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Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Erstes Vierteljahr.

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Belgiens Neutralität

Bei der Neutralisierung handelt es sich um einen politischen Vertrag. Der
Begriff des politischen Vertrages ist in der Wissenschaft des Völkerrechtes noch
nicht genügend entwickelt. Aber darüber besteht doch kein Zweifel, daß Staats¬
verträge, welche Rechtsregeln aufstellen, wie die Genfer Konvention, die Pariser
Seerechtsdeklaration, die Haager Konventionen, ein völlig anderes Wesen haben
als Friedensschlüsse, Bündnisverträge, militärische Verabredungen, Gebiets¬
regulierungsverträge und so auch die dauernden Neutralisierungen. Für die
politischen Vertrüge hat Bismarck das Bild von Gefrieroorgängen angewendet.
"Das flüssige Element der internationalen Politik" -- so schrieb Bismarck über den
Dreibundvertrag -- "wird unter Umständen zeitweilig fest. Aber bei Veränderungen
der Atmosphäre fällt es in seinen ursprünglichen Aggregatzustand zurück." Ein
anderes Mal hat sich Bismarck dahin geäußert: Politische Verträge haben mehr
die Bedeutung von Feststellungen als von Verpflichtungsakten; ihr Wirklichkeits¬
wert geht so weit, wie die Solidarität der Interessen, die in ihnen zum Aus¬
druck kommt. Ein belgischer Jurist, Cressonniöres, hat 1911 geschrieben:
"Politischen Verträgen haftet ihrer Natur nach ein Moment der Unbeständigkeit
an. Sie entsprechen den Bedürfnissen des Augenblicks, in dem sie geschlossen
werden. Sie regeln eine bestimmte Sachlage: besteht diese nicht mehr, so
werden sie hinfällig. Alle theoretische Achtung vor dem Vertragsprinzip vermag
nichts gegen geschichtliche Notwendigkeiten, und trotz der feierlichsten Erklärungen
und der echtesten Pergamente bleibt das oberste Gesetz für jedes Volk die Pflicht
seiner Selbsterhaltung und seiner vollen nationalen Entfaltung."

Die Neutralisierung Belgiens stellt einen politischen Schöpfungsakt dar,
dessen Ergebnis tatsächliche Verhältnisse waren, die nur in äußersten Umrissen
umschrieben wurden, deren Entwicklung und praktische Handhabung aber von
dem Willen der Schöpfer abhängig blieb.

Ein Blick auf die Vorgeschichte erhärtet dies.

Man erinnert sich, daß die spanischen Niederlande sich seit Ende des
16. Jahrhunderts in einen katholischen (heute belgischen) und einen protestan¬
tischen (heute holländischen) Teil, innerlich spalteten, daß die holländischen Pro¬
vinzen sich bald von der spanischen Herrschaft befreiten, während der heute
belgische Teil bei Spanien blieb. Durch den Frieden von Utrecht -- 1713 --
wurde dieser letztere -- heute belgische -- Teil österreichisch (bis 1797)
unter gleichzeitiger Herstellung eines holländischen Besatzungsrechtes für eine
Anzahl von Festungen zum Schutz des Landes gegen französische Angriffe.
Dieses Besetzungsrecht wurde in dem sogenannten Barriörevertrage von 1715
näher geregelt. Von 1797 bis 1815 waren dann die Provinzen (welche erst feit
1830 Belgien heißen) französisch; durch den Wiener Kongreß endlich wurden
sie zu Holland geschlagen, von dem sie sich durch die am 25. August 1830
ausgebrochene Revolution loszureißen unternahmen.

England, das 1790 (mit Preußen und Holland) Osterreich den Besitz
dieser Provinzen für alle künftigen Geschlechter garantiert, 1797 es Frankreich


Belgiens Neutralität

Bei der Neutralisierung handelt es sich um einen politischen Vertrag. Der
Begriff des politischen Vertrages ist in der Wissenschaft des Völkerrechtes noch
nicht genügend entwickelt. Aber darüber besteht doch kein Zweifel, daß Staats¬
verträge, welche Rechtsregeln aufstellen, wie die Genfer Konvention, die Pariser
Seerechtsdeklaration, die Haager Konventionen, ein völlig anderes Wesen haben
als Friedensschlüsse, Bündnisverträge, militärische Verabredungen, Gebiets¬
regulierungsverträge und so auch die dauernden Neutralisierungen. Für die
politischen Vertrüge hat Bismarck das Bild von Gefrieroorgängen angewendet.
„Das flüssige Element der internationalen Politik" — so schrieb Bismarck über den
Dreibundvertrag — „wird unter Umständen zeitweilig fest. Aber bei Veränderungen
der Atmosphäre fällt es in seinen ursprünglichen Aggregatzustand zurück." Ein
anderes Mal hat sich Bismarck dahin geäußert: Politische Verträge haben mehr
die Bedeutung von Feststellungen als von Verpflichtungsakten; ihr Wirklichkeits¬
wert geht so weit, wie die Solidarität der Interessen, die in ihnen zum Aus¬
druck kommt. Ein belgischer Jurist, Cressonniöres, hat 1911 geschrieben:
„Politischen Verträgen haftet ihrer Natur nach ein Moment der Unbeständigkeit
an. Sie entsprechen den Bedürfnissen des Augenblicks, in dem sie geschlossen
werden. Sie regeln eine bestimmte Sachlage: besteht diese nicht mehr, so
werden sie hinfällig. Alle theoretische Achtung vor dem Vertragsprinzip vermag
nichts gegen geschichtliche Notwendigkeiten, und trotz der feierlichsten Erklärungen
und der echtesten Pergamente bleibt das oberste Gesetz für jedes Volk die Pflicht
seiner Selbsterhaltung und seiner vollen nationalen Entfaltung."

