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Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Erstes Vierteljahr.

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Von der Times, der Diktatur und andern Dingen

geführt. Wie viel Tonnen find das? Und wie viel Tonnen könnten erspart
werden?

Freilich müßte man dazu auf die geschichtlichen Eigentümlichkeiten ver¬
zichten. Die "Times" müßte z. B. die Hofnachrichten kürzen oder ganz fallen
lassen. Sie dürfte nicht mehr berichten, daß die Marquise of An von ihrem
Schloß Culzeon Castle nach London abgereist sei, und daß demnächst die Ver¬
mählung des Oberleutnants D. mit Miß M. stattfinde, der zweiten Tochter
des verstorber-en Mister M. und seiner noch lebenden Gattin, Mistreß M. aus
Holmscy-Line. Das alles müßte wegfallen.

Oder die Zuschriften an die Redaktion. Kürzlich hatte die bekannte Miß
Hobhouse mit Genehmigung der deutschen Militärverwaltung Belgien bereist
und teilte in einer Zuschrift an die Redaktion mit, Löwen sei unversehrt ge¬
blieben, mit Ausnahme der zerstörten Stadtteile. Sofort regnete es Proteste
von allen Seiten. Man fragte, was Miß Hobhouse in Deutschland zu suchen
gehabt hätte; man erklärte, Löwen sei vollständig zerstört -- mit Ausnahme
der unversehrt gebliebenen Stadtteile. Zählt man all diese Zuschriften zu¬
sammen, so erweist es sich, daß an Stelle des auf die Hetzerei der
Miß Hobhouse verschwendeten Papiers genug Eier nach England hätten ein¬
geführt werden können, um die Versorgung einer ganzen Grafschaft für
mindestens einen Tag sicher zu stellen.

Aber gegen die "historischen Eigentümlichkeiten" läßt sich nicht ankämpfen.
Die Lebensmittelpreise steigen unausgesetzt, die U-Boote arbeiten unermüdlich,
jeder Quadratzentimeter Schiffsraum wird mit Gold aufgewogen -- aber die
Leute kommen nicht auf den doch so einfachen Gedanken, diesen Schiffsraum
vor allem von den historischen Eigentümlichkeiten zu säubern und den frei¬
gewordenen Raum mit Tausenden von Tonnen Getreide, Kartoffeln, Milch
und Fleisch auszufüllen.

Wenn der Krieg genügend lange dauert, wird es natürlich auch dazu
kommen. Der Augenblick muß kommen, wo alle einsehen, daß es unvernünftig
ist, Papier und Zellulose für unnütze Dinge einzuführen, wenn der Ausgang
des Weltringens selbst in erster Linie von einer vernünftigen Ausnutzung des
Frachtraums der Schiffe abhängt. Wenn das erst allen klar geworden ist,
wird auch die "Times" nicht munter. Sie wird die geschichtlichen Eigentüm¬
lichkeiten fahren lassen und ihren Umfang um die Hälfte, um ein Viertel,
oder um wieviel es eben nötig sein sollte, verringern. Aber das wird erst
dann geschehen, wenn es klar geworden ist, daß es geschehen muß. Neu¬
gierige werden fragen: Ist denn das nicht jetzt schon völlig klar? Leider muß
ich antworten: Nein, augenblicklich noch nicht. Die Neugierigen werden
staunend weiter fragen: Wieso denn? Wie viel Zeit und welcher Art
Anschauungsunterricht sind denn noch nötig, um die Leute dazu zu bringen,
einen so einfachen Schluß aus der augenfälligen Not des Augenblicks
zu ziehen? Darauf kann ich nur antworten: Das weiß kein Mensch zu sagen.


Von der Times, der Diktatur und andern Dingen

geführt. Wie viel Tonnen find das? Und wie viel Tonnen könnten erspart
werden?

Freilich müßte man dazu auf die geschichtlichen Eigentümlichkeiten ver¬
zichten. Die „Times" müßte z. B. die Hofnachrichten kürzen oder ganz fallen
lassen. Sie dürfte nicht mehr berichten, daß die Marquise of An von ihrem
Schloß Culzeon Castle nach London abgereist sei, und daß demnächst die Ver¬
mählung des Oberleutnants D. mit Miß M. stattfinde, der zweiten Tochter
des verstorber-en Mister M. und seiner noch lebenden Gattin, Mistreß M. aus
Holmscy-Line. Das alles müßte wegfallen.

Oder die Zuschriften an die Redaktion. Kürzlich hatte die bekannte Miß
Hobhouse mit Genehmigung der deutschen Militärverwaltung Belgien bereist
und teilte in einer Zuschrift an die Redaktion mit, Löwen sei unversehrt ge¬
blieben, mit Ausnahme der zerstörten Stadtteile. Sofort regnete es Proteste
von allen Seiten. Man fragte, was Miß Hobhouse in Deutschland zu suchen
gehabt hätte; man erklärte, Löwen sei vollständig zerstört — mit Ausnahme
der unversehrt gebliebenen Stadtteile. Zählt man all diese Zuschriften zu¬
sammen, so erweist es sich, daß an Stelle des auf die Hetzerei der
Miß Hobhouse verschwendeten Papiers genug Eier nach England hätten ein¬
geführt werden können, um die Versorgung einer ganzen Grafschaft für
mindestens einen Tag sicher zu stellen.

