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Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Erstes Vierteljahr.

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Zum Kampfe um das Bildungsideal

er zunächst den Gegensatz zwischen einst und jetzt möglichst stark auf: dann
aber bringt er ihnen durch eine geschichtliche Betrachtung großen Stils die
höhere Einheit in der ganzen Bewegung zum Bewußtsein. Uns mag es er¬
laubt sein, den letzteren Punkt in den Vordergrund zu rücken.

Wäre der "deutsche Idealismus" wirklich nichts als eine philosophische
Richtung, die sich von der Wirklichkeit und ihren Forderungen hochmütig oder
gleichgültig abkehrte, um in erhabener Einsamkeit und mit starrem Blick auf
ein Ideenreich jenseits aller Erfahrung den jungen Bürger zum bestimmungs-
und charakterlosen "reinen Menschentum" zu erziehen, so stände es freilich
schlimm, wenn wir bei ihm wieder anknüpfen wollten, um der Jugend eine
deutsche Erziehung im höchsten Sinne zu geben. Aber schon ein oberflächlicher
Blick auf das, was wir in der Kulturgeschichte alles unter jenem Namen zu¬
sammenfassen, mag den Irrtum solcher Auffassung beleuchten: da stehen neben¬
einander Kant und Fichte, Schelling und Hegel, Schleiermacher und Lotze, und
als Vater der ganzen Bewegung Leibniz, als kräftige Anreger aus der Fremde
Rousseau und Shaftesbury; da blicken wir auf die letzten Ausläufer der Auf¬
klärung und des Pietismus, auf die tändelnde Anakreontik. in die scharfe
Klarheit Lessings und in das mystische Dunkel Hamanns, da atmen wir die
Freiheitsluft des Sturmes und Dranges und den kühnen Schönheitsdrang eines
Heinse, da sehen wir die Klassiker um die Formung ungebändigter Triebe
ringen und bald an Shakespeare, bald an die Griechen sich anlehnen, da suchen
die Romantiker nach der blauen Blume und verlieren sich bald in berauschenden
Weihrauchnebel, bald in einer wunderlich zusammengebrauten Vorstellung von
deutscher Vorzeit: und aus dem ganzen Wirrsal heraus tönen wie schmetternde
Fanfaren Heinrich von Kleists Rufe nach der Freiheit des Vaterlandes, nach
der straffen Zucht preußischen Gehorsams. Und doch in dem scheinbar ver¬
wirrenden Durcheinander ein Geist, eine Grundrichtung: sie alle lehnen sich auf
gegen den materialistischen Geist, dem die französische und schließlich auch die
englische Aufklärung verfallen waren, sie alle leben des Glaubens, das All sei
mehr als eine Summe von toten Atomen und der Strom des Lebens mehr
als eine Summe von Bewegungen solcher Massenteilchen. Die Welt ist kein
Uhrwerk, sie hat auch einen Sinn. Und diesem Sinn des Lebens nachzutrachten,
ihn nachzuerleben, das Unaussprechliche in den kühnen Gedankenbauten philo¬
sophischer Systeme, in den Gebilden der schöpferischen Phantasie und durch die
Macht der Töne auszudrücken, das ist es, was sie alle im letzten Grunde beseelt:
in dieser Weise wollen sie denn freilich "menschlich" sein und zu einer "Huma¬
nität" erziehen, die allenthalben menschliche Werte unternimmt und in ihrer Hin¬
gabe an das belebte Ganze die eigene Menschlichkeit wachsen fühlt. Über tausend
Einzelheiten werden wir heut anders urteilen, als jene Zeit und ihre besten
Söhne. Aber ihre Grundüberzeugung wäre darum die unsere nicht mehr? Und
diese Fülle der Aufnahmefähigkeit und Gestaltungskraft sollten wir uns nicht
zurückwünschen? Wir müßten damit uns selbst verleugnen, um als Sklaven


Zum Kampfe um das Bildungsideal

er zunächst den Gegensatz zwischen einst und jetzt möglichst stark auf: dann
aber bringt er ihnen durch eine geschichtliche Betrachtung großen Stils die
höhere Einheit in der ganzen Bewegung zum Bewußtsein. Uns mag es er¬
laubt sein, den letzteren Punkt in den Vordergrund zu rücken.

