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Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Erstes Vierteljahr.

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Zum Kampfe um das Bildungsideal

Feuer erhoben wurde. Eduard Spranger hat jüngst knapp und eindrucksvoll*)
die eigentümliche Lage geschildert, in der sich der Kaiser als einziger "Nicht¬
Fachmann" inmitten der überwiegend aus Schulleuten und Gelehrten zusammen¬
gesetzten "Schul-Konferenz" von 1890 befand, von der er die volle Erkenntnis
und die tatkräftige Förderung der gesunden Entwicklungstendenzen des deutschen
Volkes, also die Erziehung oder doch Vorbereitung der gebildeten Jugend zu
politischer Reife forderte und die schließlich in allerlei Kleinigkeiten stecken blieb.
Denn was wollten die leidigen Berechtigungsfragen, was der Kampf um den
lateinischen Aussatz und um den Schriftstellerkanon, was die Vermehrung der
Turnstunden usw. gegenüber der großen Frage sagen, die für das Reichs¬
oberhaupt im Mittelpunkte stand: wie machen wir die deutsche Jugend tüchtig
zum Kampfe um Deutschlands Weltstellung, wie sichern wir sie und ihr leicht
empfängliches, gerade für große Worte und Gesten so zugängliches Herz gegen
das Gift sozialdemokratischer Irrlehren? Mit einem Schlage war ein neues
"Bildungsideal" aufgesteckt, das den Hütern des alten auf den ersten Blick
tief unter den Bestrebungen des deutschen Idealismus zu liegen, den neuerem
turmhoch darüber zu stehen, allen aber gänzlich aus den Entwicklungsbahnen
der geistigen Bestrebungen zu weichen schien, denen die höhere Schule, wie sie
nun einmal war, ihre wesentlichen Grundlagen verdankte. Denn das alte
Bildungsideal war im Grunde humanistisch gewesen, das neue sollte politisch
sein. Und diesen politischen Zug werden wir heute als Zeugen der ge¬
waltigsten politischen Ereignisse der neueren Geschichte, ja vielleicht der europäi¬
schen Geschichte überhaupt, nicht mehr ausschalten können und wollen. Es
fragt sich nur, ob die Betonung dessen, was heut an der Zeit ist, wirklich
einen schroffen Bruch mit allem dem bedeutet, was der Vergangenheit nicht
bloß als genügende, sondern als heilige und unverletzliche Grundlage vor¬
nehmer Jugendbildung erschienen ist. Wer mitten im Kampfe oder doch in
der Arbeit steht, wird das Trennende betonen, wer von höherer Warte aus
das Ganze überblickt, wird die Verbindungsfäden zwischen Altem und Neuem
hin und her weben sehen. Der treffliche Führer, dessen Namen wir schon er¬
wähnten, einer der hervorragendsten Kenner des deutschen Idealismus und
seiner Bildungsbestrebungen, sucht in einem neuen Schriftchen**) dem einen wie
dem anderen Standpunkt gerecht zu werden. Um seinen Lesern (oder den
Hörern seines Vortrages) die veränderte Lage möglichst klar zu machen, treibt




23 Jahre deutscher Erziehungspolitik <^ Deutsche Erziehung, von K. Muthesius,
Heft 2). Stuttgart, Union Deutsche BerlagSgesellschaft 1916.
**) Eduard Spranger, "Das humanistische und das politische Bildungsideal im heutigen
Deutschland". Deutsche Abende im Zentralinstitut für Erziehung und Unterricht, sechster
Bortrag.) Berlin 1916, E. S. Mittler und Sohn. In derselben Sammlung erschienen
drei weitere Vorträge, die zu unserm Thema in naher Beziehung stehen: Burdach, "Deutsche
Renaissance, Betrachtungen über unsere künftige Bildung"; Sprengel, "Die deutsche Kultur¬
einheit im Unterricht"; Joel, "Die Bedeutung unseres klassischen Zeitalters für die Gegenwart".
Zum Kampfe um das Bildungsideal

