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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr.

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Die deutschen Einwanderungen in Siebenbürgen

man weiß ja, mit welch kläglichem Erfolg. Kinder hätten die Kolonisierung
Siebenbürgens gewiß nicht durchführen können. Zu dieser Arbeit bedürfte es
ganzer Männer. Dafür hat man auch in Deutschland eine Empfindung, was
schon aus der schlestschen Redensart hervorgeht, die man ungeschickten Menschen
gegenüber anzuwenden pflegt: "Du würdest dich in Siebenbürgen nicht zurecht¬
finden".

Die älteren sächsischen Schriftsteller (aber auch Melanchthon) vertraten die
Meinung, daß die Sachsen die Überbleibsel der alten gotischen Einwohner
Siebenbürgens seien, die sich dann später mit den neu hinzugezogenen deutschen
Pflanzvölkern vermischt hätten, so z. B. Czirner, Frank von Frankenstein,
Hauer, Kely, Mafia, Töppelt u. a. Diese Pflanzvölker sollten entweder unter
Karl dem Großen, nach andern unter Herzog Geisa, dem Vater Stephans des
Heiligen ins Land gezogen sein; nach den dritten sollten sie die Nachkommen
der deutschen Hilfsvölker fein, die Stephan der Heilige im Kampfe gegen den
heidnischen Herzog Gyula herangezogen.

Da jedoch Siebenbürgen nachweislich erst später zu einem bleibenden Be¬
sitztum der ungarischen Krone geworden ist, so wird es doch wohl bei der An¬
gabe des Andreanischen Freibriefes sein Bewenden haben, wonach die Sachsen --
wie bereits erwähnt wurde -- unter König Geisa dem Zweiten ins Land ge¬
rufen wurden.

In zwei alten Urkunden werden die Sachsen "Flandrer" genannt. Dem¬
nach müßten sie aus der Gegend südwestlich von der Rheinmündung stammen,
aus jenen heute noch vorzugsweise von Vlamen bewohnten Gebieten, die teils
zu Holland, teils zu Belgien gehören und gegenwärtig teilweise durch deutsche
Truppen besetzt sind. Lange Zeit hindurch galt tatsächlich dies Gebiet als die
Urheimat der Sachsen, und manches schien für die Nichtigkeit dieser Annahme
zu sprechen. Haben doch von hier aus gerade im zwölften und dreizehnten
Jahrhundert zahlreiche Auswanderungen nach Holstein, Mecklenburg und Bran¬
denburg stattgefunden, ja bis hin nach den Ostseeprovinzen. Eben dieser Um¬
stand mochte jenen päpstlichen Legaten Gregorius, der die in Rede stehenden
Urkunden verfaßt hat, dazu verleitet haben, die gleichfalls vom Rhein stammenden
Sachsen "Flandrer" zu nennen. Übrigens wurde noch in späteren Jahren das
alte vlämische Auswandererlied gesungen:

Ins Ostland wollen wir ziehen,
Hingeben ins östliche Land,
All über die grüne Heide,
Da ist ein besserer Stand.
Als wir ins Ostland kamen,
All unter das hohe Haus,
Da wurden wir eingeladen,
Frisch über die Heide,
Sie hießen uns willkommen sein.

Die deutschen Einwanderungen in Siebenbürgen

man weiß ja, mit welch kläglichem Erfolg. Kinder hätten die Kolonisierung
Siebenbürgens gewiß nicht durchführen können. Zu dieser Arbeit bedürfte es
ganzer Männer. Dafür hat man auch in Deutschland eine Empfindung, was
schon aus der schlestschen Redensart hervorgeht, die man ungeschickten Menschen
gegenüber anzuwenden pflegt: „Du würdest dich in Siebenbürgen nicht zurecht¬
finden".

Die älteren sächsischen Schriftsteller (aber auch Melanchthon) vertraten die
Meinung, daß die Sachsen die Überbleibsel der alten gotischen Einwohner
Siebenbürgens seien, die sich dann später mit den neu hinzugezogenen deutschen
Pflanzvölkern vermischt hätten, so z. B. Czirner, Frank von Frankenstein,
Hauer, Kely, Mafia, Töppelt u. a. Diese Pflanzvölker sollten entweder unter
Karl dem Großen, nach andern unter Herzog Geisa, dem Vater Stephans des
Heiligen ins Land gezogen sein; nach den dritten sollten sie die Nachkommen
der deutschen Hilfsvölker fein, die Stephan der Heilige im Kampfe gegen den
heidnischen Herzog Gyula herangezogen.

Da jedoch Siebenbürgen nachweislich erst später zu einem bleibenden Be¬
sitztum der ungarischen Krone geworden ist, so wird es doch wohl bei der An¬
gabe des Andreanischen Freibriefes sein Bewenden haben, wonach die Sachsen —
wie bereits erwähnt wurde — unter König Geisa dem Zweiten ins Land ge¬
rufen wurden.

