung nicht bei¬
pflichten. Es sei nur auf zweierlei hingewiesen, erstens, daß es in dem mili¬
tärischen Protokoll von 1318 heißt: man ist übereingekommen, dem König von
Holland zu empfehlen, die Festungen usw. durch die englischen und preußischen
Truppen besetzen zu lassen, zweitens, daß in dem Abkommen von 1331 die
Nachfolgerschaft des Belgierkönigs nach dem König von Holland festgestellt
wurde mit dem Zusatz: "Vorbehaltlich der Verpflichtungen, welche dem König der
Belgier und den vier anderen Höfen die dauernde Neutralität Belgiens auferlegt."

Ein Besetzungsrecht, eine "Servitut", kann ich, wie gesagt, unter diesen Um¬
ständen nicht annehmen. Dagegen wird durch die heimlichen Quadrupel-


Belgiens Neutralität

und taten. Sie wollten die Möglichkeit eines Einmarsches in Belgien offen
halten und ihn als verträglich mit der Neutralität Belgiens behandeln.

In dem unter den Augen der Großmächte entstandenen Artikel 121 der
belgischen Verfassungsurkunde hat Belgien dementsprechend ausdrücklich das Recht
in Anspruch genommen, durch Gesetz den Einmarsch fremder Truppen zu gestatten.
Es heißt dort: „Ausländische Truppenteile dürfen belgisches Gebiet nur auf
Grund eines Gesetzes besetzen oder passieren (occuper on traverser)."

Zwei unter dem Namen der Festungsverträge neuerdings vielbesprochene
Geheimverträge Englands, Rußlands, Österreichs, Preußens, der eine am
15. November 1818 in Aachen, der andere am 14. Dezember 1831 in London
ohne Frankreichs Vorwissen abgeschlossen, werfen auf dies alles das grellste Licht.

Der belgische Staatsmann Goblet d'Alviella hat diese Verträge 1863 literarisch
eingehend behandelt. Im Jahre 1889 hat der belgische Major Girard auf sie
hingewiesen. 1902 sind sie von Descamps gedruckt und 1912 von Girard be¬
tont worden. Daß auch in Treitschkes Deutscher Geschichte ausführlich über das
Aachener Militärprotokoll berichtet und dessen politische Bedeutung hervorgehoben
ist, scheint in weiteren Kreisen unbekannt geblieben zu sein.

Die vier Vertragschließenden waren gegen Frankreich verbunden durch die
Quadrupelverträge vom 1. März 1814 und vom 21. November 1815. Diese
Verträge wurden von ihnen durch einen am 15. November 1818 geschlossenen
öffentlichen Vertrag aufrecht erhalten. Diesem Vertrage nun wurde eine Geheim¬
klausel beigefügt, welche bestimmte, daß „in LÄ8U koeäen8" Belgien von England
und Preußen in der Weise besetzt werden solle, daß im Einvernehmen
des Königs von Holland England Ostende, Nieuport. Dpern und die Schelde-
befestigungen. Preußen aber Huy, Namur, Dinant, Charleroi, Mariembourg
und Philippeville besetzen solle. Am 14. Dezember 1831 aber wurde;
wiederum in einem Geheimvertrage, vereinbart, daß der König der Belgier hin-
sichtlich des Militärprotokolls vom 15. November 1818 an die Stelle des Königs
von Holland trete.

Angesehene Juristen und Historiker haben aus den Geheimabkommen von
1318 und von 1831 ein Besetzungsrecht, eine „Servitut" hergeleitet, auf Grund
deren Deutschlands Einmarsch im August 1914 als Ausübung partieller Terri¬
torialhoheit gerechtfertigt gewesen wäre. Ich kann dieser Auffassung nicht bei¬
pflichten. Es sei nur auf zweierlei hingewiesen, erstens, daß es in dem mili¬
tärischen Protokoll von 1318 heißt: man ist übereingekommen, dem König von
Holland zu empfehlen, die Festungen usw. durch die englischen und preußischen
Truppen besetzen zu lassen, zweitens, daß in dem Abkommen von 1331 die
Nachfolgerschaft des Belgierkönigs nach dem König von Holland festgestellt
wurde mit dem Zusatz: „Vorbehaltlich der Verpflichtungen, welche dem König der
Belgier und den vier anderen Höfen die dauernde Neutralität Belgiens auferlegt."

