Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Geschichtschreibung neuester Zeit und ihre Kritik

brachten, haben den Dreibund nicht schwächen können." Die ge¬
sperrten Worte fehlen 1916. Dafür schreibt Bülow 1916 an anderer Stelle
(Seite 60) neu: "Durch die böhmische Annexionskrise wurde weder der Krieg
entfesselt, noch auch unser Verhältnis zu Rußland ernstlich geschädigt." Da¬
gegen fehlen hier wiederum in dem Satze: "Kaiser Nikolaus gab der Welt
einen neuen Beweis seiner Friedensliebe, indem er sich für einen
gütlichen Ausgleich entschied," die gesperrten Worte. Obwohl Bülow nach
seiner eigenen Mitteilung in der Vorrede 1916 vorgeworfen worden ist, er habe
1914 unser Verhältnis zu England zu sehr grau in grau gezeichnet, hat er doch noch
verschiedentlich zu optimistisch gesehen. So fehlt 1916 der Satz: "Die englische
Politik steht wohl unter dem Einfluß der Sorgen, die weite englische Kreise
vor der wirtschaftlichen Expansion und der wachsenden Seemacht Deutschlands
erfüllen. Seit dem Ende der Einkreisungspolitik 1908 denkt England aber
nicht mehr daran, seine gesamte, internationale Politik oder auch jede Einzel¬
heit seiner Beziehungen zum Deutschen Reich vom Gegensatz gegen Deutschland
abhängig zu machen." Auf andere geänderte Stellen, wie "Es wäre töricht,
die englische Politik mit dem zu Tode gehetzten Wort vom perfiden Albion
abtun zu wollen" hat schon Leopold von Wiese ("Berliner Tageblatt" vom
22. Juni) hingewiesen. Fürst Bülow hat überall da Änderungen vorgenommen,
wo die Ereignisse seinem politischen Scharfblick nicht recht gegeben haben. Will Va¬
lentin Bülow auch vorwerfen, er habe "denKrieg fand den billigen ex everitu Urteilen
des ephemeren Stimmungsrausches in seine Darstellung völlig eingearbeitet?"
Sachlich wiegen Bülows Änderungen viel schwerer; denn er verwischt hier die
Ideen, welche seiner eigenen Politik zugrunde lagen. Aber es war von ihm nicht
-M verlangen, daß er die Sätze, welche offenbar unrichtige Urteile enthielten,
stehen ließ; es war nur Sache des persönlichen Empfindens, ob er sein Werk, das
eine Verteidigung seiner Politik darstellt, nochmals erscheinen lassen wollte.

Auch bei Oncken finden sich selbstverständlich in der neuen Auflage Ände¬
rungen. Kein geschulter Historiker wird sie unterlassen, wenn neues Quellen-
Material und der Gang der Ereignisse die Überzeugung in ihm reisen lassen,
daß er seine frühere Darstellung nicht mehr vertreten kann. Die belgischen
Gesandtschaftsberichte, deren unschätzbaren Quellenwert Oncken gebührend hervor¬
hebt, haben zwar ähnlich wie bei Reventlow in der Hauptsache nur seine Auf-
sassung bestätigt, aber andere inzwischen bekannt gewordene diplomatische Akten¬
stücke haben ihn z. B. zu Änderungen über die Rolle Englands in der
böhmischen Krise und zu einer neuen Darstellung von Lord Haldanes Reise
nach Berlin im Jahre 1912 veranlaßt. Hervorzuheben ist auch der neue Satz
über England-Japan S. 592: "Die Kriegsentschlossenheit der englischen Regie-
wng (1911) geht auch daraus hervor, daß sie wenige Tage vor der Rede
von Lloyd George am 13. Juli einen neuen Vertrag mit Japan geschlossen
hatte, in dem die englische Gegengabe anscheinend in der zukünftigen Auslieferung
von Kiautschou im Kriegsfalle bestand."


