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Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Erstes Vierteljahr.

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Der Polen Volkszahl und Sprachgebiet im russischen Anteil

schicht von Großgrundbesitzern, Kaufleuten und Studierten sich zum Polentum
bekennen wird.

Wie schwach sind dort nicht schon heute in den Städten die polnischen
Erwerbsstände, Kaufleute und Handwerker, und die freien Berufe, wie ohn¬
mächtig gegenüber dem jüdischen Mitbewerbe! Es ist bekannt und braucht
nicht mit Zahlen belegt zu werden, daß die so zahlreiche Judenschaft (3^/z Mill.)
im ganzen Westgebiet den Mittelstand und einen ungewöhnlich hohen Prozentsatz
der Städter bildet, in den kleineren der 121 Städte überwiegt, aber auch in
den 25 größeren fast die Hälfte (47 Prozent) der Einwohner stellt.

Nur in Wilna, der Hauptstadt Litauens, das durch Jahrhunderte das
Zentrum des polnischen geistigen und wirtschaftlichen Lebens mitten in litauisch-
weißrussisch - jüdischem Lande war, sind Zahl und Einfluß der Polen relativ
beträchtlich; vor dem Kriege stellten sie nach einer polnischen Quelle 31, im
März 1916 sogar 50 Prozent der freilich stark zusammengeschmolzenen Stadt¬
bevölkerung (137000 über zehn Jahre). Montwills "Wilnaer Agrarbank"
versucht seit Jahrzehnten von dort aus, den polnischen Großgrundbesitz der
Diaspora lebens- und leistungsfähig zu erhalten; die polnische Intelligenz ist
dort eifrig bestrebt, das polnische Geistesleben, das in den Jünglingsjahren
des Adam Mickiewicz in Litauen so rege war und noch zur Zeit des Auf¬
standes von 1863 die aufwärts strebende Jugend Litauens in seinem Bann¬
kreis hielt, neu zu erwecken, um den verloren gegangenen Einfluß auf Litauer.
Weißrussen und Juden wieder zu gewinnen. Diesem Zwecke dient feit Jahres¬
frist der Dziennik Wilenski, die Gründung polnischer Schulen und das Be¬
mühen um Reaktiv ierung der Wilnaer Universität. In Wilna gibt es nach
polnischen Blättern bereits vier polnische Gymnasien, achtundvierzig private
Elementatschulen, vier städtische Schulen, zwei Handelsschüler, ferner Hand¬
werker-. Fortbildungsschulen und Analphabetenkurse. Im Gouvernement Wilna
(mit 158000 Polen) seien bis jetzt zweihundert polnische Volksschulen gegründet
worden, ebenso sei im Gouvernement Grodno die polnische Aufklärungsbewegung
sehr stark.

Daß die Blütenträume, die sich an diese rastlose Tätigkeit knüpfen, sämt¬
lich reifen werden, ist trotzdem unwahrscheinlich. Die Ureinwohner des West¬
gebiets sind von gleich großem Bildungseifer beseelt; was die Zeiten der pol¬
nischen Kultur und der russischen Barbarei ihnen an Bildung vorenthalten
haben, das möchten sie jetzt in kürzester Frist sich aneignen; sie erhalten es
und nehmen es gerne aus deutscher, nicht aus polnischer Hand; die humane
deutsche Verwaltung errichtet für sie Volksschulen mit ihrer Muttersprache als
Unterrichtssprache und sichert so ihren nationalen Bestand. Von den Bestrebungen
der Ukrainer und der Litauer, ihr Volkstum zu erhalten und zu fördern, war
schon vor dem Kriege die Kunde nach Deutschland gedrungen; von denen der
Weißrussen hören wir jetzt zum erstenmal. Man unterschätze diese Bewegung
nicht! Gewiß, dieses Volk wurde bisher durch großrussische Bedrückung in seiner


Der Polen Volkszahl und Sprachgebiet im russischen Anteil

schicht von Großgrundbesitzern, Kaufleuten und Studierten sich zum Polentum
bekennen wird.

Wie schwach sind dort nicht schon heute in den Städten die polnischen
Erwerbsstände, Kaufleute und Handwerker, und die freien Berufe, wie ohn¬
mächtig gegenüber dem jüdischen Mitbewerbe! Es ist bekannt und braucht
nicht mit Zahlen belegt zu werden, daß die so zahlreiche Judenschaft (3^/z Mill.)
im ganzen Westgebiet den Mittelstand und einen ungewöhnlich hohen Prozentsatz
der Städter bildet, in den kleineren der 121 Städte überwiegt, aber auch in
den 25 größeren fast die Hälfte (47 Prozent) der Einwohner stellt.

Nur in Wilna, der Hauptstadt Litauens, das durch Jahrhunderte das
Zentrum des polnischen geistigen und wirtschaftlichen Lebens mitten in litauisch-
weißrussisch - jüdischem Lande war, sind Zahl und Einfluß der Polen relativ
beträchtlich; vor dem Kriege stellten sie nach einer polnischen Quelle 31, im
März 1916 sogar 50 Prozent der freilich stark zusammengeschmolzenen Stadt¬
bevölkerung (137000 über zehn Jahre). Montwills „Wilnaer Agrarbank"
versucht seit Jahrzehnten von dort aus, den polnischen Großgrundbesitz der
Diaspora lebens- und leistungsfähig zu erhalten; die polnische Intelligenz ist
dort eifrig bestrebt, das polnische Geistesleben, das in den Jünglingsjahren
des Adam Mickiewicz in Litauen so rege war und noch zur Zeit des Auf¬
standes von 1863 die aufwärts strebende Jugend Litauens in seinem Bann¬
kreis hielt, neu zu erwecken, um den verloren gegangenen Einfluß auf Litauer.
Weißrussen und Juden wieder zu gewinnen. Diesem Zwecke dient feit Jahres¬
frist der Dziennik Wilenski, die Gründung polnischer Schulen und das Be¬
mühen um Reaktiv ierung der Wilnaer Universität. In Wilna gibt es nach
polnischen Blättern bereits vier polnische Gymnasien, achtundvierzig private
Elementatschulen, vier städtische Schulen, zwei Handelsschüler, ferner Hand¬
werker-. Fortbildungsschulen und Analphabetenkurse. Im Gouvernement Wilna
(mit 158000 Polen) seien bis jetzt zweihundert polnische Volksschulen gegründet
worden, ebenso sei im Gouvernement Grodno die polnische Aufklärungsbewegung
sehr stark.

