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Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Erstes Vierteljahr.

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kleine -- unser Führer im Streit

Größe die Zeit ist, in der wir stehen, so reich wie nie zuvor. Wir brauchen
ja nur die Augen aufzutun, und überreich werden uns Beispiele entsagender
Pflichterfüllung daheim und draußen entgegenströmen. Dabei denke ich gar
nicht einmal an die Großen, denen ein günstiges Schicksal Unsterblichkeit ver¬
leiht; nein, gerade das stille Heldentum spricht in seiner Schlichtheit viel be¬
redter und ergreifender. Der Geist aber, in dem diese stillen Helden all ihre
Kräfte einsetzen, und, wenn es sein muß, ihr Letztes dahingehen für ihr ge¬
liebtes Vaterland, das ist der Geist Immanuel Kants, -- derselbe Geist, von dem
unser Kaiser in seiner Neujahrsbotschaft an das deutsche Volk sagt: "An dem
Geist und dem Willen, der Heer und Heimat unerschütterlich eint, werden die
Pläne unserer Feinde elend zuschanden werden, dem Geist der Pflichterfüllung
für das Vaterland bis zum letzten Atemzuge und dem Willen zum Siege."

Kants Geist ist es, aus dem wir in diesem ungeheuren Ringen gegen
die halbe Welt immer neue Kräfte schöpfen. Es ist merkwürdig: der friedliche
Bürger von Königsberg der geistige Führer Deutschlands im blutigsten Kriege!
Und doch ist es so. Selbst Kant müßte diesen Krieg billigen. "Der Krieg
ist gerecht und moralisch, der auf einen dauernden, allgemeinen Frieden ab¬
zielt." Dies sind seine eignen Worte. Streben wir aber nach etwas anderem
als nach einem solchen ewigen Frieden?

Möge Kant, wie er uns Deutschen jetzt, zwar den meisten unbewußt, ein
Führer im Kriege ist, auch einst der wiederversöhnten Menschheit ein Leitstern
sein in jener besseren Zukunft, die keinen Krieg mehr kennt, die nicht unersetz¬
liche Werte zerstört, sondern rastlos gesegnete Werke des Friedens aufbaut.
Denn Kant, der die Greuel der Napoleonischen Zeit miterlebte, glaubte doch
unerschütterlich an den Fortschritt der Menschheit. Es scheint uns zwar, als
machten die Völker, die sich jetzt zerfleischen, einen gewaltigen Schritt nach rück¬
wärts. Und doch: "Vielleicht liegt es in unserer unrecht genommenen Wahl
des Standpunktes, aus dem wir den Lauf menschlicher Dinge ansehen, daß
dieser uns so widersinnig erscheint. Die Planeten, von der Erde aus gesehen,
sind bald rückgängig, bald stillstehend, bald fortgängig. Den Standpunkt aber
von der Sonne aus genommen, welches nur die Vernunft tun kann, gehen sie
nach der kopernikanischen Hypothese ihren regelmäßigen Gang fort." So ist
es vielleicht auch mit diesem Kriege. Er scheint uns die gräßlichste Ungeheuer¬
lichkeit, und doch! vielleicht ist auch er ein Schritt vorwärts, eine schmerzvolle
Bewegung der Menschheit zum ewigen Frieden.




kleine — unser Führer im Streit

Größe die Zeit ist, in der wir stehen, so reich wie nie zuvor. Wir brauchen
ja nur die Augen aufzutun, und überreich werden uns Beispiele entsagender
Pflichterfüllung daheim und draußen entgegenströmen. Dabei denke ich gar
nicht einmal an die Großen, denen ein günstiges Schicksal Unsterblichkeit ver¬
leiht; nein, gerade das stille Heldentum spricht in seiner Schlichtheit viel be¬
redter und ergreifender. Der Geist aber, in dem diese stillen Helden all ihre
Kräfte einsetzen, und, wenn es sein muß, ihr Letztes dahingehen für ihr ge¬
liebtes Vaterland, das ist der Geist Immanuel Kants, — derselbe Geist, von dem
unser Kaiser in seiner Neujahrsbotschaft an das deutsche Volk sagt: „An dem
Geist und dem Willen, der Heer und Heimat unerschütterlich eint, werden die
Pläne unserer Feinde elend zuschanden werden, dem Geist der Pflichterfüllung
für das Vaterland bis zum letzten Atemzuge und dem Willen zum Siege."

Kants Geist ist es, aus dem wir in diesem ungeheuren Ringen gegen
die halbe Welt immer neue Kräfte schöpfen. Es ist merkwürdig: der friedliche
Bürger von Königsberg der geistige Führer Deutschlands im blutigsten Kriege!
Und doch ist es so. Selbst Kant müßte diesen Krieg billigen. „Der Krieg
ist gerecht und moralisch, der auf einen dauernden, allgemeinen Frieden ab¬
zielt." Dies sind seine eignen Worte. Streben wir aber nach etwas anderem
als nach einem solchen ewigen Frieden?

