Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Natürliche Grenzen und Sprachgrenzen

von natürlichen Grenzen können sich Sprachgemeinschaften, Nationen in ihren
natürlichen Lebensräumen leicht und schnell bilden. Dann ist die geltende
Grenze zugleich natürlich, sprachlich und kulturell. Ihre Festigkeit erreicht den
höchsten Grad. Das eine Staatsgrenze im Widerspruch zu natürlichen und
sprachlichen Grenzen zugleich vertiefe, ist Ausnahme. Häufiger aber streiten
beide miteinander um den entscheidenden Einfluß. Hatten sich einst Völkermassen
über natürliche Grenzen hinweg ausgebreitet, so gaben diese die Grundlage für
die Forderung des Staates gegenüber den nationalen Verhältnissen. Er suchte
in Anlehnung an sie eine einheitliche Nation aus dem vielleicht vielartigen
Völkermaterial seines Gebiets zu schaffen. Aber seit den Tagen der französischen
Revolution ist mit der gleichzeitigen starken Entwicklung wirtschaftlich-technischer
und nationaler Kräfte die Bedeutung der natürlichen Grenzen gesunken und die
der Sprachgrenzen gestiegen. So kann man heute von einer Umkehrung reden,
derart, daß die Nationalitäten die Staatsgrenzen zu ziehen versuchen. Die
selbständige Politik der nationalen Idee hat die europäische Geschichte mit neuem
Leben und Kämpfen erfüllt. Es fragt sich heute sogar, ob das Staatsinteresse
an guten natürlichen Grenzen größer ist, als das an guten nationalen Grenzen.
Eine so gute natürliche Grenze, z. B. wie die zwischen Rumänien und Sieben¬
bürgen ist selten. Gleichwohl find gemäß der Sprachverhältnisse starke Kräfte
am Werk, zu vereinigen, was die geltende Grenze trennt. Wir erkennen also in
der Sprachgrenze einen letzten und schlimmsten Feind der natürlichen Grenze,
der ihr freilich nur selten entgegentritt. Einen ersten, wenn auch nicht bleibenden
Sieg errang die Sprachgrenze in dem österreichischen Anerbieten an Italien
vom 10. Mai 1915. Die Tiroler Jrredenta sollte abgetreten werden. Die,
wenngleich nicht vorzügliche natürliche Grenze der Engpässe, die wir oben
erwähnten, war der überwundene Gegner.

Und so wird wohl der Ausgang des Weltkriegs nicht überall eine Nieder¬
lage der Sprachgrenze zu verzeichnen haben, wo sie im Widerspruch steht zur
natürlichen Grenze oder gar nur der naturentlehnten oder einfach historischen
Grenze. Recht merkwürdig, daß es gerade die Pole" sind, welche Warschau
und Wilna in einem Staat vereinigen wollen. Denn das könnte nur über
weißrussisches und litauisches Sprachgebiet hinweg erreicht werden. Es braucht
kaum betont zu werden, daß möglichste Beachtung der Sprachgrenzen in Sicher¬
heit und Dauer des Friedens sich zu belohnen verspricht.

Freilich ist auch ein nicht unwesentlicher Nachteil der Sprachgrenzen im
Gegensatz zu natürlichen Grenzen zu verzeichnen. Sie find verschiebbar. Und
nicht nur verlagern sie sich in ganz allmählichem Vor- oder Rückschreiten,
organisch wachsend, oder durch staatliche Beeinflussung geleitet. Sondern der
Krieg hat uns russische Methoden kennen gelehrt, die eine plötzliche Änderung
der Sprachenkarte in den Bereich der Möglichkeit rücken. Im großen und
ganzen östlich der deutschen und polnischen Sprachgrenze, des 23. Meridians,
haben die Russen bekanntlich eine Massen ausfiedlung vorgenommen, die den


