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Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Erstes Vierteljahr.

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Deutsche Schutzgebiete in Europa

Deutschland wird nach der Erklärung des Reichskanzlers nicht anders
Frieden schließen, als daß es alle möglichen Sicherheiten gegen eine künftige
Wiederholung des Überfalles vom Sommer 1914 erhält. Diese Sicherheiten
bestehen vor allem in Gebietsveränderungen. Nur ein ganz kindliches Gemüt
kann sich einen Ausgang des gewaltigen Weltkrieges in der Weise denken, daß
alles, was französisch war. wieder französisch, alles, was belgisch war. wieder
belgisch wird, man harmlos in den Zustand vom Juli 1914 zurückkehrt, als
-ob gar nichts geschehen wäre. Weder im Osten noch im Westen, weder auf
dem Balkan noch auf dem Weltmeere gibt es einen Status que" ante.

Das einfache Gebot der Sicherheit erfordert, daß die deutschen Grenz¬
lande künftig nicht schutzlos einem feindlichen Einfalle ausgesetzt sind. Dazu
muß Deutschland jenseits seiner bisherigen Grenzen in Ost und West Marken
bisher feindlichen Gebietes selbst dauernd besetzen. Die Bedürfnisse der deutschen
Volkswirtschaft gehen in derselben Richtung, sie erfordern neues Industriegebiet
im Westen, neues Landwirtschaftsgebiet im Osten.

Wenn man dies auch rückhaltlos anerkennt, so ertönt doch immer wieder
das Bedenken des deutschen Philisters. Wir dürfen den festgefügten Organismus
des deutschen Nationalstaates nicht durch Angliederung von Fremdkörpern
sprengen. Schon haben wir unsere liebe Not mit Polen und Dänen und mit
Elsaß'Lothringern, die gelegentlich im Reichstage ein Schauspiel aufführen.
Was würde es erst für ein Hexensabbat werden, wenn dazu auf der einen
Seite die Belgier, auf der anderen Letten, Litauer und Weißrufsen kämen
und womöglich alle in ihren Zungen über deutsche Vergewaltigung zeterten?
Da wollen wir doch lieber unter uns bleiben und jene interessanten kleinen
Nationen anderen überlassen.

War es an sich schon ein Fehler, die Elsaß-Lothringer, die doch in ihrer
überwiegenden Mehrheit deutschen Stammes waren, sogleich als Reichsland in
den deutschen Reichsverband aufzunehmen, nun gar im Jahre 1911 ihnen eine
Verfassung zu geben, die den französischen Separitismus erst recht in die Höhe
schießen ließ, so wäre es vollends eine Ungeheuerlichkeit, unseren Reichsverband
mit Vlamen und Wallonen, mit Letten, Litauern, Weißrussen und weiteren
Polen und endlich mit allen polnischen Juden zu belasten. An dieses liebliche
Bild eines erweiterten Reiches denkt man mit Grausen, indem man jede
Annexion ablehnt.

Allein eine solche Erweiterung des Reichsgebietes, wie sie 1871 durch
Elsaß-Lothringen erfolgte, ist doch nicht der einzige Weg, um dem Reiche die
notwendige Sicherheit zu gewähren. Wenn der Reichskanzler betonte, daß der
künftige Frieden dem Reiche die notwendige Sicherheit bieten müsse, und es
daher weder im Osten noch im Westen einen Status quo ante geben könne,
so erklärte er doch auch andererseits, von einer Annexion Belgiens habe er nie
gesprochen. Beides ist sehr wohl miteinander vereinbar. Ebenso ist die
Beherrschung der neuen Marken jenseits der bisherigen Neichsgrenzen nicht im


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Deutsche Schutzgebiete in Europa

Deutschland wird nach der Erklärung des Reichskanzlers nicht anders
Frieden schließen, als daß es alle möglichen Sicherheiten gegen eine künftige
Wiederholung des Überfalles vom Sommer 1914 erhält. Diese Sicherheiten
bestehen vor allem in Gebietsveränderungen. Nur ein ganz kindliches Gemüt
kann sich einen Ausgang des gewaltigen Weltkrieges in der Weise denken, daß
alles, was französisch war. wieder französisch, alles, was belgisch war. wieder
belgisch wird, man harmlos in den Zustand vom Juli 1914 zurückkehrt, als
-ob gar nichts geschehen wäre. Weder im Osten noch im Westen, weder auf
dem Balkan noch auf dem Weltmeere gibt es einen Status que» ante.

Das einfache Gebot der Sicherheit erfordert, daß die deutschen Grenz¬
lande künftig nicht schutzlos einem feindlichen Einfalle ausgesetzt sind. Dazu
muß Deutschland jenseits seiner bisherigen Grenzen in Ost und West Marken
bisher feindlichen Gebietes selbst dauernd besetzen. Die Bedürfnisse der deutschen
Volkswirtschaft gehen in derselben Richtung, sie erfordern neues Industriegebiet
im Westen, neues Landwirtschaftsgebiet im Osten.

Wenn man dies auch rückhaltlos anerkennt, so ertönt doch immer wieder
das Bedenken des deutschen Philisters. Wir dürfen den festgefügten Organismus
des deutschen Nationalstaates nicht durch Angliederung von Fremdkörpern
sprengen. Schon haben wir unsere liebe Not mit Polen und Dänen und mit
Elsaß'Lothringern, die gelegentlich im Reichstage ein Schauspiel aufführen.
Was würde es erst für ein Hexensabbat werden, wenn dazu auf der einen
Seite die Belgier, auf der anderen Letten, Litauer und Weißrufsen kämen
und womöglich alle in ihren Zungen über deutsche Vergewaltigung zeterten?
Da wollen wir doch lieber unter uns bleiben und jene interessanten kleinen
Nationen anderen überlassen.

