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Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Erstes Vierteljahr.

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Gesellschaft und Einzelwesen in der Erziehung

der Gesellschaft M machen, entschieden zurückgewiesen und ihm gegenüber das
Recht der Persönlichkeit energisch gewahrt werden.

Dabei kommt es nun aber darauf an, daß der Begriff der Persönlichkeit,
mit dem gerade in unserer Zeit so viel Mißbrauch getrieben wird, richtig ge¬
faßt wird. Den modernen "Übermenschen", der sich nach seiner Laune ans¬
ieht, vermögen wir nicht als "Persönlichkeit" anzuerkennen. Er löst sich nicht
bloß von der Gesellschaft ab, sondern lockert auch alle unsichtbaren Zusammen¬
hänge und löst sich damit auch von der Geisteswelt ab. Sein extremer
Individualismus stellt das Individuum ganz auf das subjektive Befinden, auf
subjektive, fortgesetzt wechselnde Stimmungen und macht es damit zu einem
schwankenden Rohre, das der unruhige Wind solcher Stimmungen ewig hin-
und herbewegt. Dabei scheidet alle absolute Wahrheit aus, und an ihre Stelle
treten unzählige, von dem augenblicklichen subjektiven Befinden der einzelnen
Individuen abhängige individuelle- Einzelwahrheiten, die zu einem Kampfe aller
gegen alle und damit zu einem Chaos der Kultur führen müßten. Und auf
dieses Chaos würde die Jugenderziehung systematisch vorbereiten, wenn sie im
Sinne der aus der extrem individualistischen Philosophie entsprungenen extrem
individualistischen Pädagogik gestaltet werden würde.

Das Losungswort dieser Pädagogik ist die schrankenlose Selbstentfaltung
der Kinder. Das "Sichausleben" soll also schon bei dem Kinde beginnen.
Seitdem Ellen Key das hohe Lied vom Jahrhundert des Kindes angestimmt
hat, hat diese extrem individualistische Pädagogik bis auf den heutigen Tag
namhafte Vertreter gefunden. Nach ihrer Meinung ist eine Anlage zum Bösen
bei den Kindern nicht vorhanden; die scheinbaren Fehler sind nur die Kehrseiten
guter Eigenschaften; so läßt sich aus Eigensinn Charakterstärke, aus Gefallsucht
Liebenswürdigkeit, aus Unruhe Unternehmungslust entwickeln usw. Alle üblichen
Erziehungsmittel sind zu verwerfen; sie machen die Leidenschaften zu in Käfigen
gesperrten Raubtieren.

Es ist ohne weiteres klar, daß die letzte Konsequenz solcher Anschauungen
ist, daß wir am besten überhaupt auf jegliche Erziehung verzichten und einfach
die ungezähnten Raubtiere auf eiiuinder loslassen. Aber werden wohl jemals
aus solchen ungezähnten Raubtieren Persönlichkeiten werden können? Wir haben
nicht den Mut, dies zu glauben; wenigstens müssen wir dies aufs entschiedenste
bestreiten, wenn, wie es sein sollte, der Begriff der Persönlichkeit so gefaßt wird,
wie dies in der Philosophie Rudolf Euckens geschieht, die uns als die um¬
fassendste und tiefste Kulturphilosophie der Gegenwart erscheint.

Was versteht denn nunEucken unter "Persönlichkeit" ? "Wer im Zusammen¬
hang einer Weltanschauung für Persönlichkeit eintritt", heißt es bei ihm, "be¬
hauptet damit, daß das Geistesleben kein bloßer Anhang der Natur ist. sondern
eine eigentümliche Art des Seins besagt; er behauptet, daß es nicht in einzelne
Betätigungen und Vermögen aufgeht, sondern eine ihnen überlegene und sie
umfassend" Einheit enthält und damit zu einem Beisichselbstsein, einem Selbst-


Gesellschaft und Einzelwesen in der Erziehung

der Gesellschaft M machen, entschieden zurückgewiesen und ihm gegenüber das
Recht der Persönlichkeit energisch gewahrt werden.

Dabei kommt es nun aber darauf an, daß der Begriff der Persönlichkeit,
mit dem gerade in unserer Zeit so viel Mißbrauch getrieben wird, richtig ge¬
faßt wird. Den modernen „Übermenschen", der sich nach seiner Laune ans¬
ieht, vermögen wir nicht als „Persönlichkeit" anzuerkennen. Er löst sich nicht
bloß von der Gesellschaft ab, sondern lockert auch alle unsichtbaren Zusammen¬
hänge und löst sich damit auch von der Geisteswelt ab. Sein extremer
Individualismus stellt das Individuum ganz auf das subjektive Befinden, auf
subjektive, fortgesetzt wechselnde Stimmungen und macht es damit zu einem
schwankenden Rohre, das der unruhige Wind solcher Stimmungen ewig hin-
und herbewegt. Dabei scheidet alle absolute Wahrheit aus, und an ihre Stelle
treten unzählige, von dem augenblicklichen subjektiven Befinden der einzelnen
Individuen abhängige individuelle- Einzelwahrheiten, die zu einem Kampfe aller
gegen alle und damit zu einem Chaos der Kultur führen müßten. Und auf
dieses Chaos würde die Jugenderziehung systematisch vorbereiten, wenn sie im
Sinne der aus der extrem individualistischen Philosophie entsprungenen extrem
individualistischen Pädagogik gestaltet werden würde.