Möge Kant, wie er uns Deutschen jetzt, zwar den meisten unbewußt, ein
Führer im Kriege ist, auch einst der wiederversöhnten Menschheit ein Leitstern
sein in jener besseren Zukunft, die keinen Krieg mehr kennt, die nicht unersetz¬
liche Werte zerstört, sondern rastlos gesegnete Werke des Friedens aufbaut.
Denn Kant, der die Greuel der Napoleonischen Zeit miterlebte, glaubte doch
unerschütterlich an den Fortschritt der Menschheit. Es scheint uns zwar, als
machten die Völker, die sich jetzt zerfleischen, einen gewaltigen Schritt nach rück¬
wärts. Und doch: „Vielleicht liegt es in unserer unrecht genommenen Wahl
des Standpunktes, aus dem wir den Lauf menschlicher Dinge ansehen, daß
dieser uns so widersinnig erscheint. Die Planeten, von der Erde aus gesehen,
sind bald rückgängig, bald stillstehend, bald fortgängig. Den Standpunkt aber
von der Sonne aus genommen, welches nur die Vernunft tun kann, gehen sie
nach der kopernikanischen Hypothese ihren regelmäßigen Gang fort." So ist
es vielleicht auch mit diesem Kriege. Er scheint uns die gräßlichste Ungeheuer¬
lichkeit, und doch! vielleicht ist auch er ein Schritt vorwärts, eine schmerzvolle
Bewegung der Menschheit zum ewigen Frieden.




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[0196] kleine — unser Führer im Streit Größe die Zeit ist, in der wir stehen, so reich wie nie zuvor. Wir brauchen ja nur die Augen aufzutun, und überreich werden uns Beispiele entsagender Pflichterfüllung daheim und draußen entgegenströmen. Dabei denke ich gar nicht einmal an die Großen, denen ein günstiges Schicksal Unsterblichkeit ver¬ leiht; nein, gerade das stille Heldentum spricht in seiner Schlichtheit viel be¬ redter und ergreifender. Der Geist aber, in dem diese stillen Helden all ihre Kräfte einsetzen, und, wenn es sein muß, ihr Letztes dahingehen für ihr ge¬ liebtes Vaterland, das ist der Geist Immanuel Kants, — derselbe Geist, von dem unser Kaiser in seiner Neujahrsbotschaft an das deutsche Volk sagt: „An dem Geist und dem Willen, der Heer und Heimat unerschütterlich eint, werden die Pläne unserer Feinde elend zuschanden werden, dem Geist der Pflichterfüllung für das Vaterland bis zum letzten Atemzuge und dem Willen zum Siege." Kants Geist ist es, aus dem wir in diesem ungeheuren Ringen gegen die halbe Welt immer neue Kräfte schöpfen. Es ist merkwürdig: der friedliche Bürger von Königsberg der geistige Führer Deutschlands im blutigsten Kriege! Und doch ist es so. Selbst Kant müßte diesen Krieg billigen. „Der Krieg ist gerecht und moralisch, der auf einen dauernden, allgemeinen Frieden ab¬ zielt." Dies sind seine eignen Worte. Streben wir aber nach etwas anderem als nach einem solchen ewigen Frieden? Möge Kant, wie er uns Deutschen jetzt, zwar den meisten unbewußt, ein Führer im Kriege ist, auch einst der wiederversöhnten Menschheit ein Leitstern sein in jener besseren Zukunft, die keinen Krieg mehr kennt, die nicht unersetz¬ liche Werte zerstört, sondern rastlos gesegnete Werke des Friedens aufbaut. Denn Kant, der die Greuel der Napoleonischen Zeit miterlebte, glaubte doch unerschütterlich an den Fortschritt der Menschheit. Es scheint uns zwar, als machten die Völker, die sich jetzt zerfleischen, einen gewaltigen Schritt nach rück¬ wärts. Und doch: „Vielleicht liegt es in unserer unrecht genommenen Wahl des Standpunktes, aus dem wir den Lauf menschlicher Dinge ansehen, daß dieser uns so widersinnig erscheint. Die Planeten, von der Erde aus gesehen, sind bald rückgängig, bald stillstehend, bald fortgängig. Den Standpunkt aber von der Sonne aus genommen, welches nur die Vernunft tun kann, gehen sie nach der kopernikanischen Hypothese ihren regelmäßigen Gang fort." So ist es vielleicht auch mit diesem Kriege. Er scheint uns die gräßlichste Ungeheuer¬ lichkeit, und doch! vielleicht ist auch er ein Schritt vorwärts, eine schmerzvolle Bewegung der Menschheit zum ewigen Frieden.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_331409/196>, abgerufen am 23.07.2024.