Die Neutralisierung Belgiens stellt einen politischen Schöpfungsakt dar,
dessen Ergebnis tatsächliche Verhältnisse waren, die nur in äußersten Umrissen
umschrieben wurden, deren Entwicklung und praktische Handhabung aber von
dem Willen der Schöpfer abhängig blieb.

Ein Blick auf die Vorgeschichte erhärtet dies.

Man erinnert sich, daß die spanischen Niederlande sich seit Ende des
16. Jahrhunderts in einen katholischen (heute belgischen) und einen protestan¬
tischen (heute holländischen) Teil, innerlich spalteten, daß die holländischen Pro¬
vinzen sich bald von der spanischen Herrschaft befreiten, während der heute
belgische Teil bei Spanien blieb. Durch den Frieden von Utrecht — 1713 —
wurde dieser letztere — heute belgische — Teil österreichisch (bis 1797)
unter gleichzeitiger Herstellung eines holländischen Besatzungsrechtes für eine
Anzahl von Festungen zum Schutz des Landes gegen französische Angriffe.
Dieses Besetzungsrecht wurde in dem sogenannten Barriörevertrage von 1715
näher geregelt. Von 1797 bis 1815 waren dann die Provinzen (welche erst feit
1830 Belgien heißen) französisch; durch den Wiener Kongreß endlich wurden
sie zu Holland geschlagen, von dem sie sich durch die am 25. August 1830
ausgebrochene Revolution loszureißen unternahmen.

England, das 1790 (mit Preußen und Holland) Osterreich den Besitz
dieser Provinzen für alle künftigen Geschlechter garantiert, 1797 es Frankreich


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[0336] Belgiens Neutralität Bei der Neutralisierung handelt es sich um einen politischen Vertrag. Der Begriff des politischen Vertrages ist in der Wissenschaft des Völkerrechtes noch nicht genügend entwickelt. Aber darüber besteht doch kein Zweifel, daß Staats¬ verträge, welche Rechtsregeln aufstellen, wie die Genfer Konvention, die Pariser Seerechtsdeklaration, die Haager Konventionen, ein völlig anderes Wesen haben als Friedensschlüsse, Bündnisverträge, militärische Verabredungen, Gebiets¬ regulierungsverträge und so auch die dauernden Neutralisierungen. Für die politischen Vertrüge hat Bismarck das Bild von Gefrieroorgängen angewendet. „Das flüssige Element der internationalen Politik" — so schrieb Bismarck über den Dreibundvertrag — „wird unter Umständen zeitweilig fest. Aber bei Veränderungen der Atmosphäre fällt es in seinen ursprünglichen Aggregatzustand zurück." Ein anderes Mal hat sich Bismarck dahin geäußert: Politische Verträge haben mehr die Bedeutung von Feststellungen als von Verpflichtungsakten; ihr Wirklichkeits¬ wert geht so weit, wie die Solidarität der Interessen, die in ihnen zum Aus¬ druck kommt. Ein belgischer Jurist, Cressonniöres, hat 1911 geschrieben: „Politischen Verträgen haftet ihrer Natur nach ein Moment der Unbeständigkeit an. Sie entsprechen den Bedürfnissen des Augenblicks, in dem sie geschlossen werden. Sie regeln eine bestimmte Sachlage: besteht diese nicht mehr, so werden sie hinfällig. Alle theoretische Achtung vor dem Vertragsprinzip vermag nichts gegen geschichtliche Notwendigkeiten, und trotz der feierlichsten Erklärungen und der echtesten Pergamente bleibt das oberste Gesetz für jedes Volk die Pflicht seiner Selbsterhaltung und seiner vollen nationalen Entfaltung." Die Neutralisierung Belgiens stellt einen politischen Schöpfungsakt dar, dessen Ergebnis tatsächliche Verhältnisse waren, die nur in äußersten Umrissen umschrieben wurden, deren Entwicklung und praktische Handhabung aber von dem Willen der Schöpfer abhängig blieb. Ein Blick auf die Vorgeschichte erhärtet dies. Man erinnert sich, daß die spanischen Niederlande sich seit Ende des 16. Jahrhunderts in einen katholischen (heute belgischen) und einen protestan¬ tischen (heute holländischen) Teil, innerlich spalteten, daß die holländischen Pro¬ vinzen sich bald von der spanischen Herrschaft befreiten, während der heute belgische Teil bei Spanien blieb. Durch den Frieden von Utrecht — 1713 — wurde dieser letztere — heute belgische — Teil österreichisch (bis 1797) unter gleichzeitiger Herstellung eines holländischen Besatzungsrechtes für eine Anzahl von Festungen zum Schutz des Landes gegen französische Angriffe. Dieses Besetzungsrecht wurde in dem sogenannten Barriörevertrage von 1715 näher geregelt. Von 1797 bis 1815 waren dann die Provinzen (welche erst feit 1830 Belgien heißen) französisch; durch den Wiener Kongreß endlich wurden sie zu Holland geschlagen, von dem sie sich durch die am 25. August 1830 ausgebrochene Revolution loszureißen unternahmen. England, das 1790 (mit Preußen und Holland) Osterreich den Besitz dieser Provinzen für alle künftigen Geschlechter garantiert, 1797 es Frankreich

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_331409/336>, abgerufen am 25.08.2024.