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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr.

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Brüsseler Theaterspiel während des Krieges

der Tochter ausgezogen und auss Bett geworfen. Nach einem kurzen Kampf
um die Bettdecke fällt der Vorhang.

Im gleichen Stil ist der dritte Akt gehalten. Man hat Geld verdient,
leidet aber jetzt nach der Ausstellung unter der allgemeinen Arbeitslosigkeit.
Zwei Kinder sind (ganz einfach!) gestorben. Vater Klepkens sucht Heimweh und
Sorge durch Trinken zu verscheuchen, noch einmal wird gegessen und getrunken
(ohne das geht es nun einmal im fchmauselustigen Belgien nicht), die Liebenden
kriegen sich und der große Losgewinn der Ausstelluugstombola gibt Anlaß zu
vergnügter Rückkehr nach Brüssel.

Das Interessante und Bezeichnende an all dem ist jedoch nicht so sehr die
.Handlung, sondern die Figuren, die Art der Darstellung und die Aufnahme
beim Publikum. Solche frischen Mädel wie die Tochter, solche Typen wie
Meister, Geselle und Schwager sieht man Sonntags auf der Elektrischen hinaus¬
fahren nach Tervueren und Waterloo. solche Hausmütter, mit rotem Haar, voll¬
busig und doch beweglich, ein wenig ordinär aber gutmütig, mit bedeutenden
Stimmitteln und einer schwindelnmachenden Zungengeläufigkeit, gründlich in ihrem
Tun. umsichtig, sauber und doch von einer gewissen Schlampigkeit in Gebaren
und Anzug beobachtet man auf dem Markt oder abends vor den^ Haustüren
der kleinen Straßen. Die Darstellung arbeitet, dem Stil des Stückes ent¬
sprechend, mit groben Strichen aber mit sicherem Gefühl für die Natur des
Dargestellten, kunstlos im Zusammenspiel, energisch zupackend, erstaunlich echt
in Maske und Bewegung. Die Trunkenheitsszenen aber stimmen nachdenklich.
Es ist keine Spur von Komi! darin, kein Witz, der Betrunkene kalte, lärmt
und rülpst ohne Übertreibung, aber auch ohne jede konventionelle Verschleierung.
Es wäre falsch von "erschütterndem" Realismus zu reden, es fehlt, wie dem
ganzen Stück, die soziale Note, es fehlt auch die melancholisch-lyrische Weich¬
heit des "Nachtasyls", alles bleibt ruhig, sachlich, es ist eine fast naturhistorisch
anmutende Schilderung alltäglicher Szenen und nur Kunst, weil man mit Klepkens
nicht zufällig auf demselben Flur wohnt. Und wenn Mutter und Tochter
einer tüchtigen Familie ihre ganze Kraft anwenden müssen, um den aus sehr
ernsthafter Enttäuschung viehisch betrunkenen Mann und Vater zu Bett zu bringen,
so hat man bei aller Bewunderung für die Darstellungskunst, denselben pein¬
lichen Eindruck, den man vor gewissen Experimenten des Naturalismus der
neunziger Jahre hatte. Anders das Publikum. Das Parkett, voll kleiner Leute,
ist ein einziges Meer von Gelächter, in den Logen ist man deutlich amüsiert
und von den Rangen lacht es in immer sich erneuernden Kaskaden herunter.
Empfindet kein Mensch das Peinigende, das hier geboten wird? Befremdet
sieht man sich um. bis einem einfällt, daß der Paolo Veronese der Vlamen.
dessen unflätige Schmausereien Patrizier in ihre Speisesäle hingen. Jordaens
heißt, daß der größte und feinste Kolorist dieses Volkes. Brouwer. in Wüstheit
zu Grunde ging und daß der große Rubens, der Weitgereiste, Vielsprachige,
der als Diplomat an den zeremoniellsten Hof Europas geschickt wurde, zugleich der


Grenzboten IV 191" ' 2
Brüsseler Theaterspiel während des Krieges

der Tochter ausgezogen und auss Bett geworfen. Nach einem kurzen Kampf
um die Bettdecke fällt der Vorhang.

