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Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Erstes Vierteljahr.

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Der Krieg als Vermittler

feste Organisation für das geistige Leben eines Volkes habe, und man ahnte
wohl, welch ein Schaden es wäre, wenn dieses in Jahrhunderten gewordene
Gebäude zertrümmert würde, ehe man wirklich etwas Gleichwertiges, ebenso
Dauerhaftes an die Stelle zu setzen hätte.

Zum andern empfand man es, welch ein Wert in dem Begriff "Gemeinde"
enthalten ist. Die unkirchliche Frömmigkeit war im allgemeinen "fubjektivistisch".
Jeder glaubte, "nach seiner Fa?on" selig werden zu können. Jeder dachte,
seine religiösen Bedürfnisse gingen niemand sonst etwas an. Der Grundsatz:
"Religion ist Privatsache" galt auch für diese außerkirchliche Frömmigkeit. Jetzt
fühlte man mit einem Male die große Kraft, die aus gemeinsamer Andacht
strömt. Der einzelne saß als Glied eines größeren Ganzen in überfüllter
Kirche oder stand draußen im Felde zusammen mit vielen Kameraden vor dem
Feldaltar. Man fühlte, daß alle die andern Gleiches dachten und empfanden
und suchten, wie man selbst. Wie ergreifend klangen die Lieder, in denen die
gemeinsamen Gedanken und Gefühle, Sorgen und Hoffnungen laut wurden!
Es war, als ob aus dieser Gemeinschaft neue wunderbare Kraft ausströmte,
die den einzelnen innerlich hob und stärkte, wie man es nie zuvor empfunden,
wenn man sich in der Einsamkeit religiösen Stimmungen hingegeben hatte.
Für manchen ist solch ein Gottesdienst zu einem unvergeßlichen Erlebnis, ja
wohl gar zu einer Offenbarung geworden, die ihm die Bedeutung des christlichen
Gemeindelebens wieder klar zum Bewußtsein brachte.

Dazu kam noch ein drittes: Es wuchs auch in vielen Herzen wieder das
Verständnis für die tiefen Wahrheiten, die in den Lehrsätzen der Kirchenlehre
enthalten sind. Der Glaube an einen persönlichen Gott, in dessen Hand unser
aller Leben ruht, wie das Schicksal der Völker, die Liebe zu den Brüdern, die
sich im Mitgefühl, in helfender Liebe, in der Opferwilligkeit für andere äußern
foll, die Hoffnung auf ein ewiges Leben, das alles ward wieder als tiefe,
heilige Wahrheit geahnt und empfunden von so vielen, die bis dahin an diesen
Begriffen achtlos und geringschätzig vorüber gegangen waren. Aber auch die
Lehre vom stellvertretenden Leiden, von der Bedeutung des Opfers, das in der
Hingabe der ganzen Persönlichkeit an ein hohes Ideal besteht, wurde durch die
Erlebnisse des Krieges von neuem ins Licht gestellt. Man begriff wieder, daß
die dienende Liebe etwas Großes und Edles ist, und daß es das Größte und
Höchste ist, das Leben hinzugeben für die Brüder. So trat das Starke.
Männliche, Heldenhafte wieder mehr hervor, das in der Persönlichkeit Jesu liegt
und vor allem in seinem Leiden und Sterben sich offenbart. Und die Lehre
von der Sünde und Schuld? Hat nicht auch sie wieder ein besseres Verständnis
gefunden auch unter solchen, denen das Predigen über die Sünde besonders
zuwider war? Man spürte ja selbst so recht die unheimliche und verhängnis¬
volle Macht der Sünde: die Macht der Lüge, der Verleumdung, des Hasses,
der Unbarmherzigkeit, der Selbstsucht, des Mammonsinnes, der Genußsucht,
der Oberflächlichkeit, der Unzucht. Man fühlte, daß Völker und Menschen, die


Der Krieg als Vermittler

feste Organisation für das geistige Leben eines Volkes habe, und man ahnte
wohl, welch ein Schaden es wäre, wenn dieses in Jahrhunderten gewordene
Gebäude zertrümmert würde, ehe man wirklich etwas Gleichwertiges, ebenso
Dauerhaftes an die Stelle zu setzen hätte.

Zum andern empfand man es, welch ein Wert in dem Begriff „Gemeinde"
enthalten ist. Die unkirchliche Frömmigkeit war im allgemeinen „fubjektivistisch".
Jeder glaubte, „nach seiner Fa?on" selig werden zu können. Jeder dachte,
seine religiösen Bedürfnisse gingen niemand sonst etwas an. Der Grundsatz:
„Religion ist Privatsache" galt auch für diese außerkirchliche Frömmigkeit. Jetzt
fühlte man mit einem Male die große Kraft, die aus gemeinsamer Andacht
strömt. Der einzelne saß als Glied eines größeren Ganzen in überfüllter
Kirche oder stand draußen im Felde zusammen mit vielen Kameraden vor dem
Feldaltar. Man fühlte, daß alle die andern Gleiches dachten und empfanden
und suchten, wie man selbst. Wie ergreifend klangen die Lieder, in denen die
gemeinsamen Gedanken und Gefühle, Sorgen und Hoffnungen laut wurden!
Es war, als ob aus dieser Gemeinschaft neue wunderbare Kraft ausströmte,
die den einzelnen innerlich hob und stärkte, wie man es nie zuvor empfunden,
wenn man sich in der Einsamkeit religiösen Stimmungen hingegeben hatte.
Für manchen ist solch ein Gottesdienst zu einem unvergeßlichen Erlebnis, ja
wohl gar zu einer Offenbarung geworden, die ihm die Bedeutung des christlichen
Gemeindelebens wieder klar zum Bewußtsein brachte.

