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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr.

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Erdkunde in den höheren Schulen

.soweit sie zum Verständnis der Völker und des Siaatswesen dient, bitter not.
Längst hat sich zwar -- und mit Recht -- die eigentliche Völkerkunde aus dem
Verbände der Gesamtgeozraphie als Wissenschaft losgelöst. Aber doch sind,
unbeschadet ihrer Sonderziele, Erdkunde und Völkerkunde in Forschung und Lehre
aufeinander angewiesen. Im Rahmen der Schulerdkunde lassen sich beide Wissen¬
schaften noch viel weniger ohne Schaden voneinander trennen. Es wäre eine wichtige
Aufgabe der Schulerdkunde, die geistig-seelische, körperliche und, nicht zuletzt -- die
kulturelle Eigenart der Völker darzustellen: der sogenannten Natur- wie der Halb-
und Vollkulturvölker. Leider konnte -- aus Gründen, die weiter unten erörtert
werden sollen -- von einer planmäßigen und vom Bewußtsein ihrer inneren Bedeut¬
samkeit erfüllten Arbeit der höheren Schule auf diesem Gebiet bisher wohl nur in
Ausnahmefällen die Rede sein. Soweit ich sehe, fanden bezügliche Äußerungen von
Ethnologen und Kolonialpolitikern bisher nicht den verdienten Beifall in ma߬
gebenden Kreisen; jedenfalls hat man aus ihnen nicht die praktischen Folge¬
rungen für einen zeitgemäßen Ausbau des Erdkundenunterrichts, im besonderen
auf der Oberstufe, gezogen.

Die großen Linien dessen, was sich, vom nationalen Standpunkt angesehen,
im Schulbetrieb unseres Faches zu ändern bezw. anzubahnen hat, zeichnet
Paul Rohrbach in den folgenden, der "Deutschen Politik" entnommenen Dar¬
legungen:

. . . "Das Bekenntnis zur Internationalen und zum Völkerfrieden ist an
und sür sich heute praktisch ebenso zick- und wertlos, wie das zum Schutz des
Vaterlandes und selbst der Welt- und Überseepolitik. Die Allgemeinheiten helfen
nichts, es muß vielmehr das Wissen um eine bestimmte Mindestmenge von
positivem Stoff und eine Vorstellung davon erlangt werden, was dieser Stoff,
diese Tatsachen mit unsern nationalen Interessen zu tun haben. . . .

Angenommen, wir wollten das, was wir brauchen, schulmäßig lehrhast
ausdrücken, so wäre ein neues Fach in die Volksbildung einzuführen: politische
Weltkunde. Bleibt man, um zunächst durch die Entwicklung eines Themas
formelle Deutlichkeit für unsern Gedanken zu gewinnen, bei dem Bilde eines
Schulfaches, so könnte über die Grundlage, auf der es aufzubauen wäre, kein
Zweifel sein: natürliche und politische Erdkunde. Erweitert man diesen Begriff
nach der geschichtlichen und kulturwissenschaftlichen Seite hin, so hat man das
beisammen, was als Wissen und Anschauung in unsere nationalen Bildung auf¬
genommen werden muß. . . .

Nirgends ist es damit getan, die Flüsse und Gebiete, die Grenzen und
Städte, die Quadratzahlen und die Einwohnerzahlen im Kopfe zu haben. Über¬
all kommt es auf die innere Verbindung dieser Dinge an, und darauf, wie sie
sich in politische Notwendigkeiten und politisches Streben umsetzen. Überall
kommt es vor allen Dingen darauf an, was für Menschen in den Ländern
wohnen und was für eine Sinnesart sich in ihnen gebildet hat. Das alles ist
"Weltkunde", und wenn diese Art von Weltkunde nicht recht bald zu einem


Erdkunde in den höheren Schulen

.soweit sie zum Verständnis der Völker und des Siaatswesen dient, bitter not.
Längst hat sich zwar — und mit Recht — die eigentliche Völkerkunde aus dem
Verbände der Gesamtgeozraphie als Wissenschaft losgelöst. Aber doch sind,
unbeschadet ihrer Sonderziele, Erdkunde und Völkerkunde in Forschung und Lehre
aufeinander angewiesen. Im Rahmen der Schulerdkunde lassen sich beide Wissen¬
schaften noch viel weniger ohne Schaden voneinander trennen. Es wäre eine wichtige
Aufgabe der Schulerdkunde, die geistig-seelische, körperliche und, nicht zuletzt — die
kulturelle Eigenart der Völker darzustellen: der sogenannten Natur- wie der Halb-
und Vollkulturvölker. Leider konnte — aus Gründen, die weiter unten erörtert
werden sollen — von einer planmäßigen und vom Bewußtsein ihrer inneren Bedeut¬
samkeit erfüllten Arbeit der höheren Schule auf diesem Gebiet bisher wohl nur in
Ausnahmefällen die Rede sein. Soweit ich sehe, fanden bezügliche Äußerungen von
Ethnologen und Kolonialpolitikern bisher nicht den verdienten Beifall in ma߬
gebenden Kreisen; jedenfalls hat man aus ihnen nicht die praktischen Folge¬
rungen für einen zeitgemäßen Ausbau des Erdkundenunterrichts, im besonderen
auf der Oberstufe, gezogen.