Im gleichen Stil ist der dritte Akt gehalten. Man hat Geld verdient,
leidet aber jetzt nach der Ausstellung unter der allgemeinen Arbeitslosigkeit.
Zwei Kinder sind (ganz einfach!) gestorben. Vater Klepkens sucht Heimweh und
Sorge durch Trinken zu verscheuchen, noch einmal wird gegessen und getrunken
(ohne das geht es nun einmal im fchmauselustigen Belgien nicht), die Liebenden
kriegen sich und der große Losgewinn der Ausstelluugstombola gibt Anlaß zu
vergnügter Rückkehr nach Brüssel.

Das Interessante und Bezeichnende an all dem ist jedoch nicht so sehr die
.Handlung, sondern die Figuren, die Art der Darstellung und die Aufnahme
beim Publikum. Solche frischen Mädel wie die Tochter, solche Typen wie
Meister, Geselle und Schwager sieht man Sonntags auf der Elektrischen hinaus¬
fahren nach Tervueren und Waterloo. solche Hausmütter, mit rotem Haar, voll¬
busig und doch beweglich, ein wenig ordinär aber gutmütig, mit bedeutenden
Stimmitteln und einer schwindelnmachenden Zungengeläufigkeit, gründlich in ihrem
Tun. umsichtig, sauber und doch von einer gewissen Schlampigkeit in Gebaren
und Anzug beobachtet man auf dem Markt oder abends vor den^ Haustüren
der kleinen Straßen. Die Darstellung arbeitet, dem Stil des Stückes ent¬
sprechend, mit groben Strichen aber mit sicherem Gefühl für die Natur des
Dargestellten, kunstlos im Zusammenspiel, energisch zupackend, erstaunlich echt
in Maske und Bewegung. Die Trunkenheitsszenen aber stimmen nachdenklich.
Es ist keine Spur von Komi! darin, kein Witz, der Betrunkene kalte, lärmt
und rülpst ohne Übertreibung, aber auch ohne jede konventionelle Verschleierung.
Es wäre falsch von „erschütterndem" Realismus zu reden, es fehlt, wie dem
ganzen Stück, die soziale Note, es fehlt auch die melancholisch-lyrische Weich¬
heit des „Nachtasyls", alles bleibt ruhig, sachlich, es ist eine fast naturhistorisch
anmutende Schilderung alltäglicher Szenen und nur Kunst, weil man mit Klepkens
nicht zufällig auf demselben Flur wohnt. Und wenn Mutter und Tochter
einer tüchtigen Familie ihre ganze Kraft anwenden müssen, um den aus sehr
ernsthafter Enttäuschung viehisch betrunkenen Mann und Vater zu Bett zu bringen,
so hat man bei aller Bewunderung für die Darstellungskunst, denselben pein¬
lichen Eindruck, den man vor gewissen Experimenten des Naturalismus der
neunziger Jahre hatte. Anders das Publikum. Das Parkett, voll kleiner Leute,
ist ein einziges Meer von Gelächter, in den Logen ist man deutlich amüsiert
und von den Rangen lacht es in immer sich erneuernden Kaskaden herunter.
Empfindet kein Mensch das Peinigende, das hier geboten wird? Befremdet
sieht man sich um. bis einem einfällt, daß der Paolo Veronese der Vlamen.
dessen unflätige Schmausereien Patrizier in ihre Speisesäle hingen. Jordaens
heißt, daß der größte und feinste Kolorist dieses Volkes. Brouwer. in Wüstheit
zu Grunde ging und daß der große Rubens, der Weitgereiste, Vielsprachige,
der als Diplomat an den zeremoniellsten Hof Europas geschickt wurde, zugleich der


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330971/29>, abgerufen am 23.07.2024.