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Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Erstes Vierteljahr.

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Aare -- unser Führer im Streit

Unsere Feinde haben das auch gar bald herausfinden wollen, und die
Namen Bernhard!, Treitschke und Nietzsche tauchten sogleich in ihren Erörterungen
über die Entstehung des Krieges auf. Besonders mit dem letzten der drei
wurde in der Presse der Feinde ein wahrer Kult getrieben; seine Werke wurden
übersetzt und erklärt. War es doch auch gar zu bequem, die Lehre vom Herren¬
menschen so zurechtlegen, daß man bewies -- und noch heute ist der Durch¬
schnittsamerikaner felsenfest davon überzeugt -- Deutschland hube, rein dem
Willen zur Macht folgend, seine Siärke zu schnödem Angriff der Nachbarvölker
mißbraucht. Wir haben es nicht nötig, derartiges zu widerlegen. Zwar scheint
die Ausgabe, daß neben dem Faust der Zarathustra die begehrteste Lektüre
unserer Soldaten im Schützengraben sein soll, dafür zu sprechen, daß Nietzsche unser
geistiger Führer in diesem gewaltigen Ringen ist. Und doch: es kann nicht
sein. Diese unbedingte Hingabe des einzelnen an das große Werk, dies
rührende Sichbescheiden allerorten steht in allzu krassen Widerspruch zu dem
rücksichtslosen Durchsetzen der eignen Persönlichkeit und dem schroffen Abweisen
alles die eigene Entwicklung Störenden, die Nietzsche predigt, daß wir schon weiter
suchen müssen. Goethe, unser Größter? Sein weitherziges Weltbürgertum,
das ihn im Freiheitskampf abseits stehen ließ,' wird in der Zeit, wo die
nationalen Gegensätze wie nie zuvor aneinanderprallen, von allzu wenigen
verstanden, als daß er unser Führer genannt werden könnte. Wir suchen
weiter und blicken zu dem Liebling unseres Volkes, zu Schiller. Und wir
sind schon in der richtigen Bahn. Wir brauchen nur statt des Schülers den
Meister zu nennen, und vor uns taucht die schlichte, ernste Gestalt des Mannes
auf, dessen Geist in uns allen lebendig ist und schier Unmögliches wirkt: es
ist der Weise von Königsberg, Immanuel Kant.

Freilich, manche werden sagen: die Quellen unsrer Kraft sind keine Bücher
und Lehrer, sondern Kruppsche Geschütze und Panzerplatten, Unterseeboote und
Zeppeline. Doch selbst dieser materialistische Standpunkt müßte uns, so un¬
glaublich es zunächst klingen mag, zu Kant führen. Rufen wir uns kurz seine
unsterbliche Leistung in der "Kritik der reinen Vernunft" zurück. Sie bestehr
vor allem in der klaren Scheidung des Gegebenen in zwei Welten, die Er¬
scheinungswelt und die Welt des Dinges an sich. Alles, was wir mit unsern
Augen sehen, mit unsern Ohren hören, kurz, mit unsern Sinnen wahrnehmen,
ist nur Erscheinung. In Wirklichkeit ist die Welt ganz anders. Das Wesen
der Dinge, so wie wir sie sehen, ist uns Ort, Größe und Gestalt. Doch Kant
zeigt, daß in Wirklichkeit die'Dinge keinen Raum haben, sondern daß Raum
eine Funktion unseres Verstandes ist, gleichsam ein Netz, das vor unserm Be-
wußisein ausgespannt ist und mit dem wir alles, was von außen als Empfindung
unsern Sinnen zufließt, ergreifen. Die ursprünglich ungeordneten raumlosen
Wahrnehmungen werden nun durch die uns angeborene Funktion des Raumes
zu räumlich geordneten Anschauungen. Aus diesen entstehen dann unsre Begriffe
von der Welt. Und wie es mit dem Raum ist, so ist es auch mit der Zeit.