Das Losungswort dieser Pädagogik ist die schrankenlose Selbstentfaltung
der Kinder. Das „Sichausleben" soll also schon bei dem Kinde beginnen.
Seitdem Ellen Key das hohe Lied vom Jahrhundert des Kindes angestimmt
hat, hat diese extrem individualistische Pädagogik bis auf den heutigen Tag
namhafte Vertreter gefunden. Nach ihrer Meinung ist eine Anlage zum Bösen
bei den Kindern nicht vorhanden; die scheinbaren Fehler sind nur die Kehrseiten
guter Eigenschaften; so läßt sich aus Eigensinn Charakterstärke, aus Gefallsucht
Liebenswürdigkeit, aus Unruhe Unternehmungslust entwickeln usw. Alle üblichen
Erziehungsmittel sind zu verwerfen; sie machen die Leidenschaften zu in Käfigen
gesperrten Raubtieren.

Es ist ohne weiteres klar, daß die letzte Konsequenz solcher Anschauungen
ist, daß wir am besten überhaupt auf jegliche Erziehung verzichten und einfach
die ungezähnten Raubtiere auf eiiuinder loslassen. Aber werden wohl jemals
aus solchen ungezähnten Raubtieren Persönlichkeiten werden können? Wir haben
nicht den Mut, dies zu glauben; wenigstens müssen wir dies aufs entschiedenste
bestreiten, wenn, wie es sein sollte, der Begriff der Persönlichkeit so gefaßt wird,
wie dies in der Philosophie Rudolf Euckens geschieht, die uns als die um¬
fassendste und tiefste Kulturphilosophie der Gegenwart erscheint.

Was versteht denn nunEucken unter „Persönlichkeit" ? „Wer im Zusammen¬
hang einer Weltanschauung für Persönlichkeit eintritt", heißt es bei ihm, „be¬
hauptet damit, daß das Geistesleben kein bloßer Anhang der Natur ist. sondern
eine eigentümliche Art des Seins besagt; er behauptet, daß es nicht in einzelne
Betätigungen und Vermögen aufgeht, sondern eine ihnen überlegene und sie
umfassend« Einheit enthält und damit zu einem Beisichselbstsein, einem Selbst-


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[0324] Gesellschaft und Einzelwesen in der Erziehung der Gesellschaft M machen, entschieden zurückgewiesen und ihm gegenüber das Recht der Persönlichkeit energisch gewahrt werden. Dabei kommt es nun aber darauf an, daß der Begriff der Persönlichkeit, mit dem gerade in unserer Zeit so viel Mißbrauch getrieben wird, richtig ge¬ faßt wird. Den modernen „Übermenschen", der sich nach seiner Laune ans¬ ieht, vermögen wir nicht als „Persönlichkeit" anzuerkennen. Er löst sich nicht bloß von der Gesellschaft ab, sondern lockert auch alle unsichtbaren Zusammen¬ hänge und löst sich damit auch von der Geisteswelt ab. Sein extremer Individualismus stellt das Individuum ganz auf das subjektive Befinden, auf subjektive, fortgesetzt wechselnde Stimmungen und macht es damit zu einem schwankenden Rohre, das der unruhige Wind solcher Stimmungen ewig hin- und herbewegt. Dabei scheidet alle absolute Wahrheit aus, und an ihre Stelle treten unzählige, von dem augenblicklichen subjektiven Befinden der einzelnen Individuen abhängige individuelle- Einzelwahrheiten, die zu einem Kampfe aller gegen alle und damit zu einem Chaos der Kultur führen müßten. Und auf dieses Chaos würde die Jugenderziehung systematisch vorbereiten, wenn sie im Sinne der aus der extrem individualistischen Philosophie entsprungenen extrem individualistischen Pädagogik gestaltet werden würde. Das Losungswort dieser Pädagogik ist die schrankenlose Selbstentfaltung der Kinder. Das „Sichausleben" soll also schon bei dem Kinde beginnen. Seitdem Ellen Key das hohe Lied vom Jahrhundert des Kindes angestimmt hat, hat diese extrem individualistische Pädagogik bis auf den heutigen Tag namhafte Vertreter gefunden. Nach ihrer Meinung ist eine Anlage zum Bösen bei den Kindern nicht vorhanden; die scheinbaren Fehler sind nur die Kehrseiten guter Eigenschaften; so läßt sich aus Eigensinn Charakterstärke, aus Gefallsucht Liebenswürdigkeit, aus Unruhe Unternehmungslust entwickeln usw. Alle üblichen Erziehungsmittel sind zu verwerfen; sie machen die Leidenschaften zu in Käfigen gesperrten Raubtieren. Es ist ohne weiteres klar, daß die letzte Konsequenz solcher Anschauungen ist, daß wir am besten überhaupt auf jegliche Erziehung verzichten und einfach die ungezähnten Raubtiere auf eiiuinder loslassen. Aber werden wohl jemals aus solchen ungezähnten Raubtieren Persönlichkeiten werden können? Wir haben nicht den Mut, dies zu glauben; wenigstens müssen wir dies aufs entschiedenste bestreiten, wenn, wie es sein sollte, der Begriff der Persönlichkeit so gefaßt wird, wie dies in der Philosophie Rudolf Euckens geschieht, die uns als die um¬ fassendste und tiefste Kulturphilosophie der Gegenwart erscheint. Was versteht denn nunEucken unter „Persönlichkeit" ? „Wer im Zusammen¬ hang einer Weltanschauung für Persönlichkeit eintritt", heißt es bei ihm, „be¬ hauptet damit, daß das Geistesleben kein bloßer Anhang der Natur ist. sondern eine eigentümliche Art des Seins besagt; er behauptet, daß es nicht in einzelne Betätigungen und Vermögen aufgeht, sondern eine ihnen überlegene und sie umfassend« Einheit enthält und damit zu einem Beisichselbstsein, einem Selbst-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_331409/324>, abgerufen am 23.07.2024.