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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr.

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Die allgemeine Dienstpflicht

nehmer besteht. Der hiermit in Aussicht gestellte Zwang scheint besonders den
Vertretern der Gewerkschaften im Reichstag einen Schrecken eingeflößt zu haben,
zu dessen Besänftigung die Wortführer des Kriegsamts eine Fülle beredter
Worte aufwandten. Um den Besorgnissen vor einer Beeinträchtigung der
Arbeiterinteressen zu begegnen, mußte die Zusicherung einer wohlwollenden
Berücksichtigung der individuellen Verhältnisse durch Bestimmungen über die
materielle Sicherung der Arbeiter ergänzt werden. Da die Bewegungs¬
freiheit der Arbeiter einigermaßen eingeschränkt ist durch ihre Gebundenheit an
einen bestimmten Betrieb, der nur verlassen werden darf, wenn der Arbeit¬
geber zustimmt oder die Beschwerdeinstanz das Ausscheiden aus wichtigen
Gründen billigt, so wird im Gesetz ausdrücklich vermerkt, daß "insbesondere
eine angemessene Verbesserung der Arbeitsbedingungen" als Rechtfertigung für
den nachgesuchten Stellenwechsel dienen soll.

In einer anderen Bestimmung wird dem Ausschuß die heikle Frage zur
Prüfung zugeschoben, ob der Arbeitslohn dem Beschäftigten und seinen
Angehörigen ausreichenden Unterhalt ermöglicht. Ein schwer ausführbares An¬
sinnen I Ist es schon ein bedenklicher Schritt, die Lohnsätze im privaten Jn-
dustriewerken im allgemeinen amtlich reglementieren zu wollen, so gerät man
vollends aufs Glatteis mit der Zusage, Arbeitslohn und Lebensunterhalt
dauernd im Gleichgewicht zu erhalten. Da eine Verständigung darüber,, welche
Lohnhöhe als "ausreichend" zu erachten sei, nur selten sich wird herbeiführen
lassen, ohne entweder den an höhere Lcbensansprüche gewöhnten Lohnempfänger
zu enttäuschen oder den lohnzahlenden Arbeitgeber zu Aufwendungen über die
Durchschnittslöhne des Arbeitsmarkts hinaus zu nötigen, so ist durch jene
kautschukartige Klausel ein den Arbeitssrieden gefährdender Konfliktsstoff in das
Gesetz verpflanzt worden. Dem Kriegsarbeitsamt wird es nicht leicht fallen,
bei Zerwürfnissen den objektiven Standpunkt einzuhalten. Es kann den Unter¬
nehmern nicht zumuten, Lohnsteigerungen, die eine Vergrößerung der Pro¬
duktionskosten betragen, auf sich zu nehmen, ohne entsprechende Aufschläge auf
die von der Heeresleitung bewilligten Lieferungspreise zu befürworten.

Die deutsche Industrie wird durch das Gesetz vom 4. November dieses
Jahres an einen kritischen Wendepunkt gestellt. In ihr muß sich eine grund¬
legende Scheidung in zwei große Teile vollziehen, je nachdem ihre Betriebe
dem vaterländischen Hilfsdienst unterliegen oder nicht. Die für Kriegsarbeiten
jeglicher Art benötigten gewerblichen Unternehmungen werden einer weitgehenden
positiven Begünstigung sich erfreuen können, während es den außerhalb des
gesetzmäßig veranlagten Umkreises verbleibenden Betrieben anheimgegeben wird,
schlecht und recht über die Kriegszeit sich hinwegzuhelfen. Die zweiseitige
Stellungnahme wird allerdings nicht erst jetzt eingeleitet, sondern ist schon bei
Ausbruch des Krieges aus natürlichen Ursachen wirksam geworden und bei der
Fortdauer des Völkerringens schärfer hervorgetreten. Daß der Rüstungs¬
industrie als dem wichtigsten Gliede der industriellen Betätigung von An-