Geschichtschreibung neuester Zeit und ihre Kritik

brachten, haben den Dreibund nicht schwächen können." Die ge¬
sperrten Worte fehlen 1916. Dafür schreibt Bülow 1916 an anderer Stelle
(Seite 60) neu: „Durch die böhmische Annexionskrise wurde weder der Krieg
entfesselt, noch auch unser Verhältnis zu Rußland ernstlich geschädigt." Da¬
gegen fehlen hier wiederum in dem Satze: „Kaiser Nikolaus gab der Welt
einen neuen Beweis seiner Friedensliebe, indem er sich für einen
gütlichen Ausgleich entschied," die gesperrten Worte. Obwohl Bülow nach
seiner eigenen Mitteilung in der Vorrede 1916 vorgeworfen worden ist, er habe
1914 unser Verhältnis zu England zu sehr grau in grau gezeichnet, hat er doch noch
verschiedentlich zu optimistisch gesehen. So fehlt 1916 der Satz: „Die englische
Politik steht wohl unter dem Einfluß der Sorgen, die weite englische Kreise
vor der wirtschaftlichen Expansion und der wachsenden Seemacht Deutschlands
erfüllen. Seit dem Ende der Einkreisungspolitik 1908 denkt England aber
nicht mehr daran, seine gesamte, internationale Politik oder auch jede Einzel¬
heit seiner Beziehungen zum Deutschen Reich vom Gegensatz gegen Deutschland
abhängig zu machen." Auf andere geänderte Stellen, wie „Es wäre töricht,
die englische Politik mit dem zu Tode gehetzten Wort vom perfiden Albion
abtun zu wollen" hat schon Leopold von Wiese („Berliner Tageblatt" vom
22. Juni) hingewiesen. Fürst Bülow hat überall da Änderungen vorgenommen,
wo die Ereignisse seinem politischen Scharfblick nicht recht gegeben haben. Will Va¬
lentin Bülow auch vorwerfen, er habe „denKrieg fand den billigen ex everitu Urteilen
des ephemeren Stimmungsrausches in seine Darstellung völlig eingearbeitet?"
Sachlich wiegen Bülows Änderungen viel schwerer; denn er verwischt hier die
Ideen, welche seiner eigenen Politik zugrunde lagen. Aber es war von ihm nicht
-M verlangen, daß er die Sätze, welche offenbar unrichtige Urteile enthielten,
stehen ließ; es war nur Sache des persönlichen Empfindens, ob er sein Werk, das
eine Verteidigung seiner Politik darstellt, nochmals erscheinen lassen wollte.

Auch bei Oncken finden sich selbstverständlich in der neuen Auflage Ände¬
rungen. Kein geschulter Historiker wird sie unterlassen, wenn neues Quellen-
Material und der Gang der Ereignisse die Überzeugung in ihm reisen lassen,
daß er seine frühere Darstellung nicht mehr vertreten kann. Die belgischen
Gesandtschaftsberichte, deren unschätzbaren Quellenwert Oncken gebührend hervor¬
hebt, haben zwar ähnlich wie bei Reventlow in der Hauptsache nur seine Auf-
sassung bestätigt, aber andere inzwischen bekannt gewordene diplomatische Akten¬
stücke haben ihn z. B. zu Änderungen über die Rolle Englands in der
böhmischen Krise und zu einer neuen Darstellung von Lord Haldanes Reise
nach Berlin im Jahre 1912 veranlaßt. Hervorzuheben ist auch der neue Satz
über England-Japan S. 592: „Die Kriegsentschlossenheit der englischen Regie-
wng (1911) geht auch daraus hervor, daß sie wenige Tage vor der Rede
von Lloyd George am 13. Juli einen neuen Vertrag mit Japan geschlossen
hatte, in dem die englische Gegengabe anscheinend in der zukünftigen Auslieferung
von Kiautschou im Kriegsfalle bestand."