Grenzboten I 1917 14
Natürliche Grenzen und Sprachgrenzen

von natürlichen Grenzen können sich Sprachgemeinschaften, Nationen in ihren
natürlichen Lebensräumen leicht und schnell bilden. Dann ist die geltende
Grenze zugleich natürlich, sprachlich und kulturell. Ihre Festigkeit erreicht den
höchsten Grad. Das eine Staatsgrenze im Widerspruch zu natürlichen und
sprachlichen Grenzen zugleich vertiefe, ist Ausnahme. Häufiger aber streiten
beide miteinander um den entscheidenden Einfluß. Hatten sich einst Völkermassen
über natürliche Grenzen hinweg ausgebreitet, so gaben diese die Grundlage für
die Forderung des Staates gegenüber den nationalen Verhältnissen. Er suchte
in Anlehnung an sie eine einheitliche Nation aus dem vielleicht vielartigen
Völkermaterial seines Gebiets zu schaffen. Aber seit den Tagen der französischen
Revolution ist mit der gleichzeitigen starken Entwicklung wirtschaftlich-technischer
und nationaler Kräfte die Bedeutung der natürlichen Grenzen gesunken und die
der Sprachgrenzen gestiegen. So kann man heute von einer Umkehrung reden,
derart, daß die Nationalitäten die Staatsgrenzen zu ziehen versuchen. Die
selbständige Politik der nationalen Idee hat die europäische Geschichte mit neuem
Leben und Kämpfen erfüllt. Es fragt sich heute sogar, ob das Staatsinteresse
an guten natürlichen Grenzen größer ist, als das an guten nationalen Grenzen.
Eine so gute natürliche Grenze, z. B. wie die zwischen Rumänien und Sieben¬
bürgen ist selten. Gleichwohl find gemäß der Sprachverhältnisse starke Kräfte
am Werk, zu vereinigen, was die geltende Grenze trennt. Wir erkennen also in
der Sprachgrenze einen letzten und schlimmsten Feind der natürlichen Grenze,
der ihr freilich nur selten entgegentritt. Einen ersten, wenn auch nicht bleibenden
Sieg errang die Sprachgrenze in dem österreichischen Anerbieten an Italien
vom 10. Mai 1915. Die Tiroler Jrredenta sollte abgetreten werden. Die,
wenngleich nicht vorzügliche natürliche Grenze der Engpässe, die wir oben
erwähnten, war der überwundene Gegner.

Und so wird wohl der Ausgang des Weltkriegs nicht überall eine Nieder¬
lage der Sprachgrenze zu verzeichnen haben, wo sie im Widerspruch steht zur
natürlichen Grenze oder gar nur der naturentlehnten oder einfach historischen
Grenze. Recht merkwürdig, daß es gerade die Pole» sind, welche Warschau
und Wilna in einem Staat vereinigen wollen. Denn das könnte nur über
weißrussisches und litauisches Sprachgebiet hinweg erreicht werden. Es braucht
kaum betont zu werden, daß möglichste Beachtung der Sprachgrenzen in Sicher¬
heit und Dauer des Friedens sich zu belohnen verspricht.

Freilich ist auch ein nicht unwesentlicher Nachteil der Sprachgrenzen im
Gegensatz zu natürlichen Grenzen zu verzeichnen. Sie find verschiebbar. Und
nicht nur verlagern sie sich in ganz allmählichem Vor- oder Rückschreiten,
organisch wachsend, oder durch staatliche Beeinflussung geleitet. Sondern der
Krieg hat uns russische Methoden kennen gelehrt, die eine plötzliche Änderung
der Sprachenkarte in den Bereich der Möglichkeit rücken. Im großen und
ganzen östlich der deutschen und polnischen Sprachgrenze, des 23. Meridians,
haben die Russen bekanntlich eine Massen ausfiedlung vorgenommen, die den