Wäre der „deutsche Idealismus" wirklich nichts als eine philosophische
Richtung, die sich von der Wirklichkeit und ihren Forderungen hochmütig oder
gleichgültig abkehrte, um in erhabener Einsamkeit und mit starrem Blick auf
ein Ideenreich jenseits aller Erfahrung den jungen Bürger zum bestimmungs-
und charakterlosen „reinen Menschentum" zu erziehen, so stände es freilich
schlimm, wenn wir bei ihm wieder anknüpfen wollten, um der Jugend eine
deutsche Erziehung im höchsten Sinne zu geben. Aber schon ein oberflächlicher
Blick auf das, was wir in der Kulturgeschichte alles unter jenem Namen zu¬
sammenfassen, mag den Irrtum solcher Auffassung beleuchten: da stehen neben¬
einander Kant und Fichte, Schelling und Hegel, Schleiermacher und Lotze, und
als Vater der ganzen Bewegung Leibniz, als kräftige Anreger aus der Fremde
Rousseau und Shaftesbury; da blicken wir auf die letzten Ausläufer der Auf¬
klärung und des Pietismus, auf die tändelnde Anakreontik. in die scharfe
Klarheit Lessings und in das mystische Dunkel Hamanns, da atmen wir die
Freiheitsluft des Sturmes und Dranges und den kühnen Schönheitsdrang eines
Heinse, da sehen wir die Klassiker um die Formung ungebändigter Triebe
ringen und bald an Shakespeare, bald an die Griechen sich anlehnen, da suchen
die Romantiker nach der blauen Blume und verlieren sich bald in berauschenden
Weihrauchnebel, bald in einer wunderlich zusammengebrauten Vorstellung von
deutscher Vorzeit: und aus dem ganzen Wirrsal heraus tönen wie schmetternde
Fanfaren Heinrich von Kleists Rufe nach der Freiheit des Vaterlandes, nach
der straffen Zucht preußischen Gehorsams. Und doch in dem scheinbar ver¬
wirrenden Durcheinander ein Geist, eine Grundrichtung: sie alle lehnen sich auf
gegen den materialistischen Geist, dem die französische und schließlich auch die
englische Aufklärung verfallen waren, sie alle leben des Glaubens, das All sei
mehr als eine Summe von toten Atomen und der Strom des Lebens mehr
als eine Summe von Bewegungen solcher Massenteilchen. Die Welt ist kein
Uhrwerk, sie hat auch einen Sinn. Und diesem Sinn des Lebens nachzutrachten,
ihn nachzuerleben, das Unaussprechliche in den kühnen Gedankenbauten philo¬
sophischer Systeme, in den Gebilden der schöpferischen Phantasie und durch die
Macht der Töne auszudrücken, das ist es, was sie alle im letzten Grunde beseelt:
in dieser Weise wollen sie denn freilich „menschlich" sein und zu einer „Huma¬
nität" erziehen, die allenthalben menschliche Werte unternimmt und in ihrer Hin¬
gabe an das belebte Ganze die eigene Menschlichkeit wachsen fühlt. Über tausend
Einzelheiten werden wir heut anders urteilen, als jene Zeit und ihre besten
Söhne. Aber ihre Grundüberzeugung wäre darum die unsere nicht mehr? Und
diese Fülle der Aufnahmefähigkeit und Gestaltungskraft sollten wir uns nicht
zurückwünschen? Wir müßten damit uns selbst verleugnen, um als Sklaven


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[0023] Zum Kampfe um das Bildungsideal er zunächst den Gegensatz zwischen einst und jetzt möglichst stark auf: dann aber bringt er ihnen durch eine geschichtliche Betrachtung großen Stils die höhere Einheit in der ganzen Bewegung zum Bewußtsein. Uns mag es er¬ laubt sein, den letzteren Punkt in den Vordergrund zu rücken. Wäre der „deutsche Idealismus" wirklich nichts als eine philosophische Richtung, die sich von der Wirklichkeit und ihren Forderungen hochmütig oder gleichgültig abkehrte, um in erhabener Einsamkeit und mit starrem Blick auf ein Ideenreich jenseits aller Erfahrung den jungen Bürger zum bestimmungs- und charakterlosen „reinen Menschentum" zu erziehen, so stände es freilich schlimm, wenn wir bei ihm wieder anknüpfen wollten, um der Jugend eine deutsche Erziehung im höchsten Sinne zu geben. Aber schon ein oberflächlicher Blick auf das, was wir in der Kulturgeschichte alles unter jenem Namen zu¬ sammenfassen, mag den Irrtum solcher Auffassung beleuchten: da stehen neben¬ einander Kant und Fichte, Schelling und Hegel, Schleiermacher und Lotze, und als Vater der ganzen Bewegung Leibniz, als kräftige Anreger aus der Fremde Rousseau und Shaftesbury; da blicken wir auf die letzten Ausläufer der Auf¬ klärung und des Pietismus, auf die tändelnde Anakreontik. in die scharfe Klarheit Lessings und in das mystische Dunkel Hamanns, da atmen wir die Freiheitsluft des Sturmes und Dranges und den kühnen Schönheitsdrang eines Heinse, da sehen wir die Klassiker um die Formung ungebändigter Triebe ringen und bald an Shakespeare, bald an die Griechen sich anlehnen, da suchen die Romantiker nach der blauen Blume und verlieren sich bald in berauschenden Weihrauchnebel, bald in einer wunderlich zusammengebrauten Vorstellung von deutscher Vorzeit: und aus dem ganzen Wirrsal heraus tönen wie schmetternde Fanfaren Heinrich von Kleists Rufe nach der Freiheit des Vaterlandes, nach der straffen Zucht preußischen Gehorsams. Und doch in dem scheinbar ver¬ wirrenden Durcheinander ein Geist, eine Grundrichtung: sie alle lehnen sich auf gegen den materialistischen Geist, dem die französische und schließlich auch die englische Aufklärung verfallen waren, sie alle leben des Glaubens, das All sei mehr als eine Summe von toten Atomen und der Strom des Lebens mehr als eine Summe von Bewegungen solcher Massenteilchen. Die Welt ist kein Uhrwerk, sie hat auch einen Sinn. Und diesem Sinn des Lebens nachzutrachten, ihn nachzuerleben, das Unaussprechliche in den kühnen Gedankenbauten philo¬ sophischer Systeme, in den Gebilden der schöpferischen Phantasie und durch die Macht der Töne auszudrücken, das ist es, was sie alle im letzten Grunde beseelt: in dieser Weise wollen sie denn freilich „menschlich" sein und zu einer „Huma¬ nität" erziehen, die allenthalben menschliche Werte unternimmt und in ihrer Hin¬ gabe an das belebte Ganze die eigene Menschlichkeit wachsen fühlt. Über tausend Einzelheiten werden wir heut anders urteilen, als jene Zeit und ihre besten Söhne. Aber ihre Grundüberzeugung wäre darum die unsere nicht mehr? Und diese Fülle der Aufnahmefähigkeit und Gestaltungskraft sollten wir uns nicht zurückwünschen? Wir müßten damit uns selbst verleugnen, um als Sklaven

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_331409/23>, abgerufen am 23.07.2024.