In zwei alten Urkunden werden die Sachsen „Flandrer" genannt. Dem¬
nach müßten sie aus der Gegend südwestlich von der Rheinmündung stammen,
aus jenen heute noch vorzugsweise von Vlamen bewohnten Gebieten, die teils
zu Holland, teils zu Belgien gehören und gegenwärtig teilweise durch deutsche
Truppen besetzt sind. Lange Zeit hindurch galt tatsächlich dies Gebiet als die
Urheimat der Sachsen, und manches schien für die Nichtigkeit dieser Annahme
zu sprechen. Haben doch von hier aus gerade im zwölften und dreizehnten
Jahrhundert zahlreiche Auswanderungen nach Holstein, Mecklenburg und Bran¬
denburg stattgefunden, ja bis hin nach den Ostseeprovinzen. Eben dieser Um¬
stand mochte jenen päpstlichen Legaten Gregorius, der die in Rede stehenden
Urkunden verfaßt hat, dazu verleitet haben, die gleichfalls vom Rhein stammenden
Sachsen „Flandrer" zu nennen. Übrigens wurde noch in späteren Jahren das
alte vlämische Auswandererlied gesungen:

Ins Ostland wollen wir ziehen,
Hingeben ins östliche Land,
All über die grüne Heide,
Da ist ein besserer Stand.
Als wir ins Ostland kamen,
All unter das hohe Haus,
Da wurden wir eingeladen,
Frisch über die Heide,
Sie hießen uns willkommen sein.

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[0288] Die deutschen Einwanderungen in Siebenbürgen man weiß ja, mit welch kläglichem Erfolg. Kinder hätten die Kolonisierung Siebenbürgens gewiß nicht durchführen können. Zu dieser Arbeit bedürfte es ganzer Männer. Dafür hat man auch in Deutschland eine Empfindung, was schon aus der schlestschen Redensart hervorgeht, die man ungeschickten Menschen gegenüber anzuwenden pflegt: „Du würdest dich in Siebenbürgen nicht zurecht¬ finden". Die älteren sächsischen Schriftsteller (aber auch Melanchthon) vertraten die Meinung, daß die Sachsen die Überbleibsel der alten gotischen Einwohner Siebenbürgens seien, die sich dann später mit den neu hinzugezogenen deutschen Pflanzvölkern vermischt hätten, so z. B. Czirner, Frank von Frankenstein, Hauer, Kely, Mafia, Töppelt u. a. Diese Pflanzvölker sollten entweder unter Karl dem Großen, nach andern unter Herzog Geisa, dem Vater Stephans des Heiligen ins Land gezogen sein; nach den dritten sollten sie die Nachkommen der deutschen Hilfsvölker fein, die Stephan der Heilige im Kampfe gegen den heidnischen Herzog Gyula herangezogen. Da jedoch Siebenbürgen nachweislich erst später zu einem bleibenden Be¬ sitztum der ungarischen Krone geworden ist, so wird es doch wohl bei der An¬ gabe des Andreanischen Freibriefes sein Bewenden haben, wonach die Sachsen — wie bereits erwähnt wurde — unter König Geisa dem Zweiten ins Land ge¬ rufen wurden. In zwei alten Urkunden werden die Sachsen „Flandrer" genannt. Dem¬ nach müßten sie aus der Gegend südwestlich von der Rheinmündung stammen, aus jenen heute noch vorzugsweise von Vlamen bewohnten Gebieten, die teils zu Holland, teils zu Belgien gehören und gegenwärtig teilweise durch deutsche Truppen besetzt sind. Lange Zeit hindurch galt tatsächlich dies Gebiet als die Urheimat der Sachsen, und manches schien für die Nichtigkeit dieser Annahme zu sprechen. Haben doch von hier aus gerade im zwölften und dreizehnten Jahrhundert zahlreiche Auswanderungen nach Holstein, Mecklenburg und Bran¬ denburg stattgefunden, ja bis hin nach den Ostseeprovinzen. Eben dieser Um¬ stand mochte jenen päpstlichen Legaten Gregorius, der die in Rede stehenden Urkunden verfaßt hat, dazu verleitet haben, die gleichfalls vom Rhein stammenden Sachsen „Flandrer" zu nennen. Übrigens wurde noch in späteren Jahren das alte vlämische Auswandererlied gesungen: Ins Ostland wollen wir ziehen, Hingeben ins östliche Land, All über die grüne Heide, Da ist ein besserer Stand. Als wir ins Ostland kamen, All unter das hohe Haus, Da wurden wir eingeladen, Frisch über die Heide, Sie hießen uns willkommen sein.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330971/288>, abgerufen am 23.07.2024.