Grenzboten I 1917 14
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0221" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/331629"/>
          <fw type="header" place="top"> Natürliche Grenzen und Sprachgrenzen</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_703" prev="#ID_702"> von natürlichen Grenzen können sich Sprachgemeinschaften, Nationen in ihren<lb/>
natürlichen Lebensräumen leicht und schnell bilden. Dann ist die geltende<lb/>
Grenze zugleich natürlich, sprachlich und kulturell. Ihre Festigkeit erreicht den<lb/>
höchsten Grad. Das eine Staatsgrenze im Widerspruch zu natürlichen und<lb/>
sprachlichen Grenzen zugleich vertiefe, ist Ausnahme. Häufiger aber streiten<lb/>
beide miteinander um den entscheidenden Einfluß. Hatten sich einst Völkermassen<lb/>
über natürliche Grenzen hinweg ausgebreitet, so gaben diese die Grundlage für<lb/>
die Forderung des Staates gegenüber den nationalen Verhältnissen. Er suchte<lb/>
in Anlehnung an sie eine einheitliche Nation aus dem vielleicht vielartigen<lb/>
Völkermaterial seines Gebiets zu schaffen. Aber seit den Tagen der französischen<lb/>
Revolution ist mit der gleichzeitigen starken Entwicklung wirtschaftlich-technischer<lb/>
und nationaler Kräfte die Bedeutung der natürlichen Grenzen gesunken und die<lb/>
der Sprachgrenzen gestiegen. So kann man heute von einer Umkehrung reden,<lb/>
derart, daß die Nationalitäten die Staatsgrenzen zu ziehen versuchen. Die<lb/>
selbständige Politik der nationalen Idee hat die europäische Geschichte mit neuem<lb/>
Leben und Kämpfen erfüllt. Es fragt sich heute sogar, ob das Staatsinteresse<lb/>
an guten natürlichen Grenzen größer ist, als das an guten nationalen Grenzen.<lb/>
Eine so gute natürliche Grenze, z. B. wie die zwischen Rumänien und Sieben¬<lb/>
bürgen ist selten. Gleichwohl find gemäß der Sprachverhältnisse starke Kräfte<lb/>
am Werk, zu vereinigen, was die geltende Grenze trennt. Wir erkennen also in<lb/>
der Sprachgrenze einen letzten und schlimmsten Feind der natürlichen Grenze,<lb/>
der ihr freilich nur selten entgegentritt. Einen ersten, wenn auch nicht bleibenden<lb/>
Sieg errang die Sprachgrenze in dem österreichischen Anerbieten an Italien<lb/>
vom 10. Mai 1915. Die Tiroler Jrredenta sollte abgetreten werden. Die,<lb/>
wenngleich nicht vorzügliche natürliche Grenze der Engpässe, die wir oben<lb/>
erwähnten, war der überwundene Gegner.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_704"> Und so wird wohl der Ausgang des Weltkriegs nicht überall eine Nieder¬<lb/>
lage der Sprachgrenze zu verzeichnen haben, wo sie im Widerspruch steht zur<lb/>
natürlichen Grenze oder gar nur der naturentlehnten oder einfach historischen<lb/>
Grenze. Recht merkwürdig, daß es gerade die Pole» sind, welche Warschau<lb/>
und Wilna in einem Staat vereinigen wollen. Denn das könnte nur über<lb/>
weißrussisches und litauisches Sprachgebiet hinweg erreicht werden. Es braucht<lb/>
kaum betont zu werden, daß möglichste Beachtung der Sprachgrenzen in Sicher¬<lb/>
heit und Dauer des Friedens sich zu belohnen verspricht.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_705" next="#ID_706"> Freilich ist auch ein nicht unwesentlicher Nachteil der Sprachgrenzen im<lb/>
Gegensatz zu natürlichen Grenzen zu verzeichnen. Sie find verschiebbar. Und<lb/>
nicht nur verlagern sie sich in ganz allmählichem Vor- oder Rückschreiten,<lb/>
organisch wachsend, oder durch staatliche Beeinflussung geleitet. Sondern der<lb/>
Krieg hat uns russische Methoden kennen gelehrt, die eine plötzliche Änderung<lb/>
der Sprachenkarte in den Bereich der Möglichkeit rücken. Im großen und<lb/>
ganzen östlich der deutschen und polnischen Sprachgrenze, des 23. Meridians,<lb/>