Die großen Linien dessen, was sich, vom nationalen Standpunkt angesehen,
im Schulbetrieb unseres Faches zu ändern bezw. anzubahnen hat, zeichnet
Paul Rohrbach in den folgenden, der „Deutschen Politik" entnommenen Dar¬
legungen:

. . . „Das Bekenntnis zur Internationalen und zum Völkerfrieden ist an
und sür sich heute praktisch ebenso zick- und wertlos, wie das zum Schutz des
Vaterlandes und selbst der Welt- und Überseepolitik. Die Allgemeinheiten helfen
nichts, es muß vielmehr das Wissen um eine bestimmte Mindestmenge von
positivem Stoff und eine Vorstellung davon erlangt werden, was dieser Stoff,
diese Tatsachen mit unsern nationalen Interessen zu tun haben. . . .

Angenommen, wir wollten das, was wir brauchen, schulmäßig lehrhast
ausdrücken, so wäre ein neues Fach in die Volksbildung einzuführen: politische
Weltkunde. Bleibt man, um zunächst durch die Entwicklung eines Themas
formelle Deutlichkeit für unsern Gedanken zu gewinnen, bei dem Bilde eines
Schulfaches, so könnte über die Grundlage, auf der es aufzubauen wäre, kein
Zweifel sein: natürliche und politische Erdkunde. Erweitert man diesen Begriff
nach der geschichtlichen und kulturwissenschaftlichen Seite hin, so hat man das
beisammen, was als Wissen und Anschauung in unsere nationalen Bildung auf¬
genommen werden muß. . . .

Nirgends ist es damit getan, die Flüsse und Gebiete, die Grenzen und
Städte, die Quadratzahlen und die Einwohnerzahlen im Kopfe zu haben. Über¬
all kommt es auf die innere Verbindung dieser Dinge an, und darauf, wie sie
sich in politische Notwendigkeiten und politisches Streben umsetzen. Überall
kommt es vor allen Dingen darauf an, was für Menschen in den Ländern
wohnen und was für eine Sinnesart sich in ihnen gebildet hat. Das alles ist
„Weltkunde", und wenn diese Art von Weltkunde nicht recht bald zu einem


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[0057] Erdkunde in den höheren Schulen .soweit sie zum Verständnis der Völker und des Siaatswesen dient, bitter not. Längst hat sich zwar — und mit Recht — die eigentliche Völkerkunde aus dem Verbände der Gesamtgeozraphie als Wissenschaft losgelöst. Aber doch sind, unbeschadet ihrer Sonderziele, Erdkunde und Völkerkunde in Forschung und Lehre aufeinander angewiesen. Im Rahmen der Schulerdkunde lassen sich beide Wissen¬ schaften noch viel weniger ohne Schaden voneinander trennen. Es wäre eine wichtige Aufgabe der Schulerdkunde, die geistig-seelische, körperliche und, nicht zuletzt — die kulturelle Eigenart der Völker darzustellen: der sogenannten Natur- wie der Halb- und Vollkulturvölker. Leider konnte — aus Gründen, die weiter unten erörtert werden sollen — von einer planmäßigen und vom Bewußtsein ihrer inneren Bedeut¬ samkeit erfüllten Arbeit der höheren Schule auf diesem Gebiet bisher wohl nur in Ausnahmefällen die Rede sein. Soweit ich sehe, fanden bezügliche Äußerungen von Ethnologen und Kolonialpolitikern bisher nicht den verdienten Beifall in ma߬ gebenden Kreisen; jedenfalls hat man aus ihnen nicht die praktischen Folge¬ rungen für einen zeitgemäßen Ausbau des Erdkundenunterrichts, im besonderen auf der Oberstufe, gezogen. Die großen Linien dessen, was sich, vom nationalen Standpunkt angesehen, im Schulbetrieb unseres Faches zu ändern bezw. anzubahnen hat, zeichnet Paul Rohrbach in den folgenden, der „Deutschen Politik" entnommenen Dar¬ legungen: . . . „Das Bekenntnis zur Internationalen und zum Völkerfrieden ist an und sür sich heute praktisch ebenso zick- und wertlos, wie das zum Schutz des Vaterlandes und selbst der Welt- und Überseepolitik. Die Allgemeinheiten helfen nichts, es muß vielmehr das Wissen um eine bestimmte Mindestmenge von positivem Stoff und eine Vorstellung davon erlangt werden, was dieser Stoff, diese Tatsachen mit unsern nationalen Interessen zu tun haben. . . . Angenommen, wir wollten das, was wir brauchen, schulmäßig lehrhast ausdrücken, so wäre ein neues Fach in die Volksbildung einzuführen: politische Weltkunde. Bleibt man, um zunächst durch die Entwicklung eines Themas formelle Deutlichkeit für unsern Gedanken zu gewinnen, bei dem Bilde eines Schulfaches, so könnte über die Grundlage, auf der es aufzubauen wäre, kein Zweifel sein: natürliche und politische Erdkunde. Erweitert man diesen Begriff nach der geschichtlichen und kulturwissenschaftlichen Seite hin, so hat man das beisammen, was als Wissen und Anschauung in unsere nationalen Bildung auf¬ genommen werden muß. . . . Nirgends ist es damit getan, die Flüsse und Gebiete, die Grenzen und Städte, die Quadratzahlen und die Einwohnerzahlen im Kopfe zu haben. Über¬ all kommt es auf die innere Verbindung dieser Dinge an, und darauf, wie sie sich in politische Notwendigkeiten und politisches Streben umsetzen. Überall kommt es vor allen Dingen darauf an, was für Menschen in den Ländern wohnen und was für eine Sinnesart sich in ihnen gebildet hat. Das alles ist „Weltkunde", und wenn diese Art von Weltkunde nicht recht bald zu einem

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330971/57>, abgerufen am 23.07.2024.