Aare — unser Führer im Streit

Unsere Feinde haben das auch gar bald herausfinden wollen, und die
Namen Bernhard!, Treitschke und Nietzsche tauchten sogleich in ihren Erörterungen
über die Entstehung des Krieges auf. Besonders mit dem letzten der drei
wurde in der Presse der Feinde ein wahrer Kult getrieben; seine Werke wurden
übersetzt und erklärt. War es doch auch gar zu bequem, die Lehre vom Herren¬
menschen so zurechtlegen, daß man bewies — und noch heute ist der Durch¬
schnittsamerikaner felsenfest davon überzeugt — Deutschland hube, rein dem
Willen zur Macht folgend, seine Siärke zu schnödem Angriff der Nachbarvölker
mißbraucht. Wir haben es nicht nötig, derartiges zu widerlegen. Zwar scheint
die Ausgabe, daß neben dem Faust der Zarathustra die begehrteste Lektüre
unserer Soldaten im Schützengraben sein soll, dafür zu sprechen, daß Nietzsche unser
geistiger Führer in diesem gewaltigen Ringen ist. Und doch: es kann nicht
sein. Diese unbedingte Hingabe des einzelnen an das große Werk, dies
rührende Sichbescheiden allerorten steht in allzu krassen Widerspruch zu dem
rücksichtslosen Durchsetzen der eignen Persönlichkeit und dem schroffen Abweisen
alles die eigene Entwicklung Störenden, die Nietzsche predigt, daß wir schon weiter
suchen müssen. Goethe, unser Größter? Sein weitherziges Weltbürgertum,
das ihn im Freiheitskampf abseits stehen ließ,' wird in der Zeit, wo die
nationalen Gegensätze wie nie zuvor aneinanderprallen, von allzu wenigen
verstanden, als daß er unser Führer genannt werden könnte. Wir suchen
weiter und blicken zu dem Liebling unseres Volkes, zu Schiller. Und wir
sind schon in der richtigen Bahn. Wir brauchen nur statt des Schülers den
Meister zu nennen, und vor uns taucht die schlichte, ernste Gestalt des Mannes
auf, dessen Geist in uns allen lebendig ist und schier Unmögliches wirkt: es
ist der Weise von Königsberg, Immanuel Kant.

Freilich, manche werden sagen: die Quellen unsrer Kraft sind keine Bücher
und Lehrer, sondern Kruppsche Geschütze und Panzerplatten, Unterseeboote und
Zeppeline. Doch selbst dieser materialistische Standpunkt müßte uns, so un¬
glaublich es zunächst klingen mag, zu Kant führen. Rufen wir uns kurz seine
unsterbliche Leistung in der „Kritik der reinen Vernunft" zurück. Sie bestehr
vor allem in der klaren Scheidung des Gegebenen in zwei Welten, die Er¬
scheinungswelt und die Welt des Dinges an sich. Alles, was wir mit unsern
Augen sehen, mit unsern Ohren hören, kurz, mit unsern Sinnen wahrnehmen,
ist nur Erscheinung. In Wirklichkeit ist die Welt ganz anders. Das Wesen
der Dinge, so wie wir sie sehen, ist uns Ort, Größe und Gestalt. Doch Kant
zeigt, daß in Wirklichkeit die'Dinge keinen Raum haben, sondern daß Raum
eine Funktion unseres Verstandes ist, gleichsam ein Netz, das vor unserm Be-
wußisein ausgespannt ist und mit dem wir alles, was von außen als Empfindung
unsern Sinnen zufließt, ergreifen. Die ursprünglich ungeordneten raumlosen
Wahrnehmungen werden nun durch die uns angeborene Funktion des Raumes
zu räumlich geordneten Anschauungen. Aus diesen entstehen dann unsre Begriffe
von der Welt. Und wie es mit dem Raum ist, so ist es auch mit der Zeit.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_331409/190>, abgerufen am 23.07.2024.