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Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Erstes Vierteljahr.

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Gesellschaft und Einzelwesen in der Erziehung

"Nur ein grenzenloser, man möchte sagen, kindlich naiver Optimismus, den man
liebenswürdig nennen möchte, wenn er nicht mit seiner die Halbgebildeten be¬
stechenden Flachheit gefährlich wäre, kann wähnen, daß man dem Menschen nur
schrankenlose Freiheit zu gewähren brauche, um das ganze Leben zu seliger
Harmonie zu führen." Solche schrankenlose Freiheit führt nimmermehr zu einer
Persönlichkeitsbildung wesenhafter Art. Diese aber brauchen wir.

Ihr darf von keiner Seite, auch nicht von der Gesellschaft oder vom
Staate, entgegengearbeitet werden. Das geschieht aber z. B., wenn an den
höheren Schulen auf der Oberstufe, wo die geistige Eigenart der Schüler
hervortritt, diese nicht berücksichtigt, sondern im Interesse einer sogenannten
allgemeinen Bildung von allen Schülern in allen Fächern dasselbe verlangt
wird. Dann entsteht der Zustand, den Eucken mit den Worten schildert: "So
erhalten wir leicht konventionelle Gestalten, typische Menschen, Exemplare einer
bloßen Gattung, während die Ausbildung individueller Art unterdrückt wird
und damit etwas verloren geht, dessen die Aufrechterhaltung innerer Selbst-
ständigkeit dringend bedarf."

So muß eine wesensechte Persönlichkeitspädagogik verlangen, daß alle
Hemmnisse beseitigt werden, die sich der Bildung von Persönlichkeiten entgegen¬
stellen. Damit ist auch am besten dem Interesse des Staates gedient. Denn
gerade er braucht Persönlichkeiten, und er arbeitet gegen sein eigenes Interesse,
wenn er durch eine das Individuelle nivellierende Jugendbildung von vornherein
der Heranbildung selbständiger Originalität entgegenarbeitet. Nicht bloß das
Interesse der Gesellschaft oder des Staates, aber auch nicht bloß das Interesse
des Individuums darf für die Erziehung bestimmend sein, sondern sie muß den
Interessen der Gemeinschaft und denen der Individuen gleichmäßig Rechnung
tragen. Gebt der Gesellschaft und dem Staate, was der Gesellschaft und des
Staates ist, aber gebt auch dem Menschen, was des Menschen ist, das ist die
Forderung, die eine über die Einseitigkeiten moderner Sozialpädagogik und
Jndividualvädagogik hinausstrebende Persönlichkeitspädagogik an alle Erziehungs¬
instanzen richtet.




Gesellschaft und Einzelwesen in der Erziehung

„Nur ein grenzenloser, man möchte sagen, kindlich naiver Optimismus, den man
liebenswürdig nennen möchte, wenn er nicht mit seiner die Halbgebildeten be¬
stechenden Flachheit gefährlich wäre, kann wähnen, daß man dem Menschen nur
schrankenlose Freiheit zu gewähren brauche, um das ganze Leben zu seliger
Harmonie zu führen." Solche schrankenlose Freiheit führt nimmermehr zu einer
Persönlichkeitsbildung wesenhafter Art. Diese aber brauchen wir.

Ihr darf von keiner Seite, auch nicht von der Gesellschaft oder vom
Staate, entgegengearbeitet werden. Das geschieht aber z. B., wenn an den
höheren Schulen auf der Oberstufe, wo die geistige Eigenart der Schüler
hervortritt, diese nicht berücksichtigt, sondern im Interesse einer sogenannten
allgemeinen Bildung von allen Schülern in allen Fächern dasselbe verlangt
wird. Dann entsteht der Zustand, den Eucken mit den Worten schildert: „So
erhalten wir leicht konventionelle Gestalten, typische Menschen, Exemplare einer
bloßen Gattung, während die Ausbildung individueller Art unterdrückt wird
und damit etwas verloren geht, dessen die Aufrechterhaltung innerer Selbst-
ständigkeit dringend bedarf."