Die allgemeine Dienstpflicht

nehmer besteht. Der hiermit in Aussicht gestellte Zwang scheint besonders den
Vertretern der Gewerkschaften im Reichstag einen Schrecken eingeflößt zu haben,
zu dessen Besänftigung die Wortführer des Kriegsamts eine Fülle beredter
Worte aufwandten. Um den Besorgnissen vor einer Beeinträchtigung der
Arbeiterinteressen zu begegnen, mußte die Zusicherung einer wohlwollenden
Berücksichtigung der individuellen Verhältnisse durch Bestimmungen über die
materielle Sicherung der Arbeiter ergänzt werden. Da die Bewegungs¬
freiheit der Arbeiter einigermaßen eingeschränkt ist durch ihre Gebundenheit an
einen bestimmten Betrieb, der nur verlassen werden darf, wenn der Arbeit¬
geber zustimmt oder die Beschwerdeinstanz das Ausscheiden aus wichtigen
Gründen billigt, so wird im Gesetz ausdrücklich vermerkt, daß „insbesondere
eine angemessene Verbesserung der Arbeitsbedingungen" als Rechtfertigung für
den nachgesuchten Stellenwechsel dienen soll.

In einer anderen Bestimmung wird dem Ausschuß die heikle Frage zur
Prüfung zugeschoben, ob der Arbeitslohn dem Beschäftigten und seinen
Angehörigen ausreichenden Unterhalt ermöglicht. Ein schwer ausführbares An¬
sinnen I Ist es schon ein bedenklicher Schritt, die Lohnsätze im privaten Jn-
dustriewerken im allgemeinen amtlich reglementieren zu wollen, so gerät man
vollends aufs Glatteis mit der Zusage, Arbeitslohn und Lebensunterhalt
dauernd im Gleichgewicht zu erhalten. Da eine Verständigung darüber,, welche
Lohnhöhe als „ausreichend" zu erachten sei, nur selten sich wird herbeiführen
lassen, ohne entweder den an höhere Lcbensansprüche gewöhnten Lohnempfänger
zu enttäuschen oder den lohnzahlenden Arbeitgeber zu Aufwendungen über die
Durchschnittslöhne des Arbeitsmarkts hinaus zu nötigen, so ist durch jene
kautschukartige Klausel ein den Arbeitssrieden gefährdender Konfliktsstoff in das
Gesetz verpflanzt worden. Dem Kriegsarbeitsamt wird es nicht leicht fallen,
bei Zerwürfnissen den objektiven Standpunkt einzuhalten. Es kann den Unter¬
nehmern nicht zumuten, Lohnsteigerungen, die eine Vergrößerung der Pro¬
duktionskosten betragen, auf sich zu nehmen, ohne entsprechende Aufschläge auf
die von der Heeresleitung bewilligten Lieferungspreise zu befürworten.

Die deutsche Industrie wird durch das Gesetz vom 4. November dieses
Jahres an einen kritischen Wendepunkt gestellt. In ihr muß sich eine grund¬
legende Scheidung in zwei große Teile vollziehen, je nachdem ihre Betriebe
dem vaterländischen Hilfsdienst unterliegen oder nicht. Die für Kriegsarbeiten
jeglicher Art benötigten gewerblichen Unternehmungen werden einer weitgehenden
positiven Begünstigung sich erfreuen können, während es den außerhalb des
gesetzmäßig veranlagten Umkreises verbleibenden Betrieben anheimgegeben wird,
schlecht und recht über die Kriegszeit sich hinwegzuhelfen. Die zweiseitige
Stellungnahme wird allerdings nicht erst jetzt eingeleitet, sondern ist schon bei
Ausbruch des Krieges aus natürlichen Ursachen wirksam geworden und bei der
Fortdauer des Völkerringens schärfer hervorgetreten. Daß der Rüstungs¬
industrie als dem wichtigsten Gliede der industriellen Betätigung von An-