Daß die Blütenträume, die sich an diese rastlose Tätigkeit knüpfen, sämt¬
lich reifen werden, ist trotzdem unwahrscheinlich. Die Ureinwohner des West¬
gebiets sind von gleich großem Bildungseifer beseelt; was die Zeiten der pol¬
nischen Kultur und der russischen Barbarei ihnen an Bildung vorenthalten
haben, das möchten sie jetzt in kürzester Frist sich aneignen; sie erhalten es
und nehmen es gerne aus deutscher, nicht aus polnischer Hand; die humane
deutsche Verwaltung errichtet für sie Volksschulen mit ihrer Muttersprache als
Unterrichtssprache und sichert so ihren nationalen Bestand. Von den Bestrebungen
der Ukrainer und der Litauer, ihr Volkstum zu erhalten und zu fördern, war
schon vor dem Kriege die Kunde nach Deutschland gedrungen; von denen der
Weißrussen hören wir jetzt zum erstenmal. Man unterschätze diese Bewegung
nicht! Gewiß, dieses Volk wurde bisher durch großrussische Bedrückung in seiner


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[0278] Der Polen Volkszahl und Sprachgebiet im russischen Anteil schicht von Großgrundbesitzern, Kaufleuten und Studierten sich zum Polentum bekennen wird. Wie schwach sind dort nicht schon heute in den Städten die polnischen Erwerbsstände, Kaufleute und Handwerker, und die freien Berufe, wie ohn¬ mächtig gegenüber dem jüdischen Mitbewerbe! Es ist bekannt und braucht nicht mit Zahlen belegt zu werden, daß die so zahlreiche Judenschaft (3^/z Mill.) im ganzen Westgebiet den Mittelstand und einen ungewöhnlich hohen Prozentsatz der Städter bildet, in den kleineren der 121 Städte überwiegt, aber auch in den 25 größeren fast die Hälfte (47 Prozent) der Einwohner stellt. Nur in Wilna, der Hauptstadt Litauens, das durch Jahrhunderte das Zentrum des polnischen geistigen und wirtschaftlichen Lebens mitten in litauisch- weißrussisch - jüdischem Lande war, sind Zahl und Einfluß der Polen relativ beträchtlich; vor dem Kriege stellten sie nach einer polnischen Quelle 31, im März 1916 sogar 50 Prozent der freilich stark zusammengeschmolzenen Stadt¬ bevölkerung (137000 über zehn Jahre). Montwills „Wilnaer Agrarbank" versucht seit Jahrzehnten von dort aus, den polnischen Großgrundbesitz der Diaspora lebens- und leistungsfähig zu erhalten; die polnische Intelligenz ist dort eifrig bestrebt, das polnische Geistesleben, das in den Jünglingsjahren des Adam Mickiewicz in Litauen so rege war und noch zur Zeit des Auf¬ standes von 1863 die aufwärts strebende Jugend Litauens in seinem Bann¬ kreis hielt, neu zu erwecken, um den verloren gegangenen Einfluß auf Litauer. Weißrussen und Juden wieder zu gewinnen. Diesem Zwecke dient feit Jahres¬ frist der Dziennik Wilenski, die Gründung polnischer Schulen und das Be¬ mühen um Reaktiv ierung der Wilnaer Universität. In Wilna gibt es nach polnischen Blättern bereits vier polnische Gymnasien, achtundvierzig private Elementatschulen, vier städtische Schulen, zwei Handelsschüler, ferner Hand¬ werker-. Fortbildungsschulen und Analphabetenkurse. Im Gouvernement Wilna (mit 158000 Polen) seien bis jetzt zweihundert polnische Volksschulen gegründet worden, ebenso sei im Gouvernement Grodno die polnische Aufklärungsbewegung sehr stark. Daß die Blütenträume, die sich an diese rastlose Tätigkeit knüpfen, sämt¬ lich reifen werden, ist trotzdem unwahrscheinlich. Die Ureinwohner des West¬ gebiets sind von gleich großem Bildungseifer beseelt; was die Zeiten der pol¬ nischen Kultur und der russischen Barbarei ihnen an Bildung vorenthalten haben, das möchten sie jetzt in kürzester Frist sich aneignen; sie erhalten es und nehmen es gerne aus deutscher, nicht aus polnischer Hand; die humane deutsche Verwaltung errichtet für sie Volksschulen mit ihrer Muttersprache als Unterrichtssprache und sichert so ihren nationalen Bestand. Von den Bestrebungen der Ukrainer und der Litauer, ihr Volkstum zu erhalten und zu fördern, war schon vor dem Kriege die Kunde nach Deutschland gedrungen; von denen der Weißrussen hören wir jetzt zum erstenmal. Man unterschätze diese Bewegung nicht! Gewiß, dieses Volk wurde bisher durch großrussische Bedrückung in seiner

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_331409/278>, abgerufen am 01.10.2024.