Aber gegen die „historischen Eigentümlichkeiten" läßt sich nicht ankämpfen.
Die Lebensmittelpreise steigen unausgesetzt, die U-Boote arbeiten unermüdlich,
jeder Quadratzentimeter Schiffsraum wird mit Gold aufgewogen — aber die
Leute kommen nicht auf den doch so einfachen Gedanken, diesen Schiffsraum
vor allem von den historischen Eigentümlichkeiten zu säubern und den frei¬
gewordenen Raum mit Tausenden von Tonnen Getreide, Kartoffeln, Milch
und Fleisch auszufüllen.

Wenn der Krieg genügend lange dauert, wird es natürlich auch dazu
kommen. Der Augenblick muß kommen, wo alle einsehen, daß es unvernünftig
ist, Papier und Zellulose für unnütze Dinge einzuführen, wenn der Ausgang
des Weltringens selbst in erster Linie von einer vernünftigen Ausnutzung des
Frachtraums der Schiffe abhängt. Wenn das erst allen klar geworden ist,
wird auch die „Times" nicht munter. Sie wird die geschichtlichen Eigentüm¬
lichkeiten fahren lassen und ihren Umfang um die Hälfte, um ein Viertel,
oder um wieviel es eben nötig sein sollte, verringern. Aber das wird erst
dann geschehen, wenn es klar geworden ist, daß es geschehen muß. Neu¬
gierige werden fragen: Ist denn das nicht jetzt schon völlig klar? Leider muß
ich antworten: Nein, augenblicklich noch nicht. Die Neugierigen werden
staunend weiter fragen: Wieso denn? Wie viel Zeit und welcher Art
Anschauungsunterricht sind denn noch nötig, um die Leute dazu zu bringen,
einen so einfachen Schluß aus der augenfälligen Not des Augenblicks
zu ziehen? Darauf kann ich nur antworten: Das weiß kein Mensch zu sagen.


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[0163] Von der Times, der Diktatur und andern Dingen geführt. Wie viel Tonnen find das? Und wie viel Tonnen könnten erspart werden? Freilich müßte man dazu auf die geschichtlichen Eigentümlichkeiten ver¬ zichten. Die „Times" müßte z. B. die Hofnachrichten kürzen oder ganz fallen lassen. Sie dürfte nicht mehr berichten, daß die Marquise of An von ihrem Schloß Culzeon Castle nach London abgereist sei, und daß demnächst die Ver¬ mählung des Oberleutnants D. mit Miß M. stattfinde, der zweiten Tochter des verstorber-en Mister M. und seiner noch lebenden Gattin, Mistreß M. aus Holmscy-Line. Das alles müßte wegfallen. Oder die Zuschriften an die Redaktion. Kürzlich hatte die bekannte Miß Hobhouse mit Genehmigung der deutschen Militärverwaltung Belgien bereist und teilte in einer Zuschrift an die Redaktion mit, Löwen sei unversehrt ge¬ blieben, mit Ausnahme der zerstörten Stadtteile. Sofort regnete es Proteste von allen Seiten. Man fragte, was Miß Hobhouse in Deutschland zu suchen gehabt hätte; man erklärte, Löwen sei vollständig zerstört — mit Ausnahme der unversehrt gebliebenen Stadtteile. Zählt man all diese Zuschriften zu¬ sammen, so erweist es sich, daß an Stelle des auf die Hetzerei der Miß Hobhouse verschwendeten Papiers genug Eier nach England hätten ein¬ geführt werden können, um die Versorgung einer ganzen Grafschaft für mindestens einen Tag sicher zu stellen. Aber gegen die „historischen Eigentümlichkeiten" läßt sich nicht ankämpfen. Die Lebensmittelpreise steigen unausgesetzt, die U-Boote arbeiten unermüdlich, jeder Quadratzentimeter Schiffsraum wird mit Gold aufgewogen — aber die Leute kommen nicht auf den doch so einfachen Gedanken, diesen Schiffsraum vor allem von den historischen Eigentümlichkeiten zu säubern und den frei¬ gewordenen Raum mit Tausenden von Tonnen Getreide, Kartoffeln, Milch und Fleisch auszufüllen. Wenn der Krieg genügend lange dauert, wird es natürlich auch dazu kommen. Der Augenblick muß kommen, wo alle einsehen, daß es unvernünftig ist, Papier und Zellulose für unnütze Dinge einzuführen, wenn der Ausgang des Weltringens selbst in erster Linie von einer vernünftigen Ausnutzung des Frachtraums der Schiffe abhängt. Wenn das erst allen klar geworden ist, wird auch die „Times" nicht munter. Sie wird die geschichtlichen Eigentüm¬ lichkeiten fahren lassen und ihren Umfang um die Hälfte, um ein Viertel, oder um wieviel es eben nötig sein sollte, verringern. Aber das wird erst dann geschehen, wenn es klar geworden ist, daß es geschehen muß. Neu¬ gierige werden fragen: Ist denn das nicht jetzt schon völlig klar? Leider muß ich antworten: Nein, augenblicklich noch nicht. Die Neugierigen werden staunend weiter fragen: Wieso denn? Wie viel Zeit und welcher Art Anschauungsunterricht sind denn noch nötig, um die Leute dazu zu bringen, einen so einfachen Schluß aus der augenfälligen Not des Augenblicks zu ziehen? Darauf kann ich nur antworten: Das weiß kein Mensch zu sagen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_331409/163>, abgerufen am 25.08.2024.