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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr.

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Erdkunde in den höheren Schulen

Bedrängnis überhaupt erst bekannt wurde, wird späteren Geschlechtern hoffentlich
nur schwer verständlich erscheinen.

Weiterhin ist die Erdkunde als Unterrichtsfach höherer Schulen berufen,
noch weit entschiedener, als es bisher meist geschah, vor allem die wirtschaft¬
lichen und die völkischen Beziehungen des Deutschtums zum Auslande gebührend
zu würdigen. Es scheint, als wenn wir uns in diesen Punkten früher teils
von der vielberufenen deutschen "Objektivität" gegenüber anderen Völkern und
ihrer nationalen Betrachtungsweise, teils von falsch verstandener Wissenschaft¬
lichkeit und der Lust an systematischer Vollständigkeit allzusehr haben be¬
stimmen lassen.




So einfach wie auf dem Gebiet der Erziehung zu deutscher Bildung und
deutschem Nationalbewußtsein liegen die Dinge keineswegs, wenn wir uns nun
die Frage der staatsbürgerlichen Bildung zuwenden. Wie bekannt, wird sie
nach ihrer stofflichen Seite außerordentlich verschieden gesaßt. Dem einen be¬
deutet sie im wesentlichen ein Bekanntmachen mit den Grundfragen und Haupt¬
tatsachen der Verfassung, der Staatsverwaltung und der Volksvertretung. Andere
möchten der Staatsbürgerkunde im Schulunterricht je nachdem einen mehr histori¬
schen, juristischen oder soziologischen Einschlag geben. So berechtigt nun diese
Auffassungen sein mögen, darf daneben doch die folgenschwere Tatsache nicht
übersehen werden, daß Staat und Staatsboden aufs engste zueinander
gehören und in mannigfacher Wechselbeziehung zueinander stehen. Diese
letztere Betrachtungsweise kommt aber derjenigen der wissenschaftlichen politischen
Erdkunde von heute sehr nahe. Es ist daher von der heraufkommenden
staatsbürgerlichen Bildung eine vertiefte Einsicht in die Abhängigkeit der Volks-
wie der Weltwirtschaft von den physisch-geographischen Verhältnissen zu fordern.
Man denke nur z. B. an die zahlreichen Gelegenheiten, die städtebildende und
städtevergrößernde Wirkung gerade der Industrie (im Gegensatz zur Landwirt¬
schaft) mit ihren für das gesamte Staatsleben bedeutsamen Licht- und Schatten¬
seiten. Diesen und vielen ähnlichen Vorfragen der inneren Politik kann eine
im staatsbürgerlichen Sinne bildende und erziehliche Wirkung schwerlich abge¬
sprochen werden. Ja, man darf getrost behaupten, daß die Anschauungsweise
der modernen politischen Erdkunde geradezu eine unentbehrliche Ergänzung zu
dem Bilde liefert, das der Schüler aus der mehr rückschauenden Betrachtung
des Geschichtsunterrichts gewinnt. Gibt dieser gleichsam den Längsschnitt der
politischen und kulturellen Entwicklung, so die Erdkunde den Querschnitt. An¬
gesichts der ununterbrochenen heutigen Volksverschiebungen innerhalb der Staats¬
grenzen und über diese hinweg darf der Schüler bei der Erwähnung des Begriffs
"Völkerwanderung" nun nicht mehr wie hypnotisiert einzig die Jahreszahl
375 n. Chr. sich ins Gedächtnis zurückrufen; und wenn mit der gewohnten
Ausführlichkeit von der Agrarreform des Gracchus die Rede ist, warum ist dann


Erdkunde in den höheren Schulen

Bedrängnis überhaupt erst bekannt wurde, wird späteren Geschlechtern hoffentlich
nur schwer verständlich erscheinen.

Weiterhin ist die Erdkunde als Unterrichtsfach höherer Schulen berufen,
noch weit entschiedener, als es bisher meist geschah, vor allem die wirtschaft¬
lichen und die völkischen Beziehungen des Deutschtums zum Auslande gebührend
zu würdigen. Es scheint, als wenn wir uns in diesen Punkten früher teils
von der vielberufenen deutschen „Objektivität" gegenüber anderen Völkern und
ihrer nationalen Betrachtungsweise, teils von falsch verstandener Wissenschaft¬
lichkeit und der Lust an systematischer Vollständigkeit allzusehr haben be¬
stimmen lassen.




So einfach wie auf dem Gebiet der Erziehung zu deutscher Bildung und
deutschem Nationalbewußtsein liegen die Dinge keineswegs, wenn wir uns nun
die Frage der staatsbürgerlichen Bildung zuwenden. Wie bekannt, wird sie
nach ihrer stofflichen Seite außerordentlich verschieden gesaßt. Dem einen be¬
deutet sie im wesentlichen ein Bekanntmachen mit den Grundfragen und Haupt¬
tatsachen der Verfassung, der Staatsverwaltung und der Volksvertretung. Andere
möchten der Staatsbürgerkunde im Schulunterricht je nachdem einen mehr histori¬
schen, juristischen oder soziologischen Einschlag geben. So berechtigt nun diese
Auffassungen sein mögen, darf daneben doch die folgenschwere Tatsache nicht
übersehen werden, daß Staat und Staatsboden aufs engste zueinander
gehören und in mannigfacher Wechselbeziehung zueinander stehen. Diese
letztere Betrachtungsweise kommt aber derjenigen der wissenschaftlichen politischen
Erdkunde von heute sehr nahe. Es ist daher von der heraufkommenden
staatsbürgerlichen Bildung eine vertiefte Einsicht in die Abhängigkeit der Volks-
wie der Weltwirtschaft von den physisch-geographischen Verhältnissen zu fordern.
Man denke nur z. B. an die zahlreichen Gelegenheiten, die städtebildende und
städtevergrößernde Wirkung gerade der Industrie (im Gegensatz zur Landwirt¬
schaft) mit ihren für das gesamte Staatsleben bedeutsamen Licht- und Schatten¬
seiten. Diesen und vielen ähnlichen Vorfragen der inneren Politik kann eine
im staatsbürgerlichen Sinne bildende und erziehliche Wirkung schwerlich abge¬
sprochen werden. Ja, man darf getrost behaupten, daß die Anschauungsweise
der modernen politischen Erdkunde geradezu eine unentbehrliche Ergänzung zu
dem Bilde liefert, das der Schüler aus der mehr rückschauenden Betrachtung
des Geschichtsunterrichts gewinnt. Gibt dieser gleichsam den Längsschnitt der
politischen und kulturellen Entwicklung, so die Erdkunde den Querschnitt. An¬
gesichts der ununterbrochenen heutigen Volksverschiebungen innerhalb der Staats¬
grenzen und über diese hinweg darf der Schüler bei der Erwähnung des Begriffs
„Völkerwanderung" nun nicht mehr wie hypnotisiert einzig die Jahreszahl
375 n. Chr. sich ins Gedächtnis zurückrufen; und wenn mit der gewohnten
Ausführlichkeit von der Agrarreform des Gracchus die Rede ist, warum ist dann


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330971/55>, abgerufen am 23.07.2024.