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Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Erstes Vierteljahr.

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Belgiens Neutralität

brachen, indem eine Formulierung gewählt wurde, welche vollen Ernst mit der
Neutralisierung machte. Das Protokoll über den Bülowschen. am 20 Januar 1831
von der Londoner Gesandtenvercinigung angenommenen Antrag sagte:

"Belgien wird einen dauernd neutralen Staat bilden. Die fünf Großmächte
garantieren ihm diese dauernde Neutralität, sowie die Unversehrtheit und In¬
tegrität seines Gebietes. -- In gerechter Gegenseitigkeit wird Belgien gehalten
sein, dieselbe Neutralität gegenüber allen andern Staaten zu beobachten und
deren innere wie äußere Ruhe nicht zu stören."

Wäre diese Fassung zum Vertrage erhoben worden, so wäre damit der
klare Ausdruck eines ehrlichen politischen Willens und eine echte völkerrechtliche
Sanktion dieses Willens gegeben gewesen. Niemand hätte die Aufrichtigkeit
der Neutralisierung Belgiens, die Unantastbarkeit seines Gebietes und die
Garantiepflicht der Mächte anzweifeln können.

Die Bülowsche Fassung ging im wesentlichen in den als Vertrag der achtzehn
Artikel bekannten Entwurf vom 26. Juni 1831 über, nicht aber in den von
diesem Entwurf stark abweichenden Vertrag selbst ("Vertrag der 24 Artikel"),
welcher zwischen den Großmächten und Belgien am 15. Oktober und 15. No¬
vember 1831 abgeschlossen wurde, und' der. durch den am 19. April 1839
erfolgten Beitritt Hollands, diejenige Stütze erhielt, auf welche fortan Belgiens
Neutralisierung gestellt blieb.

In der Fassung der achtzehn Artikel vom 26. Juni 1831 wurde Belgien
als ebenbürtiges völkerrechtliches Staatensubjekt behandelt und ist als solches mit
einem souveränen sichert) eilf- und Forderungsrecht gegenüber den fünf Gro߬
mächten ausgestattet worden. Durch die später beschlossene Fassung ist Belgien
in diejenige Rolle zurückgedrängt, welche ihm durch das politische Spiel Frank¬
reichs und Englands von Anfang an zugedacht war, nämlich lediglich ein
Objekt der Politik anderer Staaten zu sein, eine Sache, ein Freiland für die
Machtbestrebungen seiner westlichen und nördlichen Nachbarn. In dieser Herab¬
würdigung zum Objekt der Politik -- welche von den einsichtigsten Belgiern
stets in vollem Bewußtsein verstanden worden ist -- liegt der Grund für
Belgiens jetziges Unglück und zugleich der Schlüssel für die Erkenntnis der
weltgeschichtlichen Lügen, welche der Vertrag vom 19. April 1839 und seine
Verwertung als Kriegsvorwand durch England darstellt. Man muß die
Bülowsche und die Talleyrandsche Fassung -- der Kürze halber seien diese Aus¬
drücke gestattet -- scharf vergleichen, um den Sinn des Unterschiedes zu durch¬
schauen. Gegenüber der klären und starken Gestaltung der Garantiepflicht in
dem Bülowschen Antrag ist in der Talleyrandschen Redaktion die Garantie¬
pflicht der Großmächte auf eine Weise verflüchtigt, welche ein dialektisch¬
politisches Meisterstück genannt werden darf. Während nach Bülows Antrag
unmittelbar hinter der Neutralisierungsformel der prägnante Satz stand: "Die
fünf Mächte garantieren Belgien diese immerwährende Neutralität, sowie die
Integrität und Unverletzlichkeit seines Gebietes", war in den späteren Artikeln


Belgiens Neutralität

brachen, indem eine Formulierung gewählt wurde, welche vollen Ernst mit der
Neutralisierung machte. Das Protokoll über den Bülowschen. am 20 Januar 1831
von der Londoner Gesandtenvercinigung angenommenen Antrag sagte:

„Belgien wird einen dauernd neutralen Staat bilden. Die fünf Großmächte
garantieren ihm diese dauernde Neutralität, sowie die Unversehrtheit und In¬
tegrität seines Gebietes. — In gerechter Gegenseitigkeit wird Belgien gehalten
sein, dieselbe Neutralität gegenüber allen andern Staaten zu beobachten und
deren innere wie äußere Ruhe nicht zu stören."

Wäre diese Fassung zum Vertrage erhoben worden, so wäre damit der
klare Ausdruck eines ehrlichen politischen Willens und eine echte völkerrechtliche
Sanktion dieses Willens gegeben gewesen. Niemand hätte die Aufrichtigkeit
der Neutralisierung Belgiens, die Unantastbarkeit seines Gebietes und die
Garantiepflicht der Mächte anzweifeln können.

Die Bülowsche Fassung ging im wesentlichen in den als Vertrag der achtzehn
Artikel bekannten Entwurf vom 26. Juni 1831 über, nicht aber in den von
diesem Entwurf stark abweichenden Vertrag selbst („Vertrag der 24 Artikel"),
welcher zwischen den Großmächten und Belgien am 15. Oktober und 15. No¬
vember 1831 abgeschlossen wurde, und' der. durch den am 19. April 1839
erfolgten Beitritt Hollands, diejenige Stütze erhielt, auf welche fortan Belgiens
Neutralisierung gestellt blieb.

