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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr.

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Geschichtschreibung neuester Zeit und ihre Kritik

Sätzen und vor allem viel früher als in dem von Valentin berücksichtigten
Teil verankert finden, und sie lauten durchweg in beiden Auflagen wörtlich
gleich. Einige von ihnen lasse ich hier folgen: "Die kurze Zeitspanne, welche
diese diplomatischen Verhandlungen (Mandschureivertrag zwischen Rußland und
China, Dangtsevertrag zwischen England und Deutschland) einschloß, ist wahr¬
scheinlich für die Richtung der deutschen Politik der kommenden zehn Jahre
und besonders für die deutsch-englischen Beziehungen entscheidend geworden.
Es handelt sich um die Frage und um die Entscheidung, ob das deutsche
Reich im Verein mit Großbritannien und mit Japan gegen die russische
Mandschureipolitik, insbesondere gegen den beabsichtigten Vertrag mit China
protestieren wollte oder nicht. In England erwartete man mit Bestimmtheit,
daß dies der Fall sein werde.....Fürst Bülow wollte unter keinen Um¬
ständen von der britischen Politik gegen Rußland ausgenützt werden . . . Seit
den Befreiungskriegen hatte Großbritannien mit seinem Handel und als Be¬
herrscherin der Ozeane eine souveräne Stellung eingenommen, lange Jahrzehnte
hindurch auch auf dem europäischen Festlande .... Die überlegene Kunst und
Energie Bismarcks hatten mit einer Großbritannien überraschenden Schnelligkeit
plötzlich ein mächtiges deutsches Reich in das Zentrum von Europa hinein¬
gesetzt. Man hatte sich ihm gegenüber wohl oder übel freundschaftlich gestellt.
Nach Bismarcks Abgang hatten die britischen Staatsmänner gehofft, sich das
Deutsche Reich "als dummen und starken Kerl auf dem' Festlande" dienstbar
zu machen. Es war nur kurze Zeit gelungen. (Erste Auflage, Seite 168, 174,
205, dritte Auflage, Seite 170, 177, 208.)" Übrigens hätte Valentin schon
aus der Vorrede der dritten Auflage den Schluß ziehen können, daß beide
Auflagen die gleichen Gedanken verfechten; denn schon hier wendet sich Re-
ventlow gegen Besprechungen, die einseitig als Leitmotiv "England ist der
Feind" hervorhoben. Die erste Auflage erklärt ja aber Valentin "als eine
Darstellung, die im wesentlichen sachlich einwandfrei, als gute, gründliche Arbeit
eine Verbreitung in allen Kreisen verdiente."

Ich denke die Haltlosigkeit seiner Kritik ist zur Genüge dargetan. Sein
Verfahren, bei dem er sich nicht scheut, seine angefochtene Wisienschaftlichkeit mit
einem inkorrekten Zitat zu verteidigen, ist umso verwerflicher, als es geeignet
ist, die Geschichtswissenschaft in Mißkredit zu bringen.

Wie haben es denn Fürst Bülow und Oncken gemacht? Fürst Bülow
schreibt 1914 über Italien und den Dreibund (Seite 31): "Es gibt Politiker,
die der Zugehörigkeit Italiens zum Dreibund einen rechten Wert nicht zu¬
sprechen wollen. Selbst wenn dieser Zweifel begründet wäre, was bei der
Loyalität der maßgebenden Faktoren in Italien und der politischen
Klugheit des italienischen Volks nicht der Fall ist, würde damit gegen
den Wert der Zugehörigkeit Italiens zum Dreibund noch nicht alles bewiesen
sein .... Die böhmische Frage und das Tripolisunternehmen, die
Osterreich und Italien in Gegensatz zu der uns befreundeten Türkei


Geschichtschreibung neuester Zeit und ihre Kritik

Sätzen und vor allem viel früher als in dem von Valentin berücksichtigten
Teil verankert finden, und sie lauten durchweg in beiden Auflagen wörtlich
gleich. Einige von ihnen lasse ich hier folgen: „Die kurze Zeitspanne, welche
diese diplomatischen Verhandlungen (Mandschureivertrag zwischen Rußland und
China, Dangtsevertrag zwischen England und Deutschland) einschloß, ist wahr¬
scheinlich für die Richtung der deutschen Politik der kommenden zehn Jahre
und besonders für die deutsch-englischen Beziehungen entscheidend geworden.
Es handelt sich um die Frage und um die Entscheidung, ob das deutsche
Reich im Verein mit Großbritannien und mit Japan gegen die russische
Mandschureipolitik, insbesondere gegen den beabsichtigten Vertrag mit China
protestieren wollte oder nicht. In England erwartete man mit Bestimmtheit,
daß dies der Fall sein werde.....Fürst Bülow wollte unter keinen Um¬
ständen von der britischen Politik gegen Rußland ausgenützt werden . . . Seit
den Befreiungskriegen hatte Großbritannien mit seinem Handel und als Be¬
herrscherin der Ozeane eine souveräne Stellung eingenommen, lange Jahrzehnte
hindurch auch auf dem europäischen Festlande .... Die überlegene Kunst und
Energie Bismarcks hatten mit einer Großbritannien überraschenden Schnelligkeit
plötzlich ein mächtiges deutsches Reich in das Zentrum von Europa hinein¬
gesetzt. Man hatte sich ihm gegenüber wohl oder übel freundschaftlich gestellt.
Nach Bismarcks Abgang hatten die britischen Staatsmänner gehofft, sich das
Deutsche Reich „als dummen und starken Kerl auf dem' Festlande" dienstbar
zu machen. Es war nur kurze Zeit gelungen. (Erste Auflage, Seite 168, 174,
205, dritte Auflage, Seite 170, 177, 208.)" Übrigens hätte Valentin schon
aus der Vorrede der dritten Auflage den Schluß ziehen können, daß beide
Auflagen die gleichen Gedanken verfechten; denn schon hier wendet sich Re-
ventlow gegen Besprechungen, die einseitig als Leitmotiv „England ist der
Feind" hervorhoben. Die erste Auflage erklärt ja aber Valentin „als eine
Darstellung, die im wesentlichen sachlich einwandfrei, als gute, gründliche Arbeit
eine Verbreitung in allen Kreisen verdiente."

Ich denke die Haltlosigkeit seiner Kritik ist zur Genüge dargetan. Sein
Verfahren, bei dem er sich nicht scheut, seine angefochtene Wisienschaftlichkeit mit
einem inkorrekten Zitat zu verteidigen, ist umso verwerflicher, als es geeignet
ist, die Geschichtswissenschaft in Mißkredit zu bringen.

Wie haben es denn Fürst Bülow und Oncken gemacht? Fürst Bülow
schreibt 1914 über Italien und den Dreibund (Seite 31): „Es gibt Politiker,
die der Zugehörigkeit Italiens zum Dreibund einen rechten Wert nicht zu¬
sprechen wollen. Selbst wenn dieser Zweifel begründet wäre, was bei der
Loyalität der maßgebenden Faktoren in Italien und der politischen
Klugheit des italienischen Volks nicht der Fall ist, würde damit gegen
den Wert der Zugehörigkeit Italiens zum Dreibund noch nicht alles bewiesen
sein .... Die böhmische Frage und das Tripolisunternehmen, die
Osterreich und Italien in Gegensatz zu der uns befreundeten Türkei


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330971/384>, abgerufen am 23.07.2024.