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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr.

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Geschichtschreibung neuester Zeit und ihre Kritik

Was hätten auch Neuauflagen für einen Zweck, wenn den Autoren,
ex eventu zu urteilen und sachliche Änderungen ihrer Ansicht wiederzugeben,
verboten wäre? Sollen sie sich etwa auf stilistische Verbesserungen beschränken?
Welcher Historiker urteilt nicht ex evsntu und ändert nicht auf Grund neuer
Tatsachen seine Darstellung? Verwerflich ist es in. E. nur, wenn jemand
von einer Persönlichkeit, um mit Valentin zu reden, abrückt, weil der Erfolg
ihrer an sich richtigen Handlungsweise infolge unvorhergesehener Ereignisse aus¬
geblieben ist. Das hat Reventlow nicht getan. Sein Urteil über die Fehler
und die Erfolge Bülowscher Politik ist in beiden Auflagen gleich, und die
veränderte Einschätzung des Staatssekretärs Kiderlen hat er sachlich ausreichend
begründet. Valentin möge sich doch mir die Änderungen in den verschiedenen
Auflagen von Treitschkes Deutscher Geschichte und Meineckes Weltbürgertum
und Nationalstaat ansehen und aus ihnen lernen, daß auch unsere bedeutendsten
Historiker sich neuen Tatsachen nicht verschlossen und in Neuauflagen geändert
haben.

In der Gesamtdarstellung weichen die drei Autoren in Einzelheiten des
Urteils und der Auffassung selbstverständlich voneinander ab. Erklärt doch
Reventlow einen so wesentlichen Bestandteil Bülowscher Staatskunst wie die
Marokkopolitik für in den Wurzeln fehlerhaft und insbesondere die Konferenz von
Algeciras für einen Mißerfolg, während Fürst Bülow nach wie vor von ihrem
Ergebnis befriedigt ist. In manchen Punkten beurteilte Reventlow unsere Lage
entschieden richtiger als Bülow. Bülow meinte noch 1914, nirgends habe die nord¬
amerikanische Union während des letzten Jahrhunderts besseres Verständnis und
gerechtere Anerkennung als in Deutschland gefunden. Solange die Politik
hüben und drüben von ruhigen Händen geleitet werde, brauchten wir für unsere
Beziehungen zu den Vereinigten Staaten nichts zu befürchten. Reventlow
machte schon damals auf die dortige feindselige Stimmung gegen uns auf¬
merksam, die nicht zum wenigsten dank den Einflüsterungen der englischen
Presse bei jedem Zwischenfall deutsche Eroberungspläne in Süd- und Mittel¬
amerika argwöhnte und warnte vor Illusionen, die in Amerika schon einen
künftigen Helfer bei einem Krieg zwischen Deutschland und Großbritannien
erblickten. Bülow geht über die Bedeutung Kiautschous für unser Verhältnis
zu Japan hinweg und meint nur 1916: "Durch den japanischen Vorstoß sind
dem japanischen Volk die Sympathien verloren gegangen, die wir ihm lange
entgegengebracht haben. Es wird an Japan sein, das Vertrauen des im Welt¬
kriege siegreichen Deutschen Reiches wiederzugewinnen." Reventlow meint,
nur das Einverständnis mit Japan hätte uns Kiautschou sichern können. Er
sagte schon 1914 mit Bezug auf die Ratifizierung der Londoner Seerechts¬
deklaration voraus, sie dürfte kaum erfolgen, weil das britische Volk darin
einmütig sei, auch nicht den Schein einer Rechtsverpflichtung für das Verfahren
im Seekriege auf sich zu nehmen, weil es glaubt, der nächste Seekrieg werde
mit der deutschen Flotte ausgefochten werden, und weil es dann gelten solle,


Geschichtschreibung neuester Zeit und ihre Kritik

Was hätten auch Neuauflagen für einen Zweck, wenn den Autoren,
ex eventu zu urteilen und sachliche Änderungen ihrer Ansicht wiederzugeben,
verboten wäre? Sollen sie sich etwa auf stilistische Verbesserungen beschränken?
Welcher Historiker urteilt nicht ex evsntu und ändert nicht auf Grund neuer
Tatsachen seine Darstellung? Verwerflich ist es in. E. nur, wenn jemand
von einer Persönlichkeit, um mit Valentin zu reden, abrückt, weil der Erfolg
ihrer an sich richtigen Handlungsweise infolge unvorhergesehener Ereignisse aus¬
geblieben ist. Das hat Reventlow nicht getan. Sein Urteil über die Fehler
und die Erfolge Bülowscher Politik ist in beiden Auflagen gleich, und die
veränderte Einschätzung des Staatssekretärs Kiderlen hat er sachlich ausreichend
begründet. Valentin möge sich doch mir die Änderungen in den verschiedenen
Auflagen von Treitschkes Deutscher Geschichte und Meineckes Weltbürgertum
und Nationalstaat ansehen und aus ihnen lernen, daß auch unsere bedeutendsten
Historiker sich neuen Tatsachen nicht verschlossen und in Neuauflagen geändert
haben.

