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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr.

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vom französischen Sozialismus

selbst dieses sich nur mit größter Mühe und eine Zeitlang nur mit Unterstützung
der Sozialdemokratie Deutschlands halten konnte, ^ wenn es eine einigermaßen
bedeutende Zahl von Abonnenten nicht aufzuweisen vermag! Eine sozia¬
listische Lokalpresse gar existiert nirgends. Wohl erscheint hin und wieder
ein Wochenblatt, da und dort auch eine Halbwochenzeitung. Lange vermögen
sie ihr Dasein nie zu fristen. Sie verschwinden meist so schnell wieder wie
sie gekommen. Die große Industriestadt Lyon z. B. erfreute sich eine Zeit¬
lang des "/^venir", eines vollkommen unbedeutenden Ablegers der t^lumanitö,
der nur jeden Mittwoch und Sonnabend und, wie fast alle französischen
Zeitungen, selbstverständlich nur vierseitig erschien. Selbst so sparsame sozia¬
listische Kost fand jedoch bei dem Arbeiterpublikum keinen Zuspruch. Das
Blatt ging schon im Winter 1912/13 wieder ein, zu einer Zeit, als doch die
bevorstehende Präsidentenwahl, die Frage der Einführung der dreijährigen
Dienstzeit, der europäische Generalstreik anläßlich der Balkanwirren u. a. in.
das politische Interesse gerade der sozialistischen Arbeiterschaft in schärfster
Weise hätten in Anspruch nehmen müssen. Wenn die "Querre sociale" Gustav
Heros's jeden Mittwoch Abend eifrigen Zuspruch und Absatz fand, so verdankte
sie es ihrer Eigenschaft als Pariser Blatt und vor allem der Persönlichkeit
ihres Herausgebers. Dasselbe war fraglos in mindestens gleichem Grade auch
bei der ttumanitö der Fall, deren Bedeutung mit ihrem Leiter James stand
und fiel. Die Käufer waren vielleicht ebensooft Bürgerliche wie Sozialisten,
rekrutierten sich aus allen Parteien und in großer Anzahl besonders aus der
jede Persönlichkeit schätzenden Intelligenz.

Das wichtigste Hilfsmittel eines klassenbewußten Sozialismus, die
Abonnementspresse, fehlt der französischen Partei. Man kann daher behaupten,
daß die Parteigesinnung über die nationale Sitte (in Frankreich ist Abonnement
und ständiger Gebrauch derselben Zeitung unbekannt) nicht zu siegen vermochte,
daß also Parteidisziplin und innere Kraft sehr zu wünschen übrig lassen und
mit den Verhältnissen in der deutschen Bruderpartei gar keinen Vergleich aus¬
zuhalten vermögen. Wenn man aber weiter beobachtet, daß auf die Million
sozialistischer Wähler nur etwa sechzigtausend parteipolitisch Organisierte kommen,
während Deutschland deren auf viereinhalb Millionen etwa eineinhalb Millionen
zählt, wenn man steht, daß, wiederum im Gegensatz zu Deutschland, sozialistische
Wahl- und sonstige Vereine in weiten Gegenden fehlen, daß in vielen Wahl¬
kreisen nicht einmal ein Kandidat der Partei aufgestellt wird, so kommen wir
an die Wurzel der Schwäche, kommen zugleich an die Wurzel der Frage nach
der Bedeutung der unifizierten Sozialisten für das französische Staatsleben und
damit auch für den Internationalismus.

Die französische Sozialdemokratie ist nicht eine Arbeiterpartei wie etwa die
deutsche. Die Einheitlichkeit der Wählerschaft fehlt ihr. Zu weit höherem Pro¬
zentsatz als jene setzt sie sich aus Angehörigen anderer Berufsklassen zusammen.
Nichts ist charakteristischer hierfür als eine Wahlversammlung oder ein Partei-


vom französischen Sozialismus

selbst dieses sich nur mit größter Mühe und eine Zeitlang nur mit Unterstützung
der Sozialdemokratie Deutschlands halten konnte, ^ wenn es eine einigermaßen
bedeutende Zahl von Abonnenten nicht aufzuweisen vermag! Eine sozia¬
listische Lokalpresse gar existiert nirgends. Wohl erscheint hin und wieder
ein Wochenblatt, da und dort auch eine Halbwochenzeitung. Lange vermögen
sie ihr Dasein nie zu fristen. Sie verschwinden meist so schnell wieder wie
sie gekommen. Die große Industriestadt Lyon z. B. erfreute sich eine Zeit¬
lang des „/^venir", eines vollkommen unbedeutenden Ablegers der t^lumanitö,
der nur jeden Mittwoch und Sonnabend und, wie fast alle französischen
Zeitungen, selbstverständlich nur vierseitig erschien. Selbst so sparsame sozia¬
listische Kost fand jedoch bei dem Arbeiterpublikum keinen Zuspruch. Das
Blatt ging schon im Winter 1912/13 wieder ein, zu einer Zeit, als doch die
bevorstehende Präsidentenwahl, die Frage der Einführung der dreijährigen
Dienstzeit, der europäische Generalstreik anläßlich der Balkanwirren u. a. in.
das politische Interesse gerade der sozialistischen Arbeiterschaft in schärfster
Weise hätten in Anspruch nehmen müssen. Wenn die „Querre sociale" Gustav
Heros's jeden Mittwoch Abend eifrigen Zuspruch und Absatz fand, so verdankte
sie es ihrer Eigenschaft als Pariser Blatt und vor allem der Persönlichkeit
ihres Herausgebers. Dasselbe war fraglos in mindestens gleichem Grade auch
bei der ttumanitö der Fall, deren Bedeutung mit ihrem Leiter James stand
und fiel. Die Käufer waren vielleicht ebensooft Bürgerliche wie Sozialisten,
rekrutierten sich aus allen Parteien und in großer Anzahl besonders aus der
jede Persönlichkeit schätzenden Intelligenz.

