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Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Erstes Vierteljahr.

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Deutsche Schutzgebiete in Europa

Doch es ist nicht nur die geographische Trennung des außerhalb Europas
belegenen Gebietes, wodurch die besondere Schutzgebietsverfassung veranlaßt
wird, sondern die Verschiedenheit der nationalen und kulturellen Verhältnisse
überhaupt. So umfaßte einst die römische Provinzialverfasfung wie die deutsche
Markenverfassung gerade die unmittelbar an das eigene Stammland an¬
grenzenden Gebiete, die man im Interesse der eigenen Sicherheit politisch,
militärisch und wirtschaftlich beherrschen mußte. Die römische Republik machte
sogar noch einen wetteren Unterschied zwischen Klientelstaaten, denen man noch
eigene einheimische Herrscher belassen hatte, und Provinzen, die durch römische
Statthalter regiert wurden, genau so wie das moderne Kolonialrecht zwischen
Protektorat und Kolonie unterscheidet.

In der neueren Zeit ist es namentlich England, das seine Kolonial¬
verwaltung keineswegs auf die ihm untertänigen Länder in fremden Weltteiles
beschränkt, sondern, was meist unbekannt oder unbeachtet ist, eine ganze Reihe
von Kolonien in Europa besitzt. Den Anfang macht die mitten zwischen des
drei vereinigten Königreichen liegende Insel Man mit keltischer Bevölkerung
unter dem Titel eines Königreiches und eigener Verfassung. Daran schließen
sich die normannischen oder Kanalinseln, der letzte Rest der einstigen englischen
Besitzungen auf französischem Boden, auch mit besonderen verfassungsmäßiges
Einrichtungen ausgestattet. Die Felsenfestung Gibraltar ist seit dem Utrechter
Frieden von 1713 englische Kronkolonie. Zeitweise befand sich auch die Insel
Minorka in gleicher Rechtslage. Malta, seit dem Wiener Kongreß von 1815
anerkannt englischer Besitz, wird als englische Kolonie mit Kspresentative
(iovernment regiert. Aus dem europäischen Kolonialbesitze Englands wieder
ausgeschieden sind die Ionischen Inseln, von 1815 bis 1863 ein bundesstaats-
ähnliches Gemeinwesen unter englischer Protektion und 1363 an Griechenland
abgetreten, und Helgoland, das bis 1890 englische Kronkolonie war. Dagegen
wird der Weltkrieg vielleicht die französische Kanalküste mit Calais und Boulogne
dem englischen Kolonialbesitze als unfreiwilliges Geschenk des Ententegenossen
hinzufügen.

Der praktische Sinn des Engländers hat sich nie den Kops darüber zer-'
orochen, wie man solche Besitzungen, die man zur eigenen Sicherheit bedürfte,
regieren sollte, womöglich gar den Erwerb verschmäht, weil man den einheit¬
lichen Organismus des Vereinigten Königreiches nicht durch fremdartige Be¬
völkerungselemente beeinträchtigt wissen wollte. Das Wesentliche war die
politische, militärische und wirtschaftliche Beherrschung des Gebietes. Alles
übrige ergab sich von selbst. In die englische Parlamentsverfassung wurde es
natürlich nicht aufgenommen, daran dachte kein Mensch. Im übrigen gab es
der Angliederungsformen so viele, als das Bedürfnis erforderte, von der ein¬
fachen militärischen Besetzung und Verwaltung bis zur staatenähnlichen Organi¬
sation, von der tyrannischen Unterdrückung der einheimischen Bevölkerung bis
zu ihrer erheuchelten Beschützung gegen fremde Gewalt.


Deutsche Schutzgebiete in Europa

Doch es ist nicht nur die geographische Trennung des außerhalb Europas
belegenen Gebietes, wodurch die besondere Schutzgebietsverfassung veranlaßt
wird, sondern die Verschiedenheit der nationalen und kulturellen Verhältnisse
überhaupt. So umfaßte einst die römische Provinzialverfasfung wie die deutsche
Markenverfassung gerade die unmittelbar an das eigene Stammland an¬
grenzenden Gebiete, die man im Interesse der eigenen Sicherheit politisch,
militärisch und wirtschaftlich beherrschen mußte. Die römische Republik machte
sogar noch einen wetteren Unterschied zwischen Klientelstaaten, denen man noch
eigene einheimische Herrscher belassen hatte, und Provinzen, die durch römische
Statthalter regiert wurden, genau so wie das moderne Kolonialrecht zwischen
Protektorat und Kolonie unterscheidet.

In der neueren Zeit ist es namentlich England, das seine Kolonial¬
verwaltung keineswegs auf die ihm untertänigen Länder in fremden Weltteiles
beschränkt, sondern, was meist unbekannt oder unbeachtet ist, eine ganze Reihe
von Kolonien in Europa besitzt. Den Anfang macht die mitten zwischen des
drei vereinigten Königreichen liegende Insel Man mit keltischer Bevölkerung
unter dem Titel eines Königreiches und eigener Verfassung. Daran schließen
sich die normannischen oder Kanalinseln, der letzte Rest der einstigen englischen
Besitzungen auf französischem Boden, auch mit besonderen verfassungsmäßiges
Einrichtungen ausgestattet. Die Felsenfestung Gibraltar ist seit dem Utrechter
Frieden von 1713 englische Kronkolonie. Zeitweise befand sich auch die Insel
Minorka in gleicher Rechtslage. Malta, seit dem Wiener Kongreß von 1815
anerkannt englischer Besitz, wird als englische Kolonie mit Kspresentative
(iovernment regiert. Aus dem europäischen Kolonialbesitze Englands wieder
ausgeschieden sind die Ionischen Inseln, von 1815 bis 1863 ein bundesstaats-
ähnliches Gemeinwesen unter englischer Protektion und 1363 an Griechenland
abgetreten, und Helgoland, das bis 1890 englische Kronkolonie war. Dagegen
wird der Weltkrieg vielleicht die französische Kanalküste mit Calais und Boulogne
dem englischen Kolonialbesitze als unfreiwilliges Geschenk des Ententegenossen
hinzufügen.