Feuer erhoben wurde. Eduard Spranger hat jüngst knapp und eindrucksvoll*)
die eigentümliche Lage geschildert, in der sich der Kaiser als einziger „Nicht¬
Fachmann" inmitten der überwiegend aus Schulleuten und Gelehrten zusammen¬
gesetzten „Schul-Konferenz" von 1890 befand, von der er die volle Erkenntnis
und die tatkräftige Förderung der gesunden Entwicklungstendenzen des deutschen
Volkes, also die Erziehung oder doch Vorbereitung der gebildeten Jugend zu
politischer Reife forderte und die schließlich in allerlei Kleinigkeiten stecken blieb.
Denn was wollten die leidigen Berechtigungsfragen, was der Kampf um den
lateinischen Aussatz und um den Schriftstellerkanon, was die Vermehrung der
Turnstunden usw. gegenüber der großen Frage sagen, die für das Reichs¬
oberhaupt im Mittelpunkte stand: wie machen wir die deutsche Jugend tüchtig
zum Kampfe um Deutschlands Weltstellung, wie sichern wir sie und ihr leicht
empfängliches, gerade für große Worte und Gesten so zugängliches Herz gegen
das Gift sozialdemokratischer Irrlehren? Mit einem Schlage war ein neues
„Bildungsideal" aufgesteckt, das den Hütern des alten auf den ersten Blick
tief unter den Bestrebungen des deutschen Idealismus zu liegen, den neuerem
turmhoch darüber zu stehen, allen aber gänzlich aus den Entwicklungsbahnen
der geistigen Bestrebungen zu weichen schien, denen die höhere Schule, wie sie
nun einmal war, ihre wesentlichen Grundlagen verdankte. Denn das alte
Bildungsideal war im Grunde humanistisch gewesen, das neue sollte politisch
sein. Und diesen politischen Zug werden wir heute als Zeugen der ge¬
waltigsten politischen Ereignisse der neueren Geschichte, ja vielleicht der europäi¬
schen Geschichte überhaupt, nicht mehr ausschalten können und wollen. Es
fragt sich nur, ob die Betonung dessen, was heut an der Zeit ist, wirklich
einen schroffen Bruch mit allem dem bedeutet, was der Vergangenheit nicht
bloß als genügende, sondern als heilige und unverletzliche Grundlage vor¬
nehmer Jugendbildung erschienen ist. Wer mitten im Kampfe oder doch in
der Arbeit steht, wird das Trennende betonen, wer von höherer Warte aus
das Ganze überblickt, wird die Verbindungsfäden zwischen Altem und Neuem
hin und her weben sehen. Der treffliche Führer, dessen Namen wir schon er¬
wähnten, einer der hervorragendsten Kenner des deutschen Idealismus und
seiner Bildungsbestrebungen, sucht in einem neuen Schriftchen**) dem einen wie
dem anderen Standpunkt gerecht zu werden. Um seinen Lesern (oder den
Hörern seines Vortrages) die veränderte Lage möglichst klar zu machen, treibt




