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Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Erstes Vierteljahr.

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Belgiens Neutralität

kein Wort von der Garantie gesagt. Natürlich nicht! Denn diese Artikel
bildeten einen lediglich zwischen Belgien und Holland geschlossenen Vertrag.
Anstatt daß nun aber die Großmächte in dem von ihnen mit Belgien ge¬
schlossenen Vertrage Neutralität, Integrität und Unverletzlichkeit des Gebiets
dem Staate Belgien garantierten, bediente man sich der ausweichenden Formel,
daß die vierundzwanzig belgisch-holländischen Artikel zum integrierender Be¬
standteil der beiden Großmachlverträge erklärt wurden mit dem Zusatz: "Yn'ils
se trouvsnt ain8l placös sous in Mrantie as Isurs -- 6ne8 HlajeVtös.^
Durch diese Klausel war dem Inhalt der vierundzwanzig Artikel sachlich gor
nichts hinzugefügt. Die Großmächte nehmen damit keine andern Pflichten auf
sich als Holland, dem niemand jemals eine Garantiepflicht angesonnen hat
(auch nicht das Protokoll vom 20. Januar 1831). Vor allem ist in der
Talleyrandschen Fassung völlig verschwunden die Unverletzlichkeit des Gebietes
und damit derjenige Gegenstand, der, wenn man hätte Ernst machen wollen,
durchaus den Inhalt der Garantiepflicht bilden mußte. ,

Der Begriff Neutralität allein sagt gar nichts. Welche Pflichten, welche
Rechte Belgien, welche Obliegenheiten, welche Befugnisse die Großmächte und
Holland haben sollten, sagt dieser Begriff nicht. In voller Avsichtlichkeit, in
dem klaren Bewußtsein des rechtlich inhaltlosen, lediglich politischen Provisoriums,
wurde eine undeutliche, irreführende und nichtssagende Formel angewendet.
, Das spätere Verhalten Frankreichs und das Verhalten Englands ist in
vollkommen konsequenter Durchführung dieser politischen Behandlung einer
politischen Frage sich gleich geblieben. Seit 1839 ist kein Jahrzehnt ver¬
gangen, ohne daß sowohl von französischer als von englischer Seite der Auf¬
fassung Ausdruck gegeben ist. der Vertrag von 1839 verpflichte die Gro߬
mächte zu gar nichts, geschweige zu dem tätigen Schutz der belgischen Neu¬
tralität.

Aus der Zahl dieser Äußerungen seien nur einzelne herausgegriffen, die
in der Gegenwart besonderes Interesse verdienen:

Lord Palmerston erklärte am 8. Juni 1853:

"Die Weltgeschichte zeigt, daß wenn sich ein Streit erhebt und eine krieg¬
führende Nation es für nützlich hält, ihre Armee durch ein neutrales Gebiet
hindurchmarschieren zu lassen, Neutralitätserklärungen nicht allzu ängstlich be¬
achtet zu werden pflegen." Lord Stanley erklärte 1866: "Die kollektive
Garantie gibt England gegen einen Verletzer der Neutralität ein formelles
Recht zu kriegerischem Einschreiten; von einer juristischen Verpflichtung dazu
aber könne keine Rede sein." Gladstone lehnte in einer Unterhausrede vom
10. August 1870 die Verpflichtung zum Schutze einer etwa verletzten belgischen
Neutralität ab und erklärte dies nnter Berufung auf Lord Aberdeen und Lord
Palmerston als eine praktische Auffassung der Garantie. "Ich kann mich nicht
der Doktrin anschließen, daß die einfache Tatsache des Bestehens einer Garantie
bindend ist, ohne Rücksicht auf die besondere Lage in dem Zeitpunkt, wo sich


Belgiens Neutralität

kein Wort von der Garantie gesagt. Natürlich nicht! Denn diese Artikel
bildeten einen lediglich zwischen Belgien und Holland geschlossenen Vertrag.
Anstatt daß nun aber die Großmächte in dem von ihnen mit Belgien ge¬
schlossenen Vertrage Neutralität, Integrität und Unverletzlichkeit des Gebiets
dem Staate Belgien garantierten, bediente man sich der ausweichenden Formel,
daß die vierundzwanzig belgisch-holländischen Artikel zum integrierender Be¬
standteil der beiden Großmachlverträge erklärt wurden mit dem Zusatz: „Yn'ils
se trouvsnt ain8l placös sous in Mrantie as Isurs — 6ne8 HlajeVtös.^
Durch diese Klausel war dem Inhalt der vierundzwanzig Artikel sachlich gor
nichts hinzugefügt. Die Großmächte nehmen damit keine andern Pflichten auf
sich als Holland, dem niemand jemals eine Garantiepflicht angesonnen hat
(auch nicht das Protokoll vom 20. Januar 1831). Vor allem ist in der
Talleyrandschen Fassung völlig verschwunden die Unverletzlichkeit des Gebietes
und damit derjenige Gegenstand, der, wenn man hätte Ernst machen wollen,
durchaus den Inhalt der Garantiepflicht bilden mußte. ,

Der Begriff Neutralität allein sagt gar nichts. Welche Pflichten, welche
Rechte Belgien, welche Obliegenheiten, welche Befugnisse die Großmächte und
Holland haben sollten, sagt dieser Begriff nicht. In voller Avsichtlichkeit, in
dem klaren Bewußtsein des rechtlich inhaltlosen, lediglich politischen Provisoriums,
wurde eine undeutliche, irreführende und nichtssagende Formel angewendet.
, Das spätere Verhalten Frankreichs und das Verhalten Englands ist in
vollkommen konsequenter Durchführung dieser politischen Behandlung einer
politischen Frage sich gleich geblieben. Seit 1839 ist kein Jahrzehnt ver¬
gangen, ohne daß sowohl von französischer als von englischer Seite der Auf¬
fassung Ausdruck gegeben ist. der Vertrag von 1839 verpflichte die Gro߬
mächte zu gar nichts, geschweige zu dem tätigen Schutz der belgischen Neu¬
tralität.