Der praktische Sinn des Engländers hat sich nie den Kops darüber zer-'
orochen, wie man solche Besitzungen, die man zur eigenen Sicherheit bedürfte,
regieren sollte, womöglich gar den Erwerb verschmäht, weil man den einheit¬
lichen Organismus des Vereinigten Königreiches nicht durch fremdartige Be¬
völkerungselemente beeinträchtigt wissen wollte. Das Wesentliche war die
politische, militärische und wirtschaftliche Beherrschung des Gebietes. Alles
übrige ergab sich von selbst. In die englische Parlamentsverfassung wurde es
natürlich nicht aufgenommen, daran dachte kein Mensch. Im übrigen gab es
der Angliederungsformen so viele, als das Bedürfnis erforderte, von der ein¬
fachen militärischen Besetzung und Verwaltung bis zur staatenähnlichen Organi¬
sation, von der tyrannischen Unterdrückung der einheimischen Bevölkerung bis
zu ihrer erheuchelten Beschützung gegen fremde Gewalt.


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[0302] Deutsche Schutzgebiete in Europa Doch es ist nicht nur die geographische Trennung des außerhalb Europas belegenen Gebietes, wodurch die besondere Schutzgebietsverfassung veranlaßt wird, sondern die Verschiedenheit der nationalen und kulturellen Verhältnisse überhaupt. So umfaßte einst die römische Provinzialverfasfung wie die deutsche Markenverfassung gerade die unmittelbar an das eigene Stammland an¬ grenzenden Gebiete, die man im Interesse der eigenen Sicherheit politisch, militärisch und wirtschaftlich beherrschen mußte. Die römische Republik machte sogar noch einen wetteren Unterschied zwischen Klientelstaaten, denen man noch eigene einheimische Herrscher belassen hatte, und Provinzen, die durch römische Statthalter regiert wurden, genau so wie das moderne Kolonialrecht zwischen Protektorat und Kolonie unterscheidet. In der neueren Zeit ist es namentlich England, das seine Kolonial¬ verwaltung keineswegs auf die ihm untertänigen Länder in fremden Weltteiles beschränkt, sondern, was meist unbekannt oder unbeachtet ist, eine ganze Reihe von Kolonien in Europa besitzt. Den Anfang macht die mitten zwischen des drei vereinigten Königreichen liegende Insel Man mit keltischer Bevölkerung unter dem Titel eines Königreiches und eigener Verfassung. Daran schließen sich die normannischen oder Kanalinseln, der letzte Rest der einstigen englischen Besitzungen auf französischem Boden, auch mit besonderen verfassungsmäßiges Einrichtungen ausgestattet. Die Felsenfestung Gibraltar ist seit dem Utrechter Frieden von 1713 englische Kronkolonie. Zeitweise befand sich auch die Insel Minorka in gleicher Rechtslage. Malta, seit dem Wiener Kongreß von 1815 anerkannt englischer Besitz, wird als englische Kolonie mit Kspresentative (iovernment regiert. Aus dem europäischen Kolonialbesitze Englands wieder ausgeschieden sind die Ionischen Inseln, von 1815 bis 1863 ein bundesstaats- ähnliches Gemeinwesen unter englischer Protektion und 1363 an Griechenland abgetreten, und Helgoland, das bis 1890 englische Kronkolonie war. Dagegen wird der Weltkrieg vielleicht die französische Kanalküste mit Calais und Boulogne dem englischen Kolonialbesitze als unfreiwilliges Geschenk des Ententegenossen hinzufügen. Der praktische Sinn des Engländers hat sich nie den Kops darüber zer-' orochen, wie man solche Besitzungen, die man zur eigenen Sicherheit bedürfte, regieren sollte, womöglich gar den Erwerb verschmäht, weil man den einheit¬ lichen Organismus des Vereinigten Königreiches nicht durch fremdartige Be¬ völkerungselemente beeinträchtigt wissen wollte. Das Wesentliche war die politische, militärische und wirtschaftliche Beherrschung des Gebietes. Alles übrige ergab sich von selbst. In die englische Parlamentsverfassung wurde es natürlich nicht aufgenommen, daran dachte kein Mensch. Im übrigen gab es der Angliederungsformen so viele, als das Bedürfnis erforderte, von der ein¬ fachen militärischen Besetzung und Verwaltung bis zur staatenähnlichen Organi¬ sation, von der tyrannischen Unterdrückung der einheimischen Bevölkerung bis zu ihrer erheuchelten Beschützung gegen fremde Gewalt.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_331409/302>, abgerufen am 23.07.2024.