So muß eine wesensechte Persönlichkeitspädagogik verlangen, daß alle
Hemmnisse beseitigt werden, die sich der Bildung von Persönlichkeiten entgegen¬
stellen. Damit ist auch am besten dem Interesse des Staates gedient. Denn
gerade er braucht Persönlichkeiten, und er arbeitet gegen sein eigenes Interesse,
wenn er durch eine das Individuelle nivellierende Jugendbildung von vornherein
der Heranbildung selbständiger Originalität entgegenarbeitet. Nicht bloß das
Interesse der Gesellschaft oder des Staates, aber auch nicht bloß das Interesse
des Individuums darf für die Erziehung bestimmend sein, sondern sie muß den
Interessen der Gemeinschaft und denen der Individuen gleichmäßig Rechnung
tragen. Gebt der Gesellschaft und dem Staate, was der Gesellschaft und des
Staates ist, aber gebt auch dem Menschen, was des Menschen ist, das ist die
Forderung, die eine über die Einseitigkeiten moderner Sozialpädagogik und
Jndividualvädagogik hinausstrebende Persönlichkeitspädagogik an alle Erziehungs¬
instanzen richtet.




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[0326] Gesellschaft und Einzelwesen in der Erziehung „Nur ein grenzenloser, man möchte sagen, kindlich naiver Optimismus, den man liebenswürdig nennen möchte, wenn er nicht mit seiner die Halbgebildeten be¬ stechenden Flachheit gefährlich wäre, kann wähnen, daß man dem Menschen nur schrankenlose Freiheit zu gewähren brauche, um das ganze Leben zu seliger Harmonie zu führen." Solche schrankenlose Freiheit führt nimmermehr zu einer Persönlichkeitsbildung wesenhafter Art. Diese aber brauchen wir. Ihr darf von keiner Seite, auch nicht von der Gesellschaft oder vom Staate, entgegengearbeitet werden. Das geschieht aber z. B., wenn an den höheren Schulen auf der Oberstufe, wo die geistige Eigenart der Schüler hervortritt, diese nicht berücksichtigt, sondern im Interesse einer sogenannten allgemeinen Bildung von allen Schülern in allen Fächern dasselbe verlangt wird. Dann entsteht der Zustand, den Eucken mit den Worten schildert: „So erhalten wir leicht konventionelle Gestalten, typische Menschen, Exemplare einer bloßen Gattung, während die Ausbildung individueller Art unterdrückt wird und damit etwas verloren geht, dessen die Aufrechterhaltung innerer Selbst- ständigkeit dringend bedarf." So muß eine wesensechte Persönlichkeitspädagogik verlangen, daß alle Hemmnisse beseitigt werden, die sich der Bildung von Persönlichkeiten entgegen¬ stellen. Damit ist auch am besten dem Interesse des Staates gedient. Denn gerade er braucht Persönlichkeiten, und er arbeitet gegen sein eigenes Interesse, wenn er durch eine das Individuelle nivellierende Jugendbildung von vornherein der Heranbildung selbständiger Originalität entgegenarbeitet. Nicht bloß das Interesse der Gesellschaft oder des Staates, aber auch nicht bloß das Interesse des Individuums darf für die Erziehung bestimmend sein, sondern sie muß den Interessen der Gemeinschaft und denen der Individuen gleichmäßig Rechnung tragen. Gebt der Gesellschaft und dem Staate, was der Gesellschaft und des Staates ist, aber gebt auch dem Menschen, was des Menschen ist, das ist die Forderung, die eine über die Einseitigkeiten moderner Sozialpädagogik und Jndividualvädagogik hinausstrebende Persönlichkeitspädagogik an alle Erziehungs¬ instanzen richtet.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_331409/326>, abgerufen am 23.07.2024.