In der Fassung der achtzehn Artikel vom 26. Juni 1831 wurde Belgien
als ebenbürtiges völkerrechtliches Staatensubjekt behandelt und ist als solches mit
einem souveränen sichert) eilf- und Forderungsrecht gegenüber den fünf Gro߬
mächten ausgestattet worden. Durch die später beschlossene Fassung ist Belgien
in diejenige Rolle zurückgedrängt, welche ihm durch das politische Spiel Frank¬
reichs und Englands von Anfang an zugedacht war, nämlich lediglich ein
Objekt der Politik anderer Staaten zu sein, eine Sache, ein Freiland für die
Machtbestrebungen seiner westlichen und nördlichen Nachbarn. In dieser Herab¬
würdigung zum Objekt der Politik — welche von den einsichtigsten Belgiern
stets in vollem Bewußtsein verstanden worden ist — liegt der Grund für
Belgiens jetziges Unglück und zugleich der Schlüssel für die Erkenntnis der
weltgeschichtlichen Lügen, welche der Vertrag vom 19. April 1839 und seine
Verwertung als Kriegsvorwand durch England darstellt. Man muß die
Bülowsche und die Talleyrandsche Fassung — der Kürze halber seien diese Aus¬
drücke gestattet — scharf vergleichen, um den Sinn des Unterschiedes zu durch¬
schauen. Gegenüber der klären und starken Gestaltung der Garantiepflicht in
dem Bülowschen Antrag ist in der Talleyrandschen Redaktion die Garantie¬
pflicht der Großmächte auf eine Weise verflüchtigt, welche ein dialektisch¬
politisches Meisterstück genannt werden darf. Während nach Bülows Antrag
unmittelbar hinter der Neutralisierungsformel der prägnante Satz stand: „Die
fünf Mächte garantieren Belgien diese immerwährende Neutralität, sowie die
Integrität und Unverletzlichkeit seines Gebietes", war in den späteren Artikeln


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[0338] Belgiens Neutralität brachen, indem eine Formulierung gewählt wurde, welche vollen Ernst mit der Neutralisierung machte. Das Protokoll über den Bülowschen. am 20 Januar 1831 von der Londoner Gesandtenvercinigung angenommenen Antrag sagte: „Belgien wird einen dauernd neutralen Staat bilden. Die fünf Großmächte garantieren ihm diese dauernde Neutralität, sowie die Unversehrtheit und In¬ tegrität seines Gebietes. — In gerechter Gegenseitigkeit wird Belgien gehalten sein, dieselbe Neutralität gegenüber allen andern Staaten zu beobachten und deren innere wie äußere Ruhe nicht zu stören." Wäre diese Fassung zum Vertrage erhoben worden, so wäre damit der klare Ausdruck eines ehrlichen politischen Willens und eine echte völkerrechtliche Sanktion dieses Willens gegeben gewesen. Niemand hätte die Aufrichtigkeit der Neutralisierung Belgiens, die Unantastbarkeit seines Gebietes und die Garantiepflicht der Mächte anzweifeln können. Die Bülowsche Fassung ging im wesentlichen in den als Vertrag der achtzehn Artikel bekannten Entwurf vom 26. Juni 1831 über, nicht aber in den von diesem Entwurf stark abweichenden Vertrag selbst („Vertrag der 24 Artikel"), welcher zwischen den Großmächten und Belgien am 15. Oktober und 15. No¬ vember 1831 abgeschlossen wurde, und' der. durch den am 19. April 1839 erfolgten Beitritt Hollands, diejenige Stütze erhielt, auf welche fortan Belgiens Neutralisierung gestellt blieb. In der Fassung der achtzehn Artikel vom 26. Juni 1831 wurde Belgien als ebenbürtiges völkerrechtliches Staatensubjekt behandelt und ist als solches mit einem souveränen sichert) eilf- und Forderungsrecht gegenüber den fünf Gro߬ mächten ausgestattet worden. Durch die später beschlossene Fassung ist Belgien in diejenige Rolle zurückgedrängt, welche ihm durch das politische Spiel Frank¬ reichs und Englands von Anfang an zugedacht war, nämlich lediglich ein Objekt der Politik anderer Staaten zu sein, eine Sache, ein Freiland für die Machtbestrebungen seiner westlichen und nördlichen Nachbarn. In dieser Herab¬ würdigung zum Objekt der Politik — welche von den einsichtigsten Belgiern stets in vollem Bewußtsein verstanden worden ist — liegt der Grund für Belgiens jetziges Unglück und zugleich der Schlüssel für die Erkenntnis der weltgeschichtlichen Lügen, welche der Vertrag vom 19. April 1839 und seine Verwertung als Kriegsvorwand durch England darstellt. Man muß die Bülowsche und die Talleyrandsche Fassung — der Kürze halber seien diese Aus¬ drücke gestattet — scharf vergleichen, um den Sinn des Unterschiedes zu durch¬ schauen. Gegenüber der klären und starken Gestaltung der Garantiepflicht in dem Bülowschen Antrag ist in der Talleyrandschen Redaktion die Garantie¬ pflicht der Großmächte auf eine Weise verflüchtigt, welche ein dialektisch¬ politisches Meisterstück genannt werden darf. Während nach Bülows Antrag unmittelbar hinter der Neutralisierungsformel der prägnante Satz stand: „Die fünf Mächte garantieren Belgien diese immerwährende Neutralität, sowie die Integrität und Unverletzlichkeit seines Gebietes", war in den späteren Artikeln

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_331409/338>, abgerufen am 25.08.2024.