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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr.

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Erdkunde in den höheren Schulen

bisher üblich, angelegen sein lassen, den verschiedenen Schulformen ein stark
ausgeprägtes Gemeinsames zu geben, dem einzelnen Schüler aber vermehrte
Gelegenheit, den von ihm erworbenen geistigen Besitz wie von einer höheren
Warte überschauen und dessen einzelne Teile in innerer Beziehung zueinander
zu setzen.

Wie kann die Erdkunde zur Lösung der genannten Aufgaben beitragen?




"Vor allem soll der Deutsche wissen, was er an seinem Lande hat," sagt
Fr. Ratzel. Mancher wird erwidern, der Landeskunde des Deutschen Reiches
werde seitens der höheren Schulen genügende Aufmerksamkeit geschenkt. Soweit
sich dies auf den Unterricht der Unter- und Mittelstufe bezieht, trifft es im
großen und ganzen auch zu. Es kann aber nicht entschieden genug darauf
hingewiesen werden, daß es gerade auch in der Länderkunde sehr viel weniger
auf das Was als auf das Wie ankommt. Mit dem leider noch vielfach üb¬
lichen Auswendiglernenlassen unzähliger Gebirge, Berge, Flüsse, Städte usw.
erzieht man schlecht zu deutsch-nationaler Bildung und Gesinnung. Vielmehr
gilt es, unter Beschränkung des Gedüchtnisstoffes auf das unbedingt Notwendige,
möglichst alle Geistes- und Gemütskräfte anzuregen. Welche nicht ganz gering
einzuschätzenden Einsichten und Triebfedern deS Wollsns lassen sich z. B. schon
aus der rechten Beobachtung unserer Grenzen, ihrer Zugänglichkeit für den
Verkehr, der Möglichkeit ihrer Verteidigung, der Lage der Festungen u. tgi. in.
selbst bei einer ersten elementaren Durchnahme der deutschen Landeskunde erwerben!

Vor dem Kriege war in weiten Kreisen unseres Volkes jeder, der "die
ganze Welt" kannte, co ip3v wie von einer Glorie umgeben. Ob ihm das
eigene Vaterland nach seiner landschaftlichen und völkischen Eigenart aus persön¬
licher Anschauung entsprechend vertraut war, kam dagegen kaum in Betracht.
Gewiß hat der Modegeschmack feinen nicht zu unterschätzenden Anteil, wenn
bald Italien oder Ägypten das Ziel deutscher Reiselust war, bald Schweden oder
irgendeine andere Weltgegend im Sinne des Touristen als "modern" galten.
Nun aber die Kehrseite! Wie viele Süddeutsche, die nicht Beruf oder Zufall
dorthin führte, kannten die landschaftliche Anmut der Holsteinischen Schweiz?
Wie viele norddeutsche die stille Größe der Vogesenlandschaft? Wie viele Rhein¬
länder die seit Hindenburg sozusagen "entdeckten" masurischen Seen? -- Ab¬
gesehen von der landläufigen Geringschätzung alles dessen, was "nicht weit her"
war. hatte nicht zuletzt die mangelnde Sachkenntnis, d. h. letzten Endes die
geographische Schulbildung einen Hauptanteil an der Schuld. -- Bis vor etwa
einem Jahrzehnt war höchstens ausnahmsweise einmal das Deutschtum im Aus¬
lande Gegenstand erdkundlicher Betrachtung in der Schule. Es ist ein an¬
erkennenswertes Verdienst der neueren Schulbücher, daß sie, und zwar schon seit
einigen Jahren vor dem Kriege, die frühere Versäumnis gutzumachen suchen.
Daß aber der Mehrzahl der Gebildeten Deutschlands die Tatsache der "zwei
Millionen deutscher Bauern" in Rußland im Augenblick ihrer höchsten nationalen


Erdkunde in den höheren Schulen

bisher üblich, angelegen sein lassen, den verschiedenen Schulformen ein stark
ausgeprägtes Gemeinsames zu geben, dem einzelnen Schüler aber vermehrte
Gelegenheit, den von ihm erworbenen geistigen Besitz wie von einer höheren
Warte überschauen und dessen einzelne Teile in innerer Beziehung zueinander
zu setzen.

Wie kann die Erdkunde zur Lösung der genannten Aufgaben beitragen?




„Vor allem soll der Deutsche wissen, was er an seinem Lande hat," sagt
Fr. Ratzel. Mancher wird erwidern, der Landeskunde des Deutschen Reiches
werde seitens der höheren Schulen genügende Aufmerksamkeit geschenkt. Soweit
sich dies auf den Unterricht der Unter- und Mittelstufe bezieht, trifft es im
großen und ganzen auch zu. Es kann aber nicht entschieden genug darauf
hingewiesen werden, daß es gerade auch in der Länderkunde sehr viel weniger
auf das Was als auf das Wie ankommt. Mit dem leider noch vielfach üb¬
lichen Auswendiglernenlassen unzähliger Gebirge, Berge, Flüsse, Städte usw.
erzieht man schlecht zu deutsch-nationaler Bildung und Gesinnung. Vielmehr
gilt es, unter Beschränkung des Gedüchtnisstoffes auf das unbedingt Notwendige,
möglichst alle Geistes- und Gemütskräfte anzuregen. Welche nicht ganz gering
einzuschätzenden Einsichten und Triebfedern deS Wollsns lassen sich z. B. schon
aus der rechten Beobachtung unserer Grenzen, ihrer Zugänglichkeit für den
Verkehr, der Möglichkeit ihrer Verteidigung, der Lage der Festungen u. tgi. in.
selbst bei einer ersten elementaren Durchnahme der deutschen Landeskunde erwerben!

Vor dem Kriege war in weiten Kreisen unseres Volkes jeder, der „die
ganze Welt" kannte, co ip3v wie von einer Glorie umgeben. Ob ihm das
eigene Vaterland nach seiner landschaftlichen und völkischen Eigenart aus persön¬
licher Anschauung entsprechend vertraut war, kam dagegen kaum in Betracht.
Gewiß hat der Modegeschmack feinen nicht zu unterschätzenden Anteil, wenn
bald Italien oder Ägypten das Ziel deutscher Reiselust war, bald Schweden oder
irgendeine andere Weltgegend im Sinne des Touristen als „modern" galten.
Nun aber die Kehrseite! Wie viele Süddeutsche, die nicht Beruf oder Zufall
dorthin führte, kannten die landschaftliche Anmut der Holsteinischen Schweiz?
Wie viele norddeutsche die stille Größe der Vogesenlandschaft? Wie viele Rhein¬
länder die seit Hindenburg sozusagen „entdeckten" masurischen Seen? — Ab¬
gesehen von der landläufigen Geringschätzung alles dessen, was „nicht weit her"
war. hatte nicht zuletzt die mangelnde Sachkenntnis, d. h. letzten Endes die
geographische Schulbildung einen Hauptanteil an der Schuld. — Bis vor etwa
einem Jahrzehnt war höchstens ausnahmsweise einmal das Deutschtum im Aus¬
lande Gegenstand erdkundlicher Betrachtung in der Schule. Es ist ein an¬
erkennenswertes Verdienst der neueren Schulbücher, daß sie, und zwar schon seit
einigen Jahren vor dem Kriege, die frühere Versäumnis gutzumachen suchen.
Daß aber der Mehrzahl der Gebildeten Deutschlands die Tatsache der „zwei
Millionen deutscher Bauern" in Rußland im Augenblick ihrer höchsten nationalen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330971/54>, abgerufen am 23.07.2024.