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Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Erstes Vierteljahr.

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Natürliche Grenzen und Sprachgrenzen

künftigen Besitzer dieser Gebiete in die Lage versetzt, sie seinem Sprachgebiet
in absehbarer Zeit einzufügen. Auch freiwillige Völkerwanderungen kommen
noch vor, wie sie der Bukarester Frieden unter den europäischen Türken
hervorrief.

So sehen wir also die Sprachgrenze in einem Maße von politischen Ver¬
hältnissen abhängig, daß man sie beinahe als künstliche Grenze bezeichnen
könnte, obwohl wir gerade ihren immer steigenden Einfluß in unseren Tagen
festzustellen hatten. Wir stoßen immer von neuem auf den grundlegenden
Gegensatz zwischen nationaler und geographisch bedingter Politik. Nur der
Ausgang dieses Kampfes kann eigentlich erst ein Urteil ermöglichen Hder den
Wert sprachlicher und natürlicher Grenzen. Und so lange kann man auch nur
sehr vorbehaltlich von einer Gültigkeit dieser oder jener Grenzart sprechen und
auf ihre Autorität sich berufen. Nur so viel läßt sich sagen: Wenn Dauer und
Größe der Unterschiede den Maßstab abgeben für den Wert von Grenzen, fo
ist die Größe der Unterschiede in unseren beiden Fällen veränderlich. Den
Borzug der Dauer kann die natürliche Grenze zwar nicht absolut, aber
doch in vieler Beziehung für sich in Anspruch nehmen. Dabei freilich müssen
wir auch noch einmal wiederholen, daß ihr das Merkmal der Kontinuität in
der Mehrzahl der Fälle fehlt.

Es gibt Beobachter, die den Höhepunkt der nationalen Idee schon in diesem
Kriege überschritten sehen. Und sicherlich ist es eine, unseren Gegnern freilich
naheliegende, Überspannung der nationalen Forderung, wenn sie, lediglich nach
Sprachgrenzen, eine Zukunftskarte von Europa entwerfen. Es liegt darin eine
Nichtachtung von Staatsnotwendigkeiten, die wohl nur auf Seiten der Mittel¬
mächte ganz erkannt werden können. Denn nur wir haben zu leiden unter
den Schwierigkeiten der "ethnopolitisch-kritischen Zone" der Länder des größten
Völkergemisches.

Abschließend weisen wir hin auf solche Stacitsnotwendigkeiten geographischer
Art, auf das natürliche Bestreben aller Staaten nach Abnmdung, nach Bewegungs¬
freiheit und schließlich nach Ausdehnung. Die Erhaltung oder Erreichung solcher
Ziele führt uns mitten hinein in die Mechanik geographisch-politischer Begriffe,
von denen wir einen auf seinen Geltungswert zu prüfen und mit den ihm nächst
verwandten ethnovoliüschen Begriff zu verbinden unternahmen.




Natürliche Grenzen und Sprachgrenzen

künftigen Besitzer dieser Gebiete in die Lage versetzt, sie seinem Sprachgebiet
in absehbarer Zeit einzufügen. Auch freiwillige Völkerwanderungen kommen
noch vor, wie sie der Bukarester Frieden unter den europäischen Türken
hervorrief.

So sehen wir also die Sprachgrenze in einem Maße von politischen Ver¬
hältnissen abhängig, daß man sie beinahe als künstliche Grenze bezeichnen
könnte, obwohl wir gerade ihren immer steigenden Einfluß in unseren Tagen
festzustellen hatten. Wir stoßen immer von neuem auf den grundlegenden
Gegensatz zwischen nationaler und geographisch bedingter Politik. Nur der
Ausgang dieses Kampfes kann eigentlich erst ein Urteil ermöglichen Hder den
Wert sprachlicher und natürlicher Grenzen. Und so lange kann man auch nur
sehr vorbehaltlich von einer Gültigkeit dieser oder jener Grenzart sprechen und
auf ihre Autorität sich berufen. Nur so viel läßt sich sagen: Wenn Dauer und
Größe der Unterschiede den Maßstab abgeben für den Wert von Grenzen, fo
ist die Größe der Unterschiede in unseren beiden Fällen veränderlich. Den
Borzug der Dauer kann die natürliche Grenze zwar nicht absolut, aber
doch in vieler Beziehung für sich in Anspruch nehmen. Dabei freilich müssen
wir auch noch einmal wiederholen, daß ihr das Merkmal der Kontinuität in
der Mehrzahl der Fälle fehlt.