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0385" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/331357"/>
          <fw type="header" place="top"> Geschichtschreibung neuester Zeit und ihre Kritik</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1445" prev="#ID_1444"> brachten, haben den Dreibund nicht schwächen können."  Die ge¬<lb/>
sperrten Worte fehlen 1916. Dafür schreibt Bülow 1916 an anderer Stelle<lb/>
(Seite 60) neu: &#x201E;Durch die böhmische Annexionskrise wurde weder der Krieg<lb/>
entfesselt, noch auch unser Verhältnis zu Rußland ernstlich geschädigt." Da¬<lb/>
gegen fehlen hier wiederum in dem Satze: &#x201E;Kaiser Nikolaus gab der Welt<lb/>
einen neuen Beweis seiner Friedensliebe, indem er sich für einen<lb/>
gütlichen Ausgleich entschied," die gesperrten Worte. Obwohl Bülow nach<lb/>
seiner eigenen Mitteilung in der Vorrede 1916 vorgeworfen worden ist, er habe<lb/>
1914 unser Verhältnis zu England zu sehr grau in grau gezeichnet, hat er doch noch<lb/>
verschiedentlich zu optimistisch gesehen. So fehlt 1916 der Satz: &#x201E;Die englische<lb/>
Politik steht wohl unter dem Einfluß der Sorgen, die weite englische Kreise<lb/>
vor der wirtschaftlichen Expansion und der wachsenden Seemacht Deutschlands<lb/>
erfüllen. Seit dem Ende der Einkreisungspolitik 1908 denkt England aber<lb/>
nicht mehr daran, seine gesamte, internationale Politik oder auch jede Einzel¬<lb/>
heit seiner Beziehungen zum Deutschen Reich vom Gegensatz gegen Deutschland<lb/>
abhängig zu machen."  Auf andere geänderte Stellen, wie &#x201E;Es wäre töricht,<lb/>
die englische Politik mit dem zu Tode gehetzten Wort vom perfiden Albion<lb/>
abtun zu wollen" hat schon Leopold von Wiese (&#x201E;Berliner Tageblatt" vom<lb/>
22. Juni) hingewiesen. Fürst Bülow hat überall da Änderungen vorgenommen,<lb/>
wo die Ereignisse seinem politischen Scharfblick nicht recht gegeben haben. Will Va¬<lb/>
lentin Bülow auch vorwerfen, er habe &#x201E;denKrieg fand den billigen ex everitu Urteilen<lb/>
des ephemeren Stimmungsrausches in seine Darstellung völlig eingearbeitet?"<lb/>
Sachlich wiegen Bülows Änderungen viel schwerer; denn er verwischt hier die<lb/>
Ideen, welche seiner eigenen Politik zugrunde lagen. Aber es war von ihm nicht<lb/>
-M verlangen, daß er die Sätze, welche offenbar unrichtige Urteile enthielten,<lb/>
stehen ließ; es war nur Sache des persönlichen Empfindens, ob er sein Werk, das<lb/>
eine Verteidigung seiner Politik darstellt, nochmals erscheinen lassen wollte.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1446"> Auch bei Oncken finden sich selbstverständlich in der neuen Auflage Ände¬<lb/>
rungen. Kein geschulter Historiker wird sie unterlassen, wenn neues Quellen-<lb/>
Material und der Gang der Ereignisse die Überzeugung in ihm reisen lassen,<lb/>
daß er seine frühere Darstellung nicht mehr vertreten kann. Die belgischen<lb/>
Gesandtschaftsberichte, deren unschätzbaren Quellenwert Oncken gebührend hervor¬<lb/>
hebt, haben zwar ähnlich wie bei Reventlow in der Hauptsache nur seine Auf-<lb/>
sassung bestätigt, aber andere inzwischen bekannt gewordene diplomatische Akten¬<lb/>
stücke haben ihn z. B. zu Änderungen über die Rolle Englands in der<lb/>
böhmischen Krise und zu einer neuen Darstellung von Lord Haldanes Reise<lb/>
nach Berlin im Jahre 1912 veranlaßt. Hervorzuheben ist auch der neue Satz<lb/>
über England-Japan S. 592: &#x201E;Die Kriegsentschlossenheit der englischen Regie-<lb/>
wng (1911) geht auch daraus hervor, daß sie wenige Tage vor der Rede<lb/>
von Lloyd George am 13. Juli einen neuen Vertrag mit Japan geschlossen<lb/>
