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Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Erstes Vierteljahr.

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Belgiens Neutralität

überlassen, 1815, als Führerin der Großmächte, sie Holland einverleibt hatte,
erzwang endlich 1839 (ebenfalls unter Beteiligung der übrigen Großmächte),
daß Holland, welches bis dahin mit Wort und Waffen sein Recht verfochten
hatte, durch den Neutralisierungsvertrag vom 19. April 1839 die ge¬
schehene Gewalttat der Unabhängigkeitserklärung Belgiens anerkannte.

Die belgische Revolution war unter dem unmittelbaren Einfluß der fran¬
zösischen Julirevolution ausgebrochen und wurde mit französischer Waffenhilfe
durchgeführt. Ihr Erfolg war ein politischer Sieg des revolutionären Frank¬
reichs und wurde von der Regierung Louis Philipps als nationaler Gewinn
übernommen. Talleyrand, der als Vertreter Frankreichs sich in London der
belgischen Angelegenheit besonders annahm und möglichst bald eine französische
Annexion daraus machen wollte, sah alsbald, daß dies wegen Englands Wider¬
stand zur Zeit nicht erreichbar war. Er nahm deswegen mit dem Erreichbaren
vorlieb, und das war die Neutralisierung Belgiens.

Die erste Formulierung dafür fand statt am 20. Januar 1831.

Der Gedanke war nicht neu. Schon bald nach dem Barriörevertrag von
1715 hatte Frankreich die Neutralisation der belgischen Provinzen vorgeschlagen,
um das lästige gegen Frankreich errichtete Bollwerk loszuwerden, aber ver¬
geblich. Talleyrand scheint 1831 so geschickt gewesen zu sein, selbst das erste
Wort von der Neutraltsierung Belgiens zu sprechen und zwar, wie er hinzu¬
fügte: ,F l'instar ac la Lüi8se".

Die Bezugnahme auf die Schweiz war eine von den mancherlei Lügen
der damaligen Diplomaten. Die Schweiz hatte in sechshundertjährigen Kampf
sich als selbständiger, kräftiger und selbstbewußter Staat bewährt und dann
erst, nachdem es auch noch in der Napoleonischen Krise sich behauptet hatte,
1815 die Zusicherung dauernder Respektierung des Friedenswillens und der
Friedensmacht seiner tapferen Bevölkerung erlangt. Belgien aber war nie ein
Staatssubjekt gewesen, es besaß keinen nationalen Charakter und keine nationale
Geschichte. Es war stets, und 1831 mehr als je, ein Spielball fremder Politik,
kein Staatsindividuum, sondern lediglich ein Objekt für die Landgier und die
Machtsucht der Großstaaten. Der Vergleich: "ü I'in8tar ac la 8uis8e" ist
verletzend für die Schweiz, deren auf politischen Granit gegründete und in
allen Feuern erprobte Neutralität kein Geschenk, geschweige eine Zwangsauflage
aus der Hand der Mittelmächte war, wie es die belgische Neutralifierung
zweifellos war und sein sollte.

Talleyrands Annexionsabfichten und die Falschheit seines Neutralisierungs-
Vorschlages wurden durchschaut durch den preußischen Vertreter in London,
Heinrich v. Bülow, von dem Talleyrand am 7. Dezember 1830 schrieb: "L'est
un Komme ä'e8prit et qui comprsncZ tre8 bien la pv8ition as son pay8."
Bülow kam dem französischen Minister scheinbar entgegen. Er stellte seinerseits
namens Preußens den förmlichen Antrag, die belgische Neutralifierung aus¬
zusprechen. Zugleich aber wurde dem französischen Gedanken das Rückgrat ge-


Belgiens Neutralität

überlassen, 1815, als Führerin der Großmächte, sie Holland einverleibt hatte,
erzwang endlich 1839 (ebenfalls unter Beteiligung der übrigen Großmächte),
daß Holland, welches bis dahin mit Wort und Waffen sein Recht verfochten
hatte, durch den Neutralisierungsvertrag vom 19. April 1839 die ge¬
schehene Gewalttat der Unabhängigkeitserklärung Belgiens anerkannte.

Die belgische Revolution war unter dem unmittelbaren Einfluß der fran¬
zösischen Julirevolution ausgebrochen und wurde mit französischer Waffenhilfe
durchgeführt. Ihr Erfolg war ein politischer Sieg des revolutionären Frank¬
reichs und wurde von der Regierung Louis Philipps als nationaler Gewinn
übernommen. Talleyrand, der als Vertreter Frankreichs sich in London der
belgischen Angelegenheit besonders annahm und möglichst bald eine französische
Annexion daraus machen wollte, sah alsbald, daß dies wegen Englands Wider¬
stand zur Zeit nicht erreichbar war. Er nahm deswegen mit dem Erreichbaren
vorlieb, und das war die Neutralisierung Belgiens.

Die erste Formulierung dafür fand statt am 20. Januar 1831.

Der Gedanke war nicht neu. Schon bald nach dem Barriörevertrag von
1715 hatte Frankreich die Neutralisation der belgischen Provinzen vorgeschlagen,
um das lästige gegen Frankreich errichtete Bollwerk loszuwerden, aber ver¬
geblich. Talleyrand scheint 1831 so geschickt gewesen zu sein, selbst das erste
Wort von der Neutraltsierung Belgiens zu sprechen und zwar, wie er hinzu¬
fügte: ,F l'instar ac la Lüi8se".