23 Jahre deutscher Erziehungspolitik <^ Deutsche Erziehung, von K. Muthesius,
Heft 2). Stuttgart, Union Deutsche BerlagSgesellschaft 1916.
**) Eduard Spranger, „Das humanistische und das politische Bildungsideal im heutigen
Deutschland". Deutsche Abende im Zentralinstitut für Erziehung und Unterricht, sechster
Bortrag.) Berlin 1916, E. S. Mittler und Sohn. In derselben Sammlung erschienen
drei weitere Vorträge, die zu unserm Thema in naher Beziehung stehen: Burdach, „Deutsche
Renaissance, Betrachtungen über unsere künftige Bildung"; Sprengel, „Die deutsche Kultur¬
einheit im Unterricht"; Joel, „Die Bedeutung unseres klassischen Zeitalters für die Gegenwart".
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[0022] Zum Kampfe um das Bildungsideal Feuer erhoben wurde. Eduard Spranger hat jüngst knapp und eindrucksvoll*) die eigentümliche Lage geschildert, in der sich der Kaiser als einziger „Nicht¬ Fachmann" inmitten der überwiegend aus Schulleuten und Gelehrten zusammen¬ gesetzten „Schul-Konferenz" von 1890 befand, von der er die volle Erkenntnis und die tatkräftige Förderung der gesunden Entwicklungstendenzen des deutschen Volkes, also die Erziehung oder doch Vorbereitung der gebildeten Jugend zu politischer Reife forderte und die schließlich in allerlei Kleinigkeiten stecken blieb. Denn was wollten die leidigen Berechtigungsfragen, was der Kampf um den lateinischen Aussatz und um den Schriftstellerkanon, was die Vermehrung der Turnstunden usw. gegenüber der großen Frage sagen, die für das Reichs¬ oberhaupt im Mittelpunkte stand: wie machen wir die deutsche Jugend tüchtig zum Kampfe um Deutschlands Weltstellung, wie sichern wir sie und ihr leicht empfängliches, gerade für große Worte und Gesten so zugängliches Herz gegen das Gift sozialdemokratischer Irrlehren? Mit einem Schlage war ein neues „Bildungsideal" aufgesteckt, das den Hütern des alten auf den ersten Blick tief unter den Bestrebungen des deutschen Idealismus zu liegen, den neuerem turmhoch darüber zu stehen, allen aber gänzlich aus den Entwicklungsbahnen der geistigen Bestrebungen zu weichen schien, denen die höhere Schule, wie sie nun einmal war, ihre wesentlichen Grundlagen verdankte. Denn das alte Bildungsideal war im Grunde humanistisch gewesen, das neue sollte politisch sein. Und diesen politischen Zug werden wir heute als Zeugen der ge¬ waltigsten politischen Ereignisse der neueren Geschichte, ja vielleicht der europäi¬ schen Geschichte überhaupt, nicht mehr ausschalten können und wollen. Es fragt sich nur, ob die Betonung dessen, was heut an der Zeit ist, wirklich einen schroffen Bruch mit allem dem bedeutet, was der Vergangenheit nicht bloß als genügende, sondern als heilige und unverletzliche Grundlage vor¬ nehmer Jugendbildung erschienen ist. Wer mitten im Kampfe oder doch in der Arbeit steht, wird das Trennende betonen, wer von höherer Warte aus das Ganze überblickt, wird die Verbindungsfäden zwischen Altem und Neuem hin und her weben sehen. Der treffliche Führer, dessen Namen wir schon er¬ wähnten, einer der hervorragendsten Kenner des deutschen Idealismus und seiner Bildungsbestrebungen, sucht in einem neuen Schriftchen**) dem einen wie dem anderen Standpunkt gerecht zu werden. Um seinen Lesern (oder den Hörern seines Vortrages) die veränderte Lage möglichst klar zu machen, treibt 23 Jahre deutscher Erziehungspolitik <^ Deutsche Erziehung, von K. Muthesius, Heft 2). Stuttgart, Union Deutsche BerlagSgesellschaft 1916. **) Eduard Spranger, „Das humanistische und das politische Bildungsideal im heutigen Deutschland". Deutsche Abende im Zentralinstitut für Erziehung und Unterricht, sechster Bortrag.) Berlin 1916, E. S. Mittler und Sohn. In derselben Sammlung erschienen drei weitere Vorträge, die zu unserm Thema in naher Beziehung stehen: Burdach, „Deutsche Renaissance, Betrachtungen über unsere künftige Bildung"; Sprengel, „Die deutsche Kultur¬ einheit im Unterricht"; Joel, „Die Bedeutung unseres klassischen Zeitalters für die Gegenwart".

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_331409/22>, abgerufen am 23.07.2024.