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Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Erstes Vierteljahr.

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Gesellschaft und Einzelwesen in der Erziehung

aber man darf nun über sie nicht die Gefahren übersehen, die eine solche
Sozialkultur für das Geistesleben in sich birgt. Auf diese Gefahren eindring¬
lich hinzuweisen, hat besonders Rudolf Gucken mehrfach Veranlassung genommen.

Er zeigt, daß die Sozialkultur zwar Wohlfahrt und ein sorgenfreies,
genußreiches Leben zu verschaffen vermag, aber daß mit der Steigerung dieser
Wohlfahrt noch nicht, weder für den einzelnen noch für alle, eine innere Be¬
friedigung notwendig verbunden ist. Ein sorgenfreies und genußreiches Leben
genügt noch keineswegs, um den Menschen glücklich zu machen. "Denn indem
wir den einen Feind, die Not und den Schmerz, erschlagen, erwächst uns ein
anderer, vielleicht noch schlimmerer, in der Leere und Langeweile, und was
gegen diesen die bloße Sozialkultur aufzuweisen hat, ist nicht zu ersehen."
Überhaupt trägt alle Kultur, welche sich auf die Pflege und Förderung des
Menschen innerhalb des unmittelbaren Daseins beschränkt, unvermeidlich den
Stempel einer Öde und Leere; in ihr erstickt die Sorge um die Mittel des
Lebens die um das Leben selbst. Vor allem bedroht eine solche Sozialkultur
auch das geistige Schaffen; denn sie macht die Bedingungen und Schranken
des menschlichen Zusammenseins unvermeidlich auch zu Bedingungen und
Schranken für jenes Schaffen; damit wird dieses aber zu einem Mittel und
Werkzeug menschlichen Glückes erniedrigt, das gleichgültig gegen seinen eigenen
Gehalt macht und es unter den seiner unwürdigen Begriff der Nützlichkeit
beugt. Wo dies geschieht, wird das geistige Schaffen aber seiner eigentlichen
Kraft beraubt; wirklich gelingen kann es nur dann, wenn es um seiner selbst
willen mit ganzer Hingebung erfaßt und betrieben wird. Auch hat sein Ge¬
deihen zur Voraussetzung, daß sich das individuelle Leben frei entfalten und
die individuelle Art sich kräftig ausbilden kann. Gerade diese individuelle
Art wird aber auch bei der freiesten politischen Verfassung durch die Sozial¬
kultur eingeengt. Ferner kann geistiges Schaffen nur dann nach Wahrheit
streben, wenn ihm eine zeitlose Geltung, eine Überlegenheit gegen allen Wechsel
und Wandel garantiert wird; die Sozialkultur ist aber stets von der jeweiligen
Lage abhängig. "Sie folgt der flüchtigen Stimmung des Menschen und muß
so schließlich bei unablässigem Umschlagen auch die wichtigsten, die heiligsten
Angelegenheiten als eine Sache der bloßen Mode behandeln." So kennt sie
nur relative, stets sich ändernde, aber keine absoluten Werte.

Und diese beiden Momente, die Relativität der sie beherrschenden sittlichen
Werte und die Einschnürung des individuellen Lebens, sie sind es gerade, die
die Sozialkultur zu einer Begründung der Pädagogik untauglich machen.

Noch schwerer aber fällt der von Eucken der Sozialkultur gemachte zweite
Vorwurf für die Pädagogik ins Gewicht, daß nämlich durch die alleinige An¬
erkennung des gesellschaftlichen Organismus die Bedeutung der Einzelpersön¬
lichkeit mit ihrem Recht auf eigenartige Ausbildung verdunkelt, wenn nicht
ganz aufgehoben wird. Die Sozialpädagogik, sagt der Jenenser Pädagoge
Rein, dürfe folgerichtigerweise überhaupt keine Einzelseelen kennen, die mit


Gesellschaft und Einzelwesen in der Erziehung

aber man darf nun über sie nicht die Gefahren übersehen, die eine solche
Sozialkultur für das Geistesleben in sich birgt. Auf diese Gefahren eindring¬
lich hinzuweisen, hat besonders Rudolf Gucken mehrfach Veranlassung genommen.

Er zeigt, daß die Sozialkultur zwar Wohlfahrt und ein sorgenfreies,
genußreiches Leben zu verschaffen vermag, aber daß mit der Steigerung dieser
Wohlfahrt noch nicht, weder für den einzelnen noch für alle, eine innere Be¬
friedigung notwendig verbunden ist. Ein sorgenfreies und genußreiches Leben
genügt noch keineswegs, um den Menschen glücklich zu machen. „Denn indem
wir den einen Feind, die Not und den Schmerz, erschlagen, erwächst uns ein
anderer, vielleicht noch schlimmerer, in der Leere und Langeweile, und was
gegen diesen die bloße Sozialkultur aufzuweisen hat, ist nicht zu ersehen."
Überhaupt trägt alle Kultur, welche sich auf die Pflege und Förderung des
Menschen innerhalb des unmittelbaren Daseins beschränkt, unvermeidlich den
Stempel einer Öde und Leere; in ihr erstickt die Sorge um die Mittel des
Lebens die um das Leben selbst. Vor allem bedroht eine solche Sozialkultur
auch das geistige Schaffen; denn sie macht die Bedingungen und Schranken
des menschlichen Zusammenseins unvermeidlich auch zu Bedingungen und
Schranken für jenes Schaffen; damit wird dieses aber zu einem Mittel und
Werkzeug menschlichen Glückes erniedrigt, das gleichgültig gegen seinen eigenen
Gehalt macht und es unter den seiner unwürdigen Begriff der Nützlichkeit
beugt. Wo dies geschieht, wird das geistige Schaffen aber seiner eigentlichen
Kraft beraubt; wirklich gelingen kann es nur dann, wenn es um seiner selbst
willen mit ganzer Hingebung erfaßt und betrieben wird. Auch hat sein Ge¬
deihen zur Voraussetzung, daß sich das individuelle Leben frei entfalten und
die individuelle Art sich kräftig ausbilden kann. Gerade diese individuelle
Art wird aber auch bei der freiesten politischen Verfassung durch die Sozial¬
kultur eingeengt. Ferner kann geistiges Schaffen nur dann nach Wahrheit
streben, wenn ihm eine zeitlose Geltung, eine Überlegenheit gegen allen Wechsel
und Wandel garantiert wird; die Sozialkultur ist aber stets von der jeweiligen
Lage abhängig. „Sie folgt der flüchtigen Stimmung des Menschen und muß
so schließlich bei unablässigem Umschlagen auch die wichtigsten, die heiligsten
Angelegenheiten als eine Sache der bloßen Mode behandeln." So kennt sie
nur relative, stets sich ändernde, aber keine absoluten Werte.