War es an sich schon ein Fehler, die Elsaß-Lothringer, die doch in ihrer
überwiegenden Mehrheit deutschen Stammes waren, sogleich als Reichsland in
den deutschen Reichsverband aufzunehmen, nun gar im Jahre 1911 ihnen eine
Verfassung zu geben, die den französischen Separitismus erst recht in die Höhe
schießen ließ, so wäre es vollends eine Ungeheuerlichkeit, unseren Reichsverband
mit Vlamen und Wallonen, mit Letten, Litauern, Weißrussen und weiteren
Polen und endlich mit allen polnischen Juden zu belasten. An dieses liebliche
Bild eines erweiterten Reiches denkt man mit Grausen, indem man jede
Annexion ablehnt.

Allein eine solche Erweiterung des Reichsgebietes, wie sie 1871 durch
Elsaß-Lothringen erfolgte, ist doch nicht der einzige Weg, um dem Reiche die
notwendige Sicherheit zu gewähren. Wenn der Reichskanzler betonte, daß der
künftige Frieden dem Reiche die notwendige Sicherheit bieten müsse, und es
daher weder im Osten noch im Westen einen Status quo ante geben könne,
so erklärte er doch auch andererseits, von einer Annexion Belgiens habe er nie
gesprochen. Beides ist sehr wohl miteinander vereinbar. Ebenso ist die
Beherrschung der neuen Marken jenseits der bisherigen Neichsgrenzen nicht im


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[0303] Deutsche Schutzgebiete in Europa Deutschland wird nach der Erklärung des Reichskanzlers nicht anders Frieden schließen, als daß es alle möglichen Sicherheiten gegen eine künftige Wiederholung des Überfalles vom Sommer 1914 erhält. Diese Sicherheiten bestehen vor allem in Gebietsveränderungen. Nur ein ganz kindliches Gemüt kann sich einen Ausgang des gewaltigen Weltkrieges in der Weise denken, daß alles, was französisch war. wieder französisch, alles, was belgisch war. wieder belgisch wird, man harmlos in den Zustand vom Juli 1914 zurückkehrt, als -ob gar nichts geschehen wäre. Weder im Osten noch im Westen, weder auf dem Balkan noch auf dem Weltmeere gibt es einen Status que» ante. Das einfache Gebot der Sicherheit erfordert, daß die deutschen Grenz¬ lande künftig nicht schutzlos einem feindlichen Einfalle ausgesetzt sind. Dazu muß Deutschland jenseits seiner bisherigen Grenzen in Ost und West Marken bisher feindlichen Gebietes selbst dauernd besetzen. Die Bedürfnisse der deutschen Volkswirtschaft gehen in derselben Richtung, sie erfordern neues Industriegebiet im Westen, neues Landwirtschaftsgebiet im Osten. Wenn man dies auch rückhaltlos anerkennt, so ertönt doch immer wieder das Bedenken des deutschen Philisters. Wir dürfen den festgefügten Organismus des deutschen Nationalstaates nicht durch Angliederung von Fremdkörpern sprengen. Schon haben wir unsere liebe Not mit Polen und Dänen und mit Elsaß'Lothringern, die gelegentlich im Reichstage ein Schauspiel aufführen. Was würde es erst für ein Hexensabbat werden, wenn dazu auf der einen Seite die Belgier, auf der anderen Letten, Litauer und Weißrufsen kämen und womöglich alle in ihren Zungen über deutsche Vergewaltigung zeterten? Da wollen wir doch lieber unter uns bleiben und jene interessanten kleinen Nationen anderen überlassen. War es an sich schon ein Fehler, die Elsaß-Lothringer, die doch in ihrer überwiegenden Mehrheit deutschen Stammes waren, sogleich als Reichsland in den deutschen Reichsverband aufzunehmen, nun gar im Jahre 1911 ihnen eine Verfassung zu geben, die den französischen Separitismus erst recht in die Höhe schießen ließ, so wäre es vollends eine Ungeheuerlichkeit, unseren Reichsverband mit Vlamen und Wallonen, mit Letten, Litauern, Weißrussen und weiteren Polen und endlich mit allen polnischen Juden zu belasten. An dieses liebliche Bild eines erweiterten Reiches denkt man mit Grausen, indem man jede Annexion ablehnt. Allein eine solche Erweiterung des Reichsgebietes, wie sie 1871 durch Elsaß-Lothringen erfolgte, ist doch nicht der einzige Weg, um dem Reiche die notwendige Sicherheit zu gewähren. Wenn der Reichskanzler betonte, daß der künftige Frieden dem Reiche die notwendige Sicherheit bieten müsse, und es daher weder im Osten noch im Westen einen Status quo ante geben könne, so erklärte er doch auch andererseits, von einer Annexion Belgiens habe er nie gesprochen. Beides ist sehr wohl miteinander vereinbar. Ebenso ist die Beherrschung der neuen Marken jenseits der bisherigen Neichsgrenzen nicht im 19»

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_331409/303>, abgerufen am 23.07.2024.