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Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Erstes Vierteljahr.

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von der Times, der Diktatur und andern Dingen

Berührung zwischen Staatsgewalt und Privatpersonen zutage treten. Schon
jetzt wetteifern die Zeitungen im Beschwichtigen, während sie scheinheilig die
neuen Maßregeln preisen. Vor allem verkünden sie. daß die Einführung von
Brot- und sonstigen Karten vorläufig nicht beabsichtigt sei. Augenscheinlich
werden vorläufig nicht die Verbraucher, sondern nur die Erzeuger und Ver¬
käufer unter Aufsicht gestellt. Dem Müller wird vorgeschrieben werden, nur
eine ganz bestimmte Sorte Mehl herzustellen, und jeder Bäckerei nur das fest¬
gesetzte Quantum zu liefern; der Bäcker wird an jeden einzelnen Käufer nur
eine bestimmte Menge Brot abgeben dürfen. Das Ergebnis wird ein voll¬
ständiges Durcheinander sein: der Bäcker wird erklären, er könne sich unmöglich
merken, wer heute schon sein Brot geholt habe und wer nicht, und ganz und
gar außerstande wäre er, festzustellen, ob Mistreß Jones ihre vier Töchter nicht
in vier verschiedene Bäckereien geschickt habe. Endlich wird es zu richtigen
Brotschlachten kommen -- und die Ordnung wird erst wiederhergestellt sein,
wenn die Marken da sind. Das wissen alle sehr gut. und darum sagen sie
auch, die Einführung von Lebensmittelmarken sei "vorläufig" noch nicht beab¬
sichtigt. Wenn sie aber später doch kommen sollen, warum führt man sie nicht
gleich ein? Das wäre gegen die Tradition!

Eine große Rolle spielt auch die Frage der Speisekarte in Klubs und
Gasthäusern. Die Klubs haben sich übrigens den Verhältnissen angepaßt; die
Mehrzahl hat ein vereinfachtes Menü für Lunch und Abendessen zu 2^ und
3 Shilling eingeführt. Aber die Gasthäuser können sich dazu nicht entschließen.
Sie berufen sich darauf, daß ihre Gäste zum größten Teil beurlaubte Offiziere
seien, denen man nicht zumuten könne, sich einzuschränken. Nun ist es ja
richtig, daß einer, der vielleicht zum letztenmal in seinem Leben in gemütlicher
Umgebung ißt und trinkt, dieses auch gründlich tun möchte. Aber die Herren
Offiziere sitzen niemals allein bei Tisch; sie befinden sich immer in größerer
Gesellschaft, und natürlich will keiner dem anderen nachstehen -- und so werden
täglich tausende von Fleischportionen verschwendet, die gespart werden könnten.
Die Zeitungen verkünden, daß gegen die Gasthäuser "vorläufig" nicht ein¬
geschritten werden solle -- einmal aber muß es doch dazu kommen, und dann
wird es sich zeigen, daß ein beurlaubter Offizier ebenso gemütlich für 3 Shilling
soupieren kann, wie für ein ^2 Pfund. Alles wird kommen, alles wird sich
machen lassen, die Regenschirme werden alle einmal aufgeklappt, aber erst muß
man tüchtig naß geworden sein.

Ich bitte alles hier Gesagte nicht für Ironie zu nehmen. Ich bin fest
überzeugt, daß die Mobilmachung der englischen Volkskraft allmählich bis zu
ihrem Höhepunkt gelangen wird, daß alles, was bisher noch nicht geschehen ist,
geschehen wird. Alles wird zu seiner Zeit kommen. Ob aber unser aller
Kräfte noch ausreichen, diese Zeit zu erleben -- das ist die Frage.




von der Times, der Diktatur und andern Dingen

Berührung zwischen Staatsgewalt und Privatpersonen zutage treten. Schon
jetzt wetteifern die Zeitungen im Beschwichtigen, während sie scheinheilig die
neuen Maßregeln preisen. Vor allem verkünden sie. daß die Einführung von
Brot- und sonstigen Karten vorläufig nicht beabsichtigt sei. Augenscheinlich
werden vorläufig nicht die Verbraucher, sondern nur die Erzeuger und Ver¬
käufer unter Aufsicht gestellt. Dem Müller wird vorgeschrieben werden, nur
eine ganz bestimmte Sorte Mehl herzustellen, und jeder Bäckerei nur das fest¬
gesetzte Quantum zu liefern; der Bäcker wird an jeden einzelnen Käufer nur
eine bestimmte Menge Brot abgeben dürfen. Das Ergebnis wird ein voll¬
ständiges Durcheinander sein: der Bäcker wird erklären, er könne sich unmöglich
merken, wer heute schon sein Brot geholt habe und wer nicht, und ganz und
gar außerstande wäre er, festzustellen, ob Mistreß Jones ihre vier Töchter nicht
in vier verschiedene Bäckereien geschickt habe. Endlich wird es zu richtigen
Brotschlachten kommen — und die Ordnung wird erst wiederhergestellt sein,
wenn die Marken da sind. Das wissen alle sehr gut. und darum sagen sie
auch, die Einführung von Lebensmittelmarken sei „vorläufig" noch nicht beab¬
sichtigt. Wenn sie aber später doch kommen sollen, warum führt man sie nicht
gleich ein? Das wäre gegen die Tradition!

Eine große Rolle spielt auch die Frage der Speisekarte in Klubs und
Gasthäusern. Die Klubs haben sich übrigens den Verhältnissen angepaßt; die
Mehrzahl hat ein vereinfachtes Menü für Lunch und Abendessen zu 2^ und
3 Shilling eingeführt. Aber die Gasthäuser können sich dazu nicht entschließen.
Sie berufen sich darauf, daß ihre Gäste zum größten Teil beurlaubte Offiziere
seien, denen man nicht zumuten könne, sich einzuschränken. Nun ist es ja
richtig, daß einer, der vielleicht zum letztenmal in seinem Leben in gemütlicher
Umgebung ißt und trinkt, dieses auch gründlich tun möchte. Aber die Herren
Offiziere sitzen niemals allein bei Tisch; sie befinden sich immer in größerer
Gesellschaft, und natürlich will keiner dem anderen nachstehen — und so werden
täglich tausende von Fleischportionen verschwendet, die gespart werden könnten.
Die Zeitungen verkünden, daß gegen die Gasthäuser „vorläufig" nicht ein¬
geschritten werden solle — einmal aber muß es doch dazu kommen, und dann
wird es sich zeigen, daß ein beurlaubter Offizier ebenso gemütlich für 3 Shilling
soupieren kann, wie für ein ^2 Pfund. Alles wird kommen, alles wird sich
machen lassen, die Regenschirme werden alle einmal aufgeklappt, aber erst muß
man tüchtig naß geworden sein.

Ich bitte alles hier Gesagte nicht für Ironie zu nehmen. Ich bin fest
überzeugt, daß die Mobilmachung der englischen Volkskraft allmählich bis zu
ihrem Höhepunkt gelangen wird, daß alles, was bisher noch nicht geschehen ist,
geschehen wird. Alles wird zu seiner Zeit kommen. Ob aber unser aller
Kräfte noch ausreichen, diese Zeit zu erleben — das ist die Frage.




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_331409/165>, abgerufen am 23.07.2024.