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Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Erstes Vierteljahr.

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klare -- unser Führer im Streit

Das Ding an sich ist zeitlos, das Ding, wie es uns erscheint, -- das "Ding
für uns" --, besteht aus aufeinander folgenden Dingaugenblicken. Und da wir
nichts anders scheu und in nichts anderem denken können als in bereits räumlich
und zeitlich Geordneten, so ist die eigentliche Welt, die Welt des Dinges an
sich, unserm Verstände auf ewig verschlossen. Indem Kant dieses ein für
allemal bewies, zerstörte er den Wahn der Aufklärung, auch die tiefsten Welt¬
rätsel lösen zu können: denn Gott oder der Kosmos sind eben solche Dinge
an sich, an die unser Verstand nie heran kann. Schlüsse und Urteile stützen
sich ja auf Begriffe, Begriffe aber auf Anschauungen, und diese haben wir eben
nie anders als bereits in Raum und Zeit geordnet. Wenn wir an diese gleichsam
negative Leistung Kants denken, dürfen wir aber nicht vergessen, daß beschränken nicht
nur etwas Negatives ist, sondern oft gerade ungeahnte positive Ergebnisse im
Gefolge hat. Um ein Beispiel zu nehmen, das uns allen geläufig ist: die
Türkei verlor im Balkankriege ungeheuere Gebiete. Aber das bedeutete keine
Schwächung, sondern eine gewaltige Stärkung des Reiches. Es befolgte gleich¬
sam den Grundsatz der Bibel: "Ärgert dich dein rechtes Auge, so reiß es aus
und wirf es von dir." Indem die Türkei nun instant gesetzt wurde, die in
jenen Gebieten oft nutzlos verschwendete Kraft den alten Provinzen zuzuwenden,
die bisher notgedrungen hatten zurückstehen müssen, gewann sie jene innere
Festigkeit wieder, die zu Gallipoli und Kul-el-Amara führte. So war es auch
mit Kants Kritik menschlichen Forschungsdranges, dessen Betätigungsfeld nicht
vernichtet, sondern nur enger umgrenzt wurde. Das Übersinnliche zu enträtseln
gab man nun als verlorene Liebesmüh auf, aber das im Bereich unserer Sinne
Liegende, d. h. die ganze Natur, so wie sie in Raum und Zeit vor uns aus¬
gebreitet daliegt, wurde nun mit um so stärkerer Wacht von der Forschung in
Angriff genommen. Hatte Kant ja gezeigt, daß es hier keine Schranken der
Erkenntnis gab, ja. hatte er doch sogar bewiesen, daß unser Verstand nicht nur
Raum und Zeit, sondern alle seine eigenen Gesetze, wie das der Kausalität,
das heißt der Verkettung von Ursache und Wirkung, selbst in die Natur hineingelegt
hat. Nicht die Natur gab uns Gesetze, sondern wir der Natur! Werden
wir so doch geradezu zum Schöpfer der Erscheinungswelt; denn sie existiert
als solche überhaupt nur durch die Formen unserer Erkenntnis. Forschen war
demnach nichts anders als diese vom Verstände in die Natur hineingelegten
Gesetze wieder aus ihr herauszusuchen! Das war die kopernikanische Tat Kants.
Und nun man wußte, daß die uns umgebende Natur, an deren Einstehen wir
so selbst fortwährend tätig sind, restlos von unserem Verstände entschleiert werden
kann, ging man mit Feuereifer an die lockende Aufgabe heran. Statt mit
metaphysischen Formeln arbeitete man mit mathematischen, und an die Stelle
des Syllogismus trat das Experiment. So führt Kant der alten Aufklärung,
die er scheinbar zermalmte, doch wiederum letzten Grundes neue Lebenskräfte
zu, die sie noch heute als lebendige Macht erhält. Die Naturwissenschaft aber
blühte mächtig auf. Nun kommt die Zeit des Kantianers Schelling, de>!