Die Bezugnahme auf die Schweiz war eine von den mancherlei Lügen
der damaligen Diplomaten. Die Schweiz hatte in sechshundertjährigen Kampf
sich als selbständiger, kräftiger und selbstbewußter Staat bewährt und dann
erst, nachdem es auch noch in der Napoleonischen Krise sich behauptet hatte,
1815 die Zusicherung dauernder Respektierung des Friedenswillens und der
Friedensmacht seiner tapferen Bevölkerung erlangt. Belgien aber war nie ein
Staatssubjekt gewesen, es besaß keinen nationalen Charakter und keine nationale
Geschichte. Es war stets, und 1831 mehr als je, ein Spielball fremder Politik,
kein Staatsindividuum, sondern lediglich ein Objekt für die Landgier und die
Machtsucht der Großstaaten. Der Vergleich: «ü I'in8tar ac la 8uis8e« ist
verletzend für die Schweiz, deren auf politischen Granit gegründete und in
allen Feuern erprobte Neutralität kein Geschenk, geschweige eine Zwangsauflage
aus der Hand der Mittelmächte war, wie es die belgische Neutralifierung
zweifellos war und sein sollte.

Talleyrands Annexionsabfichten und die Falschheit seines Neutralisierungs-
Vorschlages wurden durchschaut durch den preußischen Vertreter in London,
Heinrich v. Bülow, von dem Talleyrand am 7. Dezember 1830 schrieb: „L'est
un Komme ä'e8prit et qui comprsncZ tre8 bien la pv8ition as son pay8."
Bülow kam dem französischen Minister scheinbar entgegen. Er stellte seinerseits
namens Preußens den förmlichen Antrag, die belgische Neutralifierung aus¬
zusprechen. Zugleich aber wurde dem französischen Gedanken das Rückgrat ge-


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[0337] Belgiens Neutralität überlassen, 1815, als Führerin der Großmächte, sie Holland einverleibt hatte, erzwang endlich 1839 (ebenfalls unter Beteiligung der übrigen Großmächte), daß Holland, welches bis dahin mit Wort und Waffen sein Recht verfochten hatte, durch den Neutralisierungsvertrag vom 19. April 1839 die ge¬ schehene Gewalttat der Unabhängigkeitserklärung Belgiens anerkannte. Die belgische Revolution war unter dem unmittelbaren Einfluß der fran¬ zösischen Julirevolution ausgebrochen und wurde mit französischer Waffenhilfe durchgeführt. Ihr Erfolg war ein politischer Sieg des revolutionären Frank¬ reichs und wurde von der Regierung Louis Philipps als nationaler Gewinn übernommen. Talleyrand, der als Vertreter Frankreichs sich in London der belgischen Angelegenheit besonders annahm und möglichst bald eine französische Annexion daraus machen wollte, sah alsbald, daß dies wegen Englands Wider¬ stand zur Zeit nicht erreichbar war. Er nahm deswegen mit dem Erreichbaren vorlieb, und das war die Neutralisierung Belgiens. Die erste Formulierung dafür fand statt am 20. Januar 1831. Der Gedanke war nicht neu. Schon bald nach dem Barriörevertrag von 1715 hatte Frankreich die Neutralisation der belgischen Provinzen vorgeschlagen, um das lästige gegen Frankreich errichtete Bollwerk loszuwerden, aber ver¬ geblich. Talleyrand scheint 1831 so geschickt gewesen zu sein, selbst das erste Wort von der Neutraltsierung Belgiens zu sprechen und zwar, wie er hinzu¬ fügte: ,F l'instar ac la Lüi8se". Die Bezugnahme auf die Schweiz war eine von den mancherlei Lügen der damaligen Diplomaten. Die Schweiz hatte in sechshundertjährigen Kampf sich als selbständiger, kräftiger und selbstbewußter Staat bewährt und dann erst, nachdem es auch noch in der Napoleonischen Krise sich behauptet hatte, 1815 die Zusicherung dauernder Respektierung des Friedenswillens und der Friedensmacht seiner tapferen Bevölkerung erlangt. Belgien aber war nie ein Staatssubjekt gewesen, es besaß keinen nationalen Charakter und keine nationale Geschichte. Es war stets, und 1831 mehr als je, ein Spielball fremder Politik, kein Staatsindividuum, sondern lediglich ein Objekt für die Landgier und die Machtsucht der Großstaaten. Der Vergleich: «ü I'in8tar ac la 8uis8e« ist verletzend für die Schweiz, deren auf politischen Granit gegründete und in allen Feuern erprobte Neutralität kein Geschenk, geschweige eine Zwangsauflage aus der Hand der Mittelmächte war, wie es die belgische Neutralifierung zweifellos war und sein sollte. Talleyrands Annexionsabfichten und die Falschheit seines Neutralisierungs- Vorschlages wurden durchschaut durch den preußischen Vertreter in London, Heinrich v. Bülow, von dem Talleyrand am 7. Dezember 1830 schrieb: „L'est un Komme ä'e8prit et qui comprsncZ tre8 bien la pv8ition as son pay8." Bülow kam dem französischen Minister scheinbar entgegen. Er stellte seinerseits namens Preußens den förmlichen Antrag, die belgische Neutralifierung aus¬ zusprechen. Zugleich aber wurde dem französischen Gedanken das Rückgrat ge-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_331409/337>, abgerufen am 25.08.2024.