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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr.

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Geschichtschreibung neuester Zeit und ihre Kritik

Zeitalters bieten, mit dem Bestreben, weniger zur Kritik als zum Verständnis
anzuregen. In der neuen Auflage nahm er umfangreiche Änderungen vor;
ähnlich Bülow begründete er sie damit, daß ihm 1914 politische Rücksichten
auf deutsche und ausländische Leser zur Vorsicht im Urteil nötigten, um
Nationen nicht zu kränken, die noch nicht den Beweis geliefert hatten, daß
verletzende Äußerungen nichts mehr verderben konnten, außerdem habe der
Krieg manche Frage erledigt, die damals noch nicht abgeschlossen war.

Der Heidelberger Historiker Oncken hat in dem Sammelwerk "Deutschland
und der Weltkrieg", das die Stellung der am Kriege Beteiligten, Vorgeschichte
und Ausbruch des Krieges mit den Mitteln der Wissenschaft objektiv behandeln
soll, die Vorgeschichte des Weltkrieges als Fachhistoriker unter Benutzung aller
ihm erreichbaren Quellen geschrieben. Er verweilt zwar nicht solange bei der
Geschichte der 90er Jahre, aber in der Hauptsache geht seine Darstellung doch
parallel mit der von Bülow und Reventlow. Vor diesen hat er voraus, daß er
nach Ausbruch des Krieges geschrieben hat, als das diplomatische Spiel der
vergangenen beiden Jahrzehnte zu jähem Abschluß gekommen war, sich über
die Stellungnahme der Staatsmänner ein bestimmteres Urteil fällen ließ und
in Gestalt der verschiedenen Farbbücher und amtlichen Mitteilungen der Regie¬
rungen ein verhältnismäßig reiches Quellenmaterial vorlag. Die neue Auflage
hat auf Grund der inzwischen bekanntgewordenen belgischen Gesandtschafts"
berichte und anderer amtlicher Berichte stellenweise entsprechende Zusätze und
Erweiterungen erfahren.

Gegen das Reventlowsche Buch haben sich nun zuerst Theodor Wolff im
"Berliner Tageblatt" und dann der Universitätsprofessor Veit Valentin in einem
Aufsatz der "Preußischen Jahrbücher" "Graf Reventlow als Geschichtsschreiber",
der von Valentin später mit Reventlows Erwiderung und einem Schlußwort
Valentins in zahllosen Exemplaren als Sonderabdruck verbreitet worden ist, ge¬
wandt. Beide behaupten, Reventlow habe in der dritten Auflage seines Buchs die
Dinge so verarbeitet, daß der Eindruck, England habe seit langen den europäi¬
schen Krieg geplant, unabweisbar werde. Theodor Wolff erklärt in zwei
Punkten Reventlows Darstellung für irrtümlich, freilich ohne daß er in dem
Zweiten Punkt (den deutsch-englischen Verhandlungen über die portugiesischen
Kolonien) beweist, daß seine Information die richtigere ist, und verspottet
Reventlow wegen mehrerer falscher, politischer Urteile. Er bleibt aber völlig
sachlich und nennt Reventlow den begabtesten einflußreichsten und bestinformierten
Politiker des Nationalismus, der mehr Einblick in die Dinge als die anderen
habe, auch in seiner Arbeitsleistung große Energie zeige. Valentin dagegen
schmäht Reventlow persönlich und tadelt ihn. weil er "den Krieg samt den
billigen ex homo Urteilen des ephemeren Stimmungsrausches in seine Dar¬
stellung völlig eingearbeitet habe" und meint, die schriftstellerischen Mittel, mit
denen er sein Buch umgearbeitet habe, seien zum Teil sehr bedenklich und
Mit der heiligen Pflicht eines Geschichtschreibers unvereinbar. Aus dem Buche.


Grenzboten IV 1916 '
Geschichtschreibung neuester Zeit und ihre Kritik

Zeitalters bieten, mit dem Bestreben, weniger zur Kritik als zum Verständnis
anzuregen. In der neuen Auflage nahm er umfangreiche Änderungen vor;
ähnlich Bülow begründete er sie damit, daß ihm 1914 politische Rücksichten
auf deutsche und ausländische Leser zur Vorsicht im Urteil nötigten, um
Nationen nicht zu kränken, die noch nicht den Beweis geliefert hatten, daß
verletzende Äußerungen nichts mehr verderben konnten, außerdem habe der
Krieg manche Frage erledigt, die damals noch nicht abgeschlossen war.

Der Heidelberger Historiker Oncken hat in dem Sammelwerk „Deutschland
und der Weltkrieg", das die Stellung der am Kriege Beteiligten, Vorgeschichte
und Ausbruch des Krieges mit den Mitteln der Wissenschaft objektiv behandeln
soll, die Vorgeschichte des Weltkrieges als Fachhistoriker unter Benutzung aller
ihm erreichbaren Quellen geschrieben. Er verweilt zwar nicht solange bei der
Geschichte der 90er Jahre, aber in der Hauptsache geht seine Darstellung doch
parallel mit der von Bülow und Reventlow. Vor diesen hat er voraus, daß er
nach Ausbruch des Krieges geschrieben hat, als das diplomatische Spiel der
vergangenen beiden Jahrzehnte zu jähem Abschluß gekommen war, sich über
die Stellungnahme der Staatsmänner ein bestimmteres Urteil fällen ließ und
in Gestalt der verschiedenen Farbbücher und amtlichen Mitteilungen der Regie¬
rungen ein verhältnismäßig reiches Quellenmaterial vorlag. Die neue Auflage
hat auf Grund der inzwischen bekanntgewordenen belgischen Gesandtschafts»
berichte und anderer amtlicher Berichte stellenweise entsprechende Zusätze und
Erweiterungen erfahren.