Dazu kam noch ein drittes: Es wuchs auch in vielen Herzen wieder das
Verständnis für die tiefen Wahrheiten, die in den Lehrsätzen der Kirchenlehre
enthalten sind. Der Glaube an einen persönlichen Gott, in dessen Hand unser
aller Leben ruht, wie das Schicksal der Völker, die Liebe zu den Brüdern, die
sich im Mitgefühl, in helfender Liebe, in der Opferwilligkeit für andere äußern
foll, die Hoffnung auf ein ewiges Leben, das alles ward wieder als tiefe,
heilige Wahrheit geahnt und empfunden von so vielen, die bis dahin an diesen
Begriffen achtlos und geringschätzig vorüber gegangen waren. Aber auch die
Lehre vom stellvertretenden Leiden, von der Bedeutung des Opfers, das in der
Hingabe der ganzen Persönlichkeit an ein hohes Ideal besteht, wurde durch die
Erlebnisse des Krieges von neuem ins Licht gestellt. Man begriff wieder, daß
die dienende Liebe etwas Großes und Edles ist, und daß es das Größte und
Höchste ist, das Leben hinzugeben für die Brüder. So trat das Starke.
Männliche, Heldenhafte wieder mehr hervor, das in der Persönlichkeit Jesu liegt
und vor allem in seinem Leiden und Sterben sich offenbart. Und die Lehre
von der Sünde und Schuld? Hat nicht auch sie wieder ein besseres Verständnis
gefunden auch unter solchen, denen das Predigen über die Sünde besonders
zuwider war? Man spürte ja selbst so recht die unheimliche und verhängnis¬
volle Macht der Sünde: die Macht der Lüge, der Verleumdung, des Hasses,
der Unbarmherzigkeit, der Selbstsucht, des Mammonsinnes, der Genußsucht,
der Oberflächlichkeit, der Unzucht. Man fühlte, daß Völker und Menschen, die


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[0258] Der Krieg als Vermittler feste Organisation für das geistige Leben eines Volkes habe, und man ahnte wohl, welch ein Schaden es wäre, wenn dieses in Jahrhunderten gewordene Gebäude zertrümmert würde, ehe man wirklich etwas Gleichwertiges, ebenso Dauerhaftes an die Stelle zu setzen hätte. Zum andern empfand man es, welch ein Wert in dem Begriff „Gemeinde" enthalten ist. Die unkirchliche Frömmigkeit war im allgemeinen „fubjektivistisch". Jeder glaubte, „nach seiner Fa?on" selig werden zu können. Jeder dachte, seine religiösen Bedürfnisse gingen niemand sonst etwas an. Der Grundsatz: „Religion ist Privatsache" galt auch für diese außerkirchliche Frömmigkeit. Jetzt fühlte man mit einem Male die große Kraft, die aus gemeinsamer Andacht strömt. Der einzelne saß als Glied eines größeren Ganzen in überfüllter Kirche oder stand draußen im Felde zusammen mit vielen Kameraden vor dem Feldaltar. Man fühlte, daß alle die andern Gleiches dachten und empfanden und suchten, wie man selbst. Wie ergreifend klangen die Lieder, in denen die gemeinsamen Gedanken und Gefühle, Sorgen und Hoffnungen laut wurden! Es war, als ob aus dieser Gemeinschaft neue wunderbare Kraft ausströmte, die den einzelnen innerlich hob und stärkte, wie man es nie zuvor empfunden, wenn man sich in der Einsamkeit religiösen Stimmungen hingegeben hatte. Für manchen ist solch ein Gottesdienst zu einem unvergeßlichen Erlebnis, ja wohl gar zu einer Offenbarung geworden, die ihm die Bedeutung des christlichen Gemeindelebens wieder klar zum Bewußtsein brachte. Dazu kam noch ein drittes: Es wuchs auch in vielen Herzen wieder das Verständnis für die tiefen Wahrheiten, die in den Lehrsätzen der Kirchenlehre enthalten sind. Der Glaube an einen persönlichen Gott, in dessen Hand unser aller Leben ruht, wie das Schicksal der Völker, die Liebe zu den Brüdern, die sich im Mitgefühl, in helfender Liebe, in der Opferwilligkeit für andere äußern foll, die Hoffnung auf ein ewiges Leben, das alles ward wieder als tiefe, heilige Wahrheit geahnt und empfunden von so vielen, die bis dahin an diesen Begriffen achtlos und geringschätzig vorüber gegangen waren. Aber auch die Lehre vom stellvertretenden Leiden, von der Bedeutung des Opfers, das in der Hingabe der ganzen Persönlichkeit an ein hohes Ideal besteht, wurde durch die Erlebnisse des Krieges von neuem ins Licht gestellt. Man begriff wieder, daß die dienende Liebe etwas Großes und Edles ist, und daß es das Größte und Höchste ist, das Leben hinzugeben für die Brüder. So trat das Starke. Männliche, Heldenhafte wieder mehr hervor, das in der Persönlichkeit Jesu liegt und vor allem in seinem Leiden und Sterben sich offenbart. Und die Lehre von der Sünde und Schuld? Hat nicht auch sie wieder ein besseres Verständnis gefunden auch unter solchen, denen das Predigen über die Sünde besonders zuwider war? Man spürte ja selbst so recht die unheimliche und verhängnis¬ volle Macht der Sünde: die Macht der Lüge, der Verleumdung, des Hasses, der Unbarmherzigkeit, der Selbstsucht, des Mammonsinnes, der Genußsucht, der Oberflächlichkeit, der Unzucht. Man fühlte, daß Völker und Menschen, die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_331409/258>, abgerufen am 23.07.2024.