Es gibt Beobachter, die den Höhepunkt der nationalen Idee schon in diesem
Kriege überschritten sehen. Und sicherlich ist es eine, unseren Gegnern freilich
naheliegende, Überspannung der nationalen Forderung, wenn sie, lediglich nach
Sprachgrenzen, eine Zukunftskarte von Europa entwerfen. Es liegt darin eine
Nichtachtung von Staatsnotwendigkeiten, die wohl nur auf Seiten der Mittel¬
mächte ganz erkannt werden können. Denn nur wir haben zu leiden unter
den Schwierigkeiten der „ethnopolitisch-kritischen Zone" der Länder des größten
Völkergemisches.

Abschließend weisen wir hin auf solche Stacitsnotwendigkeiten geographischer
Art, auf das natürliche Bestreben aller Staaten nach Abnmdung, nach Bewegungs¬
freiheit und schließlich nach Ausdehnung. Die Erhaltung oder Erreichung solcher
Ziele führt uns mitten hinein in die Mechanik geographisch-politischer Begriffe,
von denen wir einen auf seinen Geltungswert zu prüfen und mit den ihm nächst
verwandten ethnovoliüschen Begriff zu verbinden unternahmen.




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[0222] Natürliche Grenzen und Sprachgrenzen künftigen Besitzer dieser Gebiete in die Lage versetzt, sie seinem Sprachgebiet in absehbarer Zeit einzufügen. Auch freiwillige Völkerwanderungen kommen noch vor, wie sie der Bukarester Frieden unter den europäischen Türken hervorrief. So sehen wir also die Sprachgrenze in einem Maße von politischen Ver¬ hältnissen abhängig, daß man sie beinahe als künstliche Grenze bezeichnen könnte, obwohl wir gerade ihren immer steigenden Einfluß in unseren Tagen festzustellen hatten. Wir stoßen immer von neuem auf den grundlegenden Gegensatz zwischen nationaler und geographisch bedingter Politik. Nur der Ausgang dieses Kampfes kann eigentlich erst ein Urteil ermöglichen Hder den Wert sprachlicher und natürlicher Grenzen. Und so lange kann man auch nur sehr vorbehaltlich von einer Gültigkeit dieser oder jener Grenzart sprechen und auf ihre Autorität sich berufen. Nur so viel läßt sich sagen: Wenn Dauer und Größe der Unterschiede den Maßstab abgeben für den Wert von Grenzen, fo ist die Größe der Unterschiede in unseren beiden Fällen veränderlich. Den Borzug der Dauer kann die natürliche Grenze zwar nicht absolut, aber doch in vieler Beziehung für sich in Anspruch nehmen. Dabei freilich müssen wir auch noch einmal wiederholen, daß ihr das Merkmal der Kontinuität in der Mehrzahl der Fälle fehlt. Es gibt Beobachter, die den Höhepunkt der nationalen Idee schon in diesem Kriege überschritten sehen. Und sicherlich ist es eine, unseren Gegnern freilich naheliegende, Überspannung der nationalen Forderung, wenn sie, lediglich nach Sprachgrenzen, eine Zukunftskarte von Europa entwerfen. Es liegt darin eine Nichtachtung von Staatsnotwendigkeiten, die wohl nur auf Seiten der Mittel¬ mächte ganz erkannt werden können. Denn nur wir haben zu leiden unter den Schwierigkeiten der „ethnopolitisch-kritischen Zone" der Länder des größten Völkergemisches. Abschließend weisen wir hin auf solche Stacitsnotwendigkeiten geographischer Art, auf das natürliche Bestreben aller Staaten nach Abnmdung, nach Bewegungs¬ freiheit und schließlich nach Ausdehnung. Die Erhaltung oder Erreichung solcher Ziele führt uns mitten hinein in die Mechanik geographisch-politischer Begriffe, von denen wir einen auf seinen Geltungswert zu prüfen und mit den ihm nächst verwandten ethnovoliüschen Begriff zu verbinden unternahmen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_331409/222>, abgerufen am 23.07.2024.