In der Gesamtdarstellung weichen die drei Autoren in Einzelheiten des
Urteils und der Auffassung selbstverständlich voneinander ab. Erklärt doch
Reventlow einen so wesentlichen Bestandteil Bülowscher Staatskunst wie die
Marokkopolitik für in den Wurzeln fehlerhaft und insbesondere die Konferenz von
Algeciras für einen Mißerfolg, während Fürst Bülow nach wie vor von ihrem
Ergebnis befriedigt ist. In manchen Punkten beurteilte Reventlow unsere Lage
entschieden richtiger als Bülow. Bülow meinte noch 1914, nirgends habe die nord¬
amerikanische Union während des letzten Jahrhunderts besseres Verständnis und
gerechtere Anerkennung als in Deutschland gefunden. Solange die Politik
hüben und drüben von ruhigen Händen geleitet werde, brauchten wir für unsere
Beziehungen zu den Vereinigten Staaten nichts zu befürchten. Reventlow
machte schon damals auf die dortige feindselige Stimmung gegen uns auf¬
merksam, die nicht zum wenigsten dank den Einflüsterungen der englischen
Presse bei jedem Zwischenfall deutsche Eroberungspläne in Süd- und Mittel¬
amerika argwöhnte und warnte vor Illusionen, die in Amerika schon einen
künftigen Helfer bei einem Krieg zwischen Deutschland und Großbritannien
erblickten. Bülow geht über die Bedeutung Kiautschous für unser Verhältnis
zu Japan hinweg und meint nur 1916: „Durch den japanischen Vorstoß sind
dem japanischen Volk die Sympathien verloren gegangen, die wir ihm lange
entgegengebracht haben. Es wird an Japan sein, das Vertrauen des im Welt¬
kriege siegreichen Deutschen Reiches wiederzugewinnen." Reventlow meint,
nur das Einverständnis mit Japan hätte uns Kiautschou sichern können. Er
sagte schon 1914 mit Bezug auf die Ratifizierung der Londoner Seerechts¬
deklaration voraus, sie dürfte kaum erfolgen, weil das britische Volk darin
einmütig sei, auch nicht den Schein einer Rechtsverpflichtung für das Verfahren
im Seekriege auf sich zu nehmen, weil es glaubt, der nächste Seekrieg werde
mit der deutschen Flotte ausgefochten werden, und weil es dann gelten solle,


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[0386] Geschichtschreibung neuester Zeit und ihre Kritik Was hätten auch Neuauflagen für einen Zweck, wenn den Autoren, ex eventu zu urteilen und sachliche Änderungen ihrer Ansicht wiederzugeben, verboten wäre? Sollen sie sich etwa auf stilistische Verbesserungen beschränken? Welcher Historiker urteilt nicht ex evsntu und ändert nicht auf Grund neuer Tatsachen seine Darstellung? Verwerflich ist es in. E. nur, wenn jemand von einer Persönlichkeit, um mit Valentin zu reden, abrückt, weil der Erfolg ihrer an sich richtigen Handlungsweise infolge unvorhergesehener Ereignisse aus¬ geblieben ist. Das hat Reventlow nicht getan. Sein Urteil über die Fehler und die Erfolge Bülowscher Politik ist in beiden Auflagen gleich, und die veränderte Einschätzung des Staatssekretärs Kiderlen hat er sachlich ausreichend begründet. Valentin möge sich doch mir die Änderungen in den verschiedenen Auflagen von Treitschkes Deutscher Geschichte und Meineckes Weltbürgertum und Nationalstaat ansehen und aus ihnen lernen, daß auch unsere bedeutendsten Historiker sich neuen Tatsachen nicht verschlossen und in Neuauflagen geändert haben. In der Gesamtdarstellung weichen die drei Autoren in Einzelheiten des Urteils und der Auffassung selbstverständlich voneinander ab. Erklärt doch Reventlow einen so wesentlichen Bestandteil Bülowscher Staatskunst wie die Marokkopolitik für in den Wurzeln fehlerhaft und insbesondere die Konferenz von Algeciras für einen Mißerfolg, während Fürst Bülow nach wie vor von ihrem Ergebnis befriedigt ist. In manchen Punkten beurteilte Reventlow unsere Lage entschieden richtiger als Bülow. Bülow meinte noch 1914, nirgends habe die nord¬ amerikanische Union während des letzten Jahrhunderts besseres Verständnis und gerechtere Anerkennung als in Deutschland gefunden. Solange die Politik hüben und drüben von ruhigen Händen geleitet werde, brauchten wir für unsere Beziehungen zu den Vereinigten Staaten nichts zu befürchten. Reventlow machte schon damals auf die dortige feindselige Stimmung gegen uns auf¬ merksam, die nicht zum wenigsten dank den Einflüsterungen der englischen Presse bei jedem Zwischenfall deutsche Eroberungspläne in Süd- und Mittel¬ amerika argwöhnte und warnte vor Illusionen, die in Amerika schon einen künftigen Helfer bei einem Krieg zwischen Deutschland und Großbritannien erblickten. Bülow geht über die Bedeutung Kiautschous für unser Verhältnis zu Japan hinweg und meint nur 1916: „Durch den japanischen Vorstoß sind dem japanischen Volk die Sympathien verloren gegangen, die wir ihm lange entgegengebracht haben. Es wird an Japan sein, das Vertrauen des im Welt¬ kriege siegreichen Deutschen Reiches wiederzugewinnen." Reventlow meint, nur das Einverständnis mit Japan hätte uns Kiautschou sichern können. Er sagte schon 1914 mit Bezug auf die Ratifizierung der Londoner Seerechts¬ deklaration voraus, sie dürfte kaum erfolgen, weil das britische Volk darin einmütig sei, auch nicht den Schein einer Rechtsverpflichtung für das Verfahren im Seekriege auf sich zu nehmen, weil es glaubt, der nächste Seekrieg werde mit der deutschen Flotte ausgefochten werden, und weil es dann gelten solle,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330971/386>, abgerufen am 23.07.2024.