Aus der Zahl dieser Äußerungen seien nur einzelne herausgegriffen, die
in der Gegenwart besonderes Interesse verdienen:

Lord Palmerston erklärte am 8. Juni 1853:

„Die Weltgeschichte zeigt, daß wenn sich ein Streit erhebt und eine krieg¬
führende Nation es für nützlich hält, ihre Armee durch ein neutrales Gebiet
hindurchmarschieren zu lassen, Neutralitätserklärungen nicht allzu ängstlich be¬
achtet zu werden pflegen." Lord Stanley erklärte 1866: „Die kollektive
Garantie gibt England gegen einen Verletzer der Neutralität ein formelles
Recht zu kriegerischem Einschreiten; von einer juristischen Verpflichtung dazu
aber könne keine Rede sein." Gladstone lehnte in einer Unterhausrede vom
10. August 1870 die Verpflichtung zum Schutze einer etwa verletzten belgischen
Neutralität ab und erklärte dies nnter Berufung auf Lord Aberdeen und Lord
Palmerston als eine praktische Auffassung der Garantie. „Ich kann mich nicht
der Doktrin anschließen, daß die einfache Tatsache des Bestehens einer Garantie
bindend ist, ohne Rücksicht auf die besondere Lage in dem Zeitpunkt, wo sich


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[0339] Belgiens Neutralität kein Wort von der Garantie gesagt. Natürlich nicht! Denn diese Artikel bildeten einen lediglich zwischen Belgien und Holland geschlossenen Vertrag. Anstatt daß nun aber die Großmächte in dem von ihnen mit Belgien ge¬ schlossenen Vertrage Neutralität, Integrität und Unverletzlichkeit des Gebiets dem Staate Belgien garantierten, bediente man sich der ausweichenden Formel, daß die vierundzwanzig belgisch-holländischen Artikel zum integrierender Be¬ standteil der beiden Großmachlverträge erklärt wurden mit dem Zusatz: „Yn'ils se trouvsnt ain8l placös sous in Mrantie as Isurs — 6ne8 HlajeVtös.^ Durch diese Klausel war dem Inhalt der vierundzwanzig Artikel sachlich gor nichts hinzugefügt. Die Großmächte nehmen damit keine andern Pflichten auf sich als Holland, dem niemand jemals eine Garantiepflicht angesonnen hat (auch nicht das Protokoll vom 20. Januar 1831). Vor allem ist in der Talleyrandschen Fassung völlig verschwunden die Unverletzlichkeit des Gebietes und damit derjenige Gegenstand, der, wenn man hätte Ernst machen wollen, durchaus den Inhalt der Garantiepflicht bilden mußte. , Der Begriff Neutralität allein sagt gar nichts. Welche Pflichten, welche Rechte Belgien, welche Obliegenheiten, welche Befugnisse die Großmächte und Holland haben sollten, sagt dieser Begriff nicht. In voller Avsichtlichkeit, in dem klaren Bewußtsein des rechtlich inhaltlosen, lediglich politischen Provisoriums, wurde eine undeutliche, irreführende und nichtssagende Formel angewendet. , Das spätere Verhalten Frankreichs und das Verhalten Englands ist in vollkommen konsequenter Durchführung dieser politischen Behandlung einer politischen Frage sich gleich geblieben. Seit 1839 ist kein Jahrzehnt ver¬ gangen, ohne daß sowohl von französischer als von englischer Seite der Auf¬ fassung Ausdruck gegeben ist. der Vertrag von 1839 verpflichte die Gro߬ mächte zu gar nichts, geschweige zu dem tätigen Schutz der belgischen Neu¬ tralität. Aus der Zahl dieser Äußerungen seien nur einzelne herausgegriffen, die in der Gegenwart besonderes Interesse verdienen: Lord Palmerston erklärte am 8. Juni 1853: „Die Weltgeschichte zeigt, daß wenn sich ein Streit erhebt und eine krieg¬ führende Nation es für nützlich hält, ihre Armee durch ein neutrales Gebiet hindurchmarschieren zu lassen, Neutralitätserklärungen nicht allzu ängstlich be¬ achtet zu werden pflegen." Lord Stanley erklärte 1866: „Die kollektive Garantie gibt England gegen einen Verletzer der Neutralität ein formelles Recht zu kriegerischem Einschreiten; von einer juristischen Verpflichtung dazu aber könne keine Rede sein." Gladstone lehnte in einer Unterhausrede vom 10. August 1870 die Verpflichtung zum Schutze einer etwa verletzten belgischen Neutralität ab und erklärte dies nnter Berufung auf Lord Aberdeen und Lord Palmerston als eine praktische Auffassung der Garantie. „Ich kann mich nicht der Doktrin anschließen, daß die einfache Tatsache des Bestehens einer Garantie bindend ist, ohne Rücksicht auf die besondere Lage in dem Zeitpunkt, wo sich

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_331409/339>, abgerufen am 25.08.2024.