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[0371] Die allgemeine Dienstpflicht nehmer besteht. Der hiermit in Aussicht gestellte Zwang scheint besonders den Vertretern der Gewerkschaften im Reichstag einen Schrecken eingeflößt zu haben, zu dessen Besänftigung die Wortführer des Kriegsamts eine Fülle beredter Worte aufwandten. Um den Besorgnissen vor einer Beeinträchtigung der Arbeiterinteressen zu begegnen, mußte die Zusicherung einer wohlwollenden Berücksichtigung der individuellen Verhältnisse durch Bestimmungen über die materielle Sicherung der Arbeiter ergänzt werden. Da die Bewegungs¬ freiheit der Arbeiter einigermaßen eingeschränkt ist durch ihre Gebundenheit an einen bestimmten Betrieb, der nur verlassen werden darf, wenn der Arbeit¬ geber zustimmt oder die Beschwerdeinstanz das Ausscheiden aus wichtigen Gründen billigt, so wird im Gesetz ausdrücklich vermerkt, daß „insbesondere eine angemessene Verbesserung der Arbeitsbedingungen" als Rechtfertigung für den nachgesuchten Stellenwechsel dienen soll. In einer anderen Bestimmung wird dem Ausschuß die heikle Frage zur Prüfung zugeschoben, ob der Arbeitslohn dem Beschäftigten und seinen Angehörigen ausreichenden Unterhalt ermöglicht. Ein schwer ausführbares An¬ sinnen I Ist es schon ein bedenklicher Schritt, die Lohnsätze im privaten Jn- dustriewerken im allgemeinen amtlich reglementieren zu wollen, so gerät man vollends aufs Glatteis mit der Zusage, Arbeitslohn und Lebensunterhalt dauernd im Gleichgewicht zu erhalten. Da eine Verständigung darüber,, welche Lohnhöhe als „ausreichend" zu erachten sei, nur selten sich wird herbeiführen lassen, ohne entweder den an höhere Lcbensansprüche gewöhnten Lohnempfänger zu enttäuschen oder den lohnzahlenden Arbeitgeber zu Aufwendungen über die Durchschnittslöhne des Arbeitsmarkts hinaus zu nötigen, so ist durch jene kautschukartige Klausel ein den Arbeitssrieden gefährdender Konfliktsstoff in das Gesetz verpflanzt worden. Dem Kriegsarbeitsamt wird es nicht leicht fallen, bei Zerwürfnissen den objektiven Standpunkt einzuhalten. Es kann den Unter¬ nehmern nicht zumuten, Lohnsteigerungen, die eine Vergrößerung der Pro¬ duktionskosten betragen, auf sich zu nehmen, ohne entsprechende Aufschläge auf die von der Heeresleitung bewilligten Lieferungspreise zu befürworten. Die deutsche Industrie wird durch das Gesetz vom 4. November dieses Jahres an einen kritischen Wendepunkt gestellt. In ihr muß sich eine grund¬ legende Scheidung in zwei große Teile vollziehen, je nachdem ihre Betriebe dem vaterländischen Hilfsdienst unterliegen oder nicht. Die für Kriegsarbeiten jeglicher Art benötigten gewerblichen Unternehmungen werden einer weitgehenden positiven Begünstigung sich erfreuen können, während es den außerhalb des gesetzmäßig veranlagten Umkreises verbleibenden Betrieben anheimgegeben wird, schlecht und recht über die Kriegszeit sich hinwegzuhelfen. Die zweiseitige Stellungnahme wird allerdings nicht erst jetzt eingeleitet, sondern ist schon bei Ausbruch des Krieges aus natürlichen Ursachen wirksam geworden und bei der Fortdauer des Völkerringens schärfer hervorgetreten. Daß der Rüstungs¬ industrie als dem wichtigsten Gliede der industriellen Betätigung von An-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330971/371>, abgerufen am 23.07.2024.