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klare — unser Führer im Streit

Das Ding an sich ist zeitlos, das Ding, wie es uns erscheint, — das „Ding
für uns" —, besteht aus aufeinander folgenden Dingaugenblicken. Und da wir
nichts anders scheu und in nichts anderem denken können als in bereits räumlich
und zeitlich Geordneten, so ist die eigentliche Welt, die Welt des Dinges an
sich, unserm Verstände auf ewig verschlossen. Indem Kant dieses ein für
allemal bewies, zerstörte er den Wahn der Aufklärung, auch die tiefsten Welt¬
rätsel lösen zu können: denn Gott oder der Kosmos sind eben solche Dinge
an sich, an die unser Verstand nie heran kann. Schlüsse und Urteile stützen
sich ja auf Begriffe, Begriffe aber auf Anschauungen, und diese haben wir eben
nie anders als bereits in Raum und Zeit geordnet. Wenn wir an diese gleichsam
negative Leistung Kants denken, dürfen wir aber nicht vergessen, daß beschränken nicht
nur etwas Negatives ist, sondern oft gerade ungeahnte positive Ergebnisse im
Gefolge hat. Um ein Beispiel zu nehmen, das uns allen geläufig ist: die
Türkei verlor im Balkankriege ungeheuere Gebiete. Aber das bedeutete keine
Schwächung, sondern eine gewaltige Stärkung des Reiches. Es befolgte gleich¬
sam den Grundsatz der Bibel: „Ärgert dich dein rechtes Auge, so reiß es aus
und wirf es von dir." Indem die Türkei nun instant gesetzt wurde, die in
jenen Gebieten oft nutzlos verschwendete Kraft den alten Provinzen zuzuwenden,
die bisher notgedrungen hatten zurückstehen müssen, gewann sie jene innere
Festigkeit wieder, die zu Gallipoli und Kul-el-Amara führte. So war es auch
mit Kants Kritik menschlichen Forschungsdranges, dessen Betätigungsfeld nicht
vernichtet, sondern nur enger umgrenzt wurde. Das Übersinnliche zu enträtseln
gab man nun als verlorene Liebesmüh auf, aber das im Bereich unserer Sinne
Liegende, d. h. die ganze Natur, so wie sie in Raum und Zeit vor uns aus¬
gebreitet daliegt, wurde nun mit um so stärkerer Wacht von der Forschung in
Angriff genommen. Hatte Kant ja gezeigt, daß es hier keine Schranken der
Erkenntnis gab, ja. hatte er doch sogar bewiesen, daß unser Verstand nicht nur
Raum und Zeit, sondern alle seine eigenen Gesetze, wie das der Kausalität,
das heißt der Verkettung von Ursache und Wirkung, selbst in die Natur hineingelegt
hat. Nicht die Natur gab uns Gesetze, sondern wir der Natur! Werden
wir so doch geradezu zum Schöpfer der Erscheinungswelt; denn sie existiert
als solche überhaupt nur durch die Formen unserer Erkenntnis. Forschen war
demnach nichts anders als diese vom Verstände in die Natur hineingelegten
Gesetze wieder aus ihr herauszusuchen! Das war die kopernikanische Tat Kants.
Und nun man wußte, daß die uns umgebende Natur, an deren Einstehen wir
so selbst fortwährend tätig sind, restlos von unserem Verstände entschleiert werden
kann, ging man mit Feuereifer an die lockende Aufgabe heran. Statt mit
metaphysischen Formeln arbeitete man mit mathematischen, und an die Stelle
des Syllogismus trat das Experiment. So führt Kant der alten Aufklärung,
die er scheinbar zermalmte, doch wiederum letzten Grundes neue Lebenskräfte
zu, die sie noch heute als lebendige Macht erhält. Die Naturwissenschaft aber
blühte mächtig auf. Nun kommt die Zeit des Kantianers Schelling, de>!


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_331409/191>, abgerufen am 23.07.2024.