Gegen das Reventlowsche Buch haben sich nun zuerst Theodor Wolff im
„Berliner Tageblatt" und dann der Universitätsprofessor Veit Valentin in einem
Aufsatz der „Preußischen Jahrbücher" „Graf Reventlow als Geschichtsschreiber",
der von Valentin später mit Reventlows Erwiderung und einem Schlußwort
Valentins in zahllosen Exemplaren als Sonderabdruck verbreitet worden ist, ge¬
wandt. Beide behaupten, Reventlow habe in der dritten Auflage seines Buchs die
Dinge so verarbeitet, daß der Eindruck, England habe seit langen den europäi¬
schen Krieg geplant, unabweisbar werde. Theodor Wolff erklärt in zwei
Punkten Reventlows Darstellung für irrtümlich, freilich ohne daß er in dem
Zweiten Punkt (den deutsch-englischen Verhandlungen über die portugiesischen
Kolonien) beweist, daß seine Information die richtigere ist, und verspottet
Reventlow wegen mehrerer falscher, politischer Urteile. Er bleibt aber völlig
sachlich und nennt Reventlow den begabtesten einflußreichsten und bestinformierten
Politiker des Nationalismus, der mehr Einblick in die Dinge als die anderen
habe, auch in seiner Arbeitsleistung große Energie zeige. Valentin dagegen
schmäht Reventlow persönlich und tadelt ihn. weil er „den Krieg samt den
billigen ex homo Urteilen des ephemeren Stimmungsrausches in seine Dar¬
stellung völlig eingearbeitet habe" und meint, die schriftstellerischen Mittel, mit
denen er sein Buch umgearbeitet habe, seien zum Teil sehr bedenklich und
Mit der heiligen Pflicht eines Geschichtschreibers unvereinbar. Aus dem Buche.


Grenzboten IV 1916 '
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[0381] Geschichtschreibung neuester Zeit und ihre Kritik Zeitalters bieten, mit dem Bestreben, weniger zur Kritik als zum Verständnis anzuregen. In der neuen Auflage nahm er umfangreiche Änderungen vor; ähnlich Bülow begründete er sie damit, daß ihm 1914 politische Rücksichten auf deutsche und ausländische Leser zur Vorsicht im Urteil nötigten, um Nationen nicht zu kränken, die noch nicht den Beweis geliefert hatten, daß verletzende Äußerungen nichts mehr verderben konnten, außerdem habe der Krieg manche Frage erledigt, die damals noch nicht abgeschlossen war. Der Heidelberger Historiker Oncken hat in dem Sammelwerk „Deutschland und der Weltkrieg", das die Stellung der am Kriege Beteiligten, Vorgeschichte und Ausbruch des Krieges mit den Mitteln der Wissenschaft objektiv behandeln soll, die Vorgeschichte des Weltkrieges als Fachhistoriker unter Benutzung aller ihm erreichbaren Quellen geschrieben. Er verweilt zwar nicht solange bei der Geschichte der 90er Jahre, aber in der Hauptsache geht seine Darstellung doch parallel mit der von Bülow und Reventlow. Vor diesen hat er voraus, daß er nach Ausbruch des Krieges geschrieben hat, als das diplomatische Spiel der vergangenen beiden Jahrzehnte zu jähem Abschluß gekommen war, sich über die Stellungnahme der Staatsmänner ein bestimmteres Urteil fällen ließ und in Gestalt der verschiedenen Farbbücher und amtlichen Mitteilungen der Regie¬ rungen ein verhältnismäßig reiches Quellenmaterial vorlag. Die neue Auflage hat auf Grund der inzwischen bekanntgewordenen belgischen Gesandtschafts» berichte und anderer amtlicher Berichte stellenweise entsprechende Zusätze und Erweiterungen erfahren. Gegen das Reventlowsche Buch haben sich nun zuerst Theodor Wolff im „Berliner Tageblatt" und dann der Universitätsprofessor Veit Valentin in einem Aufsatz der „Preußischen Jahrbücher" „Graf Reventlow als Geschichtsschreiber", der von Valentin später mit Reventlows Erwiderung und einem Schlußwort Valentins in zahllosen Exemplaren als Sonderabdruck verbreitet worden ist, ge¬ wandt. Beide behaupten, Reventlow habe in der dritten Auflage seines Buchs die Dinge so verarbeitet, daß der Eindruck, England habe seit langen den europäi¬ schen Krieg geplant, unabweisbar werde. Theodor Wolff erklärt in zwei Punkten Reventlows Darstellung für irrtümlich, freilich ohne daß er in dem Zweiten Punkt (den deutsch-englischen Verhandlungen über die portugiesischen Kolonien) beweist, daß seine Information die richtigere ist, und verspottet Reventlow wegen mehrerer falscher, politischer Urteile. Er bleibt aber völlig sachlich und nennt Reventlow den begabtesten einflußreichsten und bestinformierten Politiker des Nationalismus, der mehr Einblick in die Dinge als die anderen habe, auch in seiner Arbeitsleistung große Energie zeige. Valentin dagegen schmäht Reventlow persönlich und tadelt ihn. weil er „den Krieg samt den billigen ex homo Urteilen des ephemeren Stimmungsrausches in seine Dar¬ stellung völlig eingearbeitet habe" und meint, die schriftstellerischen Mittel, mit denen er sein Buch umgearbeitet habe, seien zum Teil sehr bedenklich und Mit der heiligen Pflicht eines Geschichtschreibers unvereinbar. Aus dem Buche. Grenzboten IV 1916 '

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330971/381>, abgerufen am 23.07.2024.