Das wichtigste Hilfsmittel eines klassenbewußten Sozialismus, die
Abonnementspresse, fehlt der französischen Partei. Man kann daher behaupten,
daß die Parteigesinnung über die nationale Sitte (in Frankreich ist Abonnement
und ständiger Gebrauch derselben Zeitung unbekannt) nicht zu siegen vermochte,
daß also Parteidisziplin und innere Kraft sehr zu wünschen übrig lassen und
mit den Verhältnissen in der deutschen Bruderpartei gar keinen Vergleich aus¬
zuhalten vermögen. Wenn man aber weiter beobachtet, daß auf die Million
sozialistischer Wähler nur etwa sechzigtausend parteipolitisch Organisierte kommen,
während Deutschland deren auf viereinhalb Millionen etwa eineinhalb Millionen
zählt, wenn man steht, daß, wiederum im Gegensatz zu Deutschland, sozialistische
Wahl- und sonstige Vereine in weiten Gegenden fehlen, daß in vielen Wahl¬
kreisen nicht einmal ein Kandidat der Partei aufgestellt wird, so kommen wir
an die Wurzel der Schwäche, kommen zugleich an die Wurzel der Frage nach
der Bedeutung der unifizierten Sozialisten für das französische Staatsleben und
damit auch für den Internationalismus.

Die französische Sozialdemokratie ist nicht eine Arbeiterpartei wie etwa die
deutsche. Die Einheitlichkeit der Wählerschaft fehlt ihr. Zu weit höherem Pro¬
zentsatz als jene setzt sie sich aus Angehörigen anderer Berufsklassen zusammen.
Nichts ist charakteristischer hierfür als eine Wahlversammlung oder ein Partei-


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[0272] vom französischen Sozialismus selbst dieses sich nur mit größter Mühe und eine Zeitlang nur mit Unterstützung der Sozialdemokratie Deutschlands halten konnte, ^ wenn es eine einigermaßen bedeutende Zahl von Abonnenten nicht aufzuweisen vermag! Eine sozia¬ listische Lokalpresse gar existiert nirgends. Wohl erscheint hin und wieder ein Wochenblatt, da und dort auch eine Halbwochenzeitung. Lange vermögen sie ihr Dasein nie zu fristen. Sie verschwinden meist so schnell wieder wie sie gekommen. Die große Industriestadt Lyon z. B. erfreute sich eine Zeit¬ lang des „/^venir", eines vollkommen unbedeutenden Ablegers der t^lumanitö, der nur jeden Mittwoch und Sonnabend und, wie fast alle französischen Zeitungen, selbstverständlich nur vierseitig erschien. Selbst so sparsame sozia¬ listische Kost fand jedoch bei dem Arbeiterpublikum keinen Zuspruch. Das Blatt ging schon im Winter 1912/13 wieder ein, zu einer Zeit, als doch die bevorstehende Präsidentenwahl, die Frage der Einführung der dreijährigen Dienstzeit, der europäische Generalstreik anläßlich der Balkanwirren u. a. in. das politische Interesse gerade der sozialistischen Arbeiterschaft in schärfster Weise hätten in Anspruch nehmen müssen. Wenn die „Querre sociale" Gustav Heros's jeden Mittwoch Abend eifrigen Zuspruch und Absatz fand, so verdankte sie es ihrer Eigenschaft als Pariser Blatt und vor allem der Persönlichkeit ihres Herausgebers. Dasselbe war fraglos in mindestens gleichem Grade auch bei der ttumanitö der Fall, deren Bedeutung mit ihrem Leiter James stand und fiel. Die Käufer waren vielleicht ebensooft Bürgerliche wie Sozialisten, rekrutierten sich aus allen Parteien und in großer Anzahl besonders aus der jede Persönlichkeit schätzenden Intelligenz. Das wichtigste Hilfsmittel eines klassenbewußten Sozialismus, die Abonnementspresse, fehlt der französischen Partei. Man kann daher behaupten, daß die Parteigesinnung über