Ein Besetzungsrecht, eine „Servitut", kann ich, wie gesagt, unter diesen Um¬
ständen nicht annehmen. Dagegen wird durch die heimlichen Quadrupel-


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[0341] Belgiens Neutralität und taten. Sie wollten die Möglichkeit eines Einmarsches in Belgien offen halten und ihn als verträglich mit der Neutralität Belgiens behandeln. In dem unter den Augen der Großmächte entstandenen Artikel 121 der belgischen Verfassungsurkunde hat Belgien dementsprechend ausdrücklich das Recht in Anspruch genommen, durch Gesetz den Einmarsch fremder Truppen zu gestatten. Es heißt dort: „Ausländische Truppenteile dürfen belgisches Gebiet nur auf Grund eines Gesetzes besetzen oder passieren (occuper on traverser)." Zwei unter dem Namen der Festungsverträge neuerdings vielbesprochene Geheimverträge Englands, Rußlands, Österreichs, Preußens, der eine am 15. November 1818 in Aachen, der andere am 14. Dezember 1831 in London ohne Frankreichs Vorwissen abgeschlossen, werfen auf dies alles das grellste Licht. Der belgische Staatsmann Goblet d'Alviella hat diese Verträge 1863 literarisch eingehend behandelt. Im Jahre 1889 hat der belgische Major Girard auf sie hingewiesen. 1902 sind sie von Descamps gedruckt und 1912 von Girard be¬ tont worden. Daß auch in Treitschkes Deutscher Geschichte ausführlich über das Aachener Militärprotokoll berichtet und dessen politische Bedeutung hervorgehoben ist, scheint in weiteren Kreisen unbekannt geblieben zu sein. Die vier Vertragschließenden waren gegen Frankreich verbunden durch die Quadrupelverträge vom 1. März 1814 und vom 21. November 1815. Diese Verträge wurden von ihnen durch einen am 15. November 1818 geschlossenen öffentlichen Vertrag aufrecht erhalten. Diesem Vertrage nun wurde eine Geheim¬ klausel beigefügt, welche bestimmte, daß „in LÄ8U koeäen8" Belgien von England und Preußen in der Weise besetzt werden solle, daß im Einvernehmen des Königs von Holland England Ostende, Nieuport. Dpern und die Schelde- befestigungen. Preußen aber Huy, Namur, Dinant, Charleroi, Mariembourg und Philippeville besetzen solle. Am 14. Dezember 1831 aber wurde; wiederum in einem Geheimvertrage, vereinbart, daß der König der Belgier hin- sichtlich des Militärprotokolls vom 15. November 1818 an die Stelle des Königs von Holland trete. Angesehene Juristen und Historiker haben aus den Geheimabkommen von 1318 und von 1831 ein Besetzungsrecht, eine „Servitut" hergeleitet, auf Grund deren Deutschlands Einmarsch im August 1914 als Ausübung partieller Terri¬ torialhoheit gerechtfertigt gewesen wäre. Ich kann dieser Auffassung nicht bei¬ pflichten. Es sei nur auf zweierlei hingewiesen, erstens, daß es in dem mili¬ tärischen Protokoll von 1318 heißt: man ist übereingekommen, dem König von Holland zu empfehlen, die Festungen usw. durch die englischen und preußischen Truppen besetzen zu lassen, zweitens, daß in dem Abkommen von 1331 die Nachfolgerschaft des Belgierkönigs nach dem König von Holland festgestellt wurde mit dem Zusatz: „Vorbehaltlich der Verpflichtungen, welche dem König der Belgier und den vier anderen Höfen die dauernde Neutralität Belgiens auferlegt." Ein Besetzungsrecht, eine „Servitut", kann ich, wie gesagt, unter diesen Um¬ ständen nicht annehmen. Dagegen wird durch die heimlichen Quadrupel-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_331409/341>, abgerufen am 25.08.2024.