haben die Russen bekanntlich eine Massen ausfiedlung vorgenommen, die den</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten I 1917 14</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0221] Natürliche Grenzen und Sprachgrenzen von natürlichen Grenzen können sich Sprachgemeinschaften, Nationen in ihren natürlichen Lebensräumen leicht und schnell bilden. Dann ist die geltende Grenze zugleich natürlich, sprachlich und kulturell. Ihre Festigkeit erreicht den höchsten Grad. Das eine Staatsgrenze im Widerspruch zu natürlichen und sprachlichen Grenzen zugleich vertiefe, ist Ausnahme. Häufiger aber streiten beide miteinander um den entscheidenden Einfluß. Hatten sich einst Völkermassen über natürliche Grenzen hinweg ausgebreitet, so gaben diese die Grundlage für die Forderung des Staates gegenüber den nationalen Verhältnissen. Er suchte in Anlehnung an sie eine einheitliche Nation aus dem vielleicht vielartigen Völkermaterial seines Gebiets zu schaffen. Aber seit den Tagen der französischen Revolution ist mit der gleichzeitigen starken Entwicklung wirtschaftlich-technischer und nationaler Kräfte die Bedeutung der natürlichen Grenzen gesunken und die der Sprachgrenzen gestiegen. So kann man heute von einer Umkehrung reden, derart, daß die Nationalitäten die Staatsgrenzen zu ziehen versuchen. Die selbständige Politik der nationalen Idee hat die europäische Geschichte mit neuem Leben und Kämpfen erfüllt. Es fragt sich heute sogar, ob das Staatsinteresse an guten natürlichen Grenzen größer ist, als das an guten nationalen Grenzen. Eine so gute natürliche Grenze, z. B. wie die zwischen Rumänien und Sieben¬ bürgen ist selten. Gleichwohl find gemäß der Sprachverhältnisse starke Kräfte am Werk, zu vereinigen, was die geltende Grenze trennt. Wir erkennen also in der Sprachgrenze einen letzten und schlimmsten Feind der natürlichen Grenze, der ihr freilich nur selten entgegentritt. Einen ersten, wenn auch nicht bleibenden Sieg errang die Sprachgrenze in dem österreichischen Anerbieten an Italien vom 10. Mai 1915. Die Tiroler Jrredenta sollte abgetreten werden. Die, wenngleich nicht vorzügliche natürliche Grenze der Engpässe, die wir oben erwähnten, war der überwundene Gegner. Und so wird wohl der Ausgang des Weltkriegs nicht überall eine Nieder¬ lage der Sprachgrenze zu verzeichnen haben, wo sie im Widerspruch steht zur natürlichen Grenze oder gar nur der naturentlehnten oder einfach historischen Grenze. Recht merkwürdig, daß es gerade die Pole» sind, welche Warschau und Wilna in einem Staat vereinigen wollen. Denn das könnte nur über weißrussisches und litauisches Sprachgebiet hinweg erreicht werden. Es braucht kaum betont zu werden, daß möglichste Beachtung der Sprachgrenzen in Sicher¬ heit und Dauer des Friedens sich zu belohnen verspricht. Freilich ist auch ein nicht unwesentlicher Nachteil der Sprachgrenzen im Gegensatz zu natürlichen Grenzen zu verzeichnen. Sie find verschiebbar. Und nicht nur verlagern sie sich in ganz allmählichem Vor- oder Rückschreiten, organisch wachsend, oder durch staatliche Beeinflussung geleitet. Sondern der Krieg hat uns russische Methoden kennen gelehrt, die eine plötzliche Änderung der Sprachenkarte in den Bereich der Möglichkeit rücken. Im großen und ganzen östlich der deutschen und polnischen Sprachgrenze, des 23. Meridians, haben die Russen bekanntlich eine Massen ausfiedlung vorgenommen, die den Grenzboten I 1917 14

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_331409
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_331409/221
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_331409/221>, abgerufen am 25.08.2024.