Und diese beiden Momente, die Relativität der sie beherrschenden sittlichen
Werte und die Einschnürung des individuellen Lebens, sie sind es gerade, die
die Sozialkultur zu einer Begründung der Pädagogik untauglich machen.

Noch schwerer aber fällt der von Eucken der Sozialkultur gemachte zweite
Vorwurf für die Pädagogik ins Gewicht, daß nämlich durch die alleinige An¬
erkennung des gesellschaftlichen Organismus die Bedeutung der Einzelpersön¬
lichkeit mit ihrem Recht auf eigenartige Ausbildung verdunkelt, wenn nicht
ganz aufgehoben wird. Die Sozialpädagogik, sagt der Jenenser Pädagoge
Rein, dürfe folgerichtigerweise überhaupt keine Einzelseelen kennen, die mit


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[0322] Gesellschaft und Einzelwesen in der Erziehung aber man darf nun über sie nicht die Gefahren übersehen, die eine solche Sozialkultur für das Geistesleben in sich birgt. Auf diese Gefahren eindring¬ lich hinzuweisen, hat besonders Rudolf Gucken mehrfach Veranlassung genommen. Er zeigt, daß die Sozialkultur zwar Wohlfahrt und ein sorgenfreies, genußreiches Leben zu verschaffen vermag, aber daß mit der Steigerung dieser Wohlfahrt noch nicht, weder für den einzelnen noch für alle, eine innere Be¬ friedigung notwendig verbunden ist. Ein sorgenfreies und genußreiches Leben genügt noch keineswegs, um den Menschen glücklich zu machen. „Denn indem wir den einen Feind, die Not und den Schmerz, erschlagen, erwächst uns ein anderer, vielleicht noch schlimmerer, in der Leere und Langeweile, und was gegen diesen die bloße Sozialkultur aufzuweisen hat, ist nicht zu ersehen." Überhaupt trägt alle Kultur, welche sich auf die Pflege und Förderung des Menschen innerhalb des unmittelbaren Daseins beschränkt, unvermeidlich den Stempel einer Öde und Leere; in ihr erstickt die Sorge um die Mittel des Lebens die um das Leben selbst. Vor allem bedroht eine solche Sozialkultur auch das geistige Schaffen; denn sie macht die Bedingungen und Schranken des menschlichen Zusammenseins unvermeidlich auch zu Bedingungen und Schranken für jenes Schaffen; damit wird dieses aber zu einem Mittel und Werkzeug menschlichen Glückes erniedrigt, das gleichgültig gegen seinen eigenen Gehalt macht und es unter den seiner unwürdigen Begriff der Nützlichkeit beugt. Wo dies geschieht, wird das geistige Schaffen aber seiner eigentlichen Kraft beraubt; wirklich gelingen kann es nur dann, wenn es um seiner selbst willen mit ganzer Hingebung erfaßt und betrieben wird. Auch hat sein Ge¬ deihen zur Voraussetzung, daß sich das individuelle Leben frei entfalten und die individuelle Art sich kräftig ausbilden kann. Gerade diese individuelle Art wird aber auch bei der freiesten politischen Verfassung durch die Sozial¬ kultur eingeengt. Ferner kann geistiges Schaffen nur dann nach Wahrheit streben, wenn ihm eine zeitlose Geltung, eine Überlegenheit gegen allen Wechsel und Wandel garantiert wird; die Sozialkultur ist aber stets von der jeweiligen Lage abhängig. „Sie folgt der flüchtigen Stimmung des Menschen und muß so schließlich bei unablässigem Umschlagen auch die wichtigsten, die heiligsten Angelegenheiten als eine Sache der bloßen Mode behandeln." So kennt sie nur relative, stets sich ändernde, aber keine absoluten Werte. Und diese beiden Momente, die Relativität der sie beherrschenden sittlichen Werte und die Einschnürung des individuellen Lebens, sie sind es gerade, die die Sozialkultur zu einer Begründung der Pädagogik untauglich machen. Noch schwerer aber fällt der von Eucken der Sozialkultur gemachte zweite Vorwurf für die Pädagogik ins Gewicht, daß nämlich durch die alleinige An¬ erkennung des gesellschaftlichen Organismus die Bedeutung der Einzelpersön¬ lichkeit mit ihrem Recht auf eigenartige Ausbildung verdunkelt, wenn nicht ganz aufgehoben wird. Die Sozialpädagogik, sagt der Jenenser Pädagoge Rein, dürfe folgerichtigerweise überhaupt keine Einzelseelen kennen, die mit

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_331409/322>, abgerufen am 23.07.2024.