hatte, in dem die englische Gegengabe anscheinend in der zukünftigen Auslieferung<lb/>
von Kiautschou im Kriegsfalle bestand."</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0385] Geschichtschreibung neuester Zeit und ihre Kritik brachten, haben den Dreibund nicht schwächen können." Die ge¬ sperrten Worte fehlen 1916. Dafür schreibt Bülow 1916 an anderer Stelle (Seite 60) neu: „Durch die böhmische Annexionskrise wurde weder der Krieg entfesselt, noch auch unser Verhältnis zu Rußland ernstlich geschädigt." Da¬ gegen fehlen hier wiederum in dem Satze: „Kaiser Nikolaus gab der Welt einen neuen Beweis seiner Friedensliebe, indem er sich für einen gütlichen Ausgleich entschied," die gesperrten Worte. Obwohl Bülow nach seiner eigenen Mitteilung in der Vorrede 1916 vorgeworfen worden ist, er habe 1914 unser Verhältnis zu England zu sehr grau in grau gezeichnet, hat er doch noch verschiedentlich zu optimistisch gesehen. So fehlt 1916 der Satz: „Die englische Politik steht wohl unter dem Einfluß der Sorgen, die weite englische Kreise vor der wirtschaftlichen Expansion und der wachsenden Seemacht Deutschlands erfüllen. Seit dem Ende der Einkreisungspolitik 1908 denkt England aber nicht mehr daran, seine gesamte, internationale Politik oder auch jede Einzel¬ heit seiner Beziehungen zum Deutschen Reich vom Gegensatz gegen Deutschland abhängig zu machen." Auf andere geänderte Stellen, wie „Es wäre töricht, die englische Politik mit dem zu Tode gehetzten Wort vom perfiden Albion abtun zu wollen" hat schon Leopold von Wiese („Berliner Tageblatt" vom 22. Juni) hingewiesen. Fürst Bülow hat überall da Änderungen vorgenommen, wo die Ereignisse seinem politischen Scharfblick nicht recht gegeben haben. Will Va¬ lentin Bülow auch vorwerfen, er habe „denKrieg fand den billigen ex everitu Urteilen des ephemeren Stimmungsrausches in seine Darstellung völlig eingearbeitet?" Sachlich wiegen Bülows Änderungen viel schwerer; denn er verwischt hier die Ideen, welche seiner eigenen Politik zugrunde lagen. Aber es war von ihm nicht -M verlangen, daß er die Sätze, welche offenbar unrichtige Urteile enthielten, stehen ließ; es war nur Sache des persönlichen Empfindens, ob er sein Werk, das eine Verteidigung seiner Politik darstellt, nochmals erscheinen lassen wollte. Auch bei Oncken finden sich selbstverständlich in der neuen Auflage Ände¬ rungen. Kein geschulter Historiker wird sie unterlassen, wenn neues Quellen- Material und der Gang der Ereignisse die Überzeugung in ihm reisen lassen, daß er seine frühere Darstellung nicht mehr vertreten kann. Die belgischen Gesandtschaftsberichte, deren unschätzbaren Quellenwert Oncken gebührend hervor¬ hebt, haben zwar ähnlich wie bei Reventlow in der Hauptsache nur seine Auf- sassung bestätigt, aber andere inzwischen bekannt gewordene diplomatische Akten¬ stücke haben ihn z. B. zu Änderungen über die Rolle Englands in der böhmischen Krise und zu einer neuen Darstellung von Lord Haldanes Reise nach Berlin im Jahre 1912 veranlaßt. Hervorzuheben ist auch der neue Satz über England-Japan S. 592: „Die Kriegsentschlossenheit der englischen Regie- wng (1911) geht auch daraus hervor, daß sie wenige Tage vor der Rede von Lloyd George am 13. Juli einen neuen Vertrag mit Japan geschlossen hatte, in dem die englische Gegengabe anscheinend in der zukünftigen Auslieferung von Kiautschou im Kriegsfalle bestand."

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330971
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330971/385
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330971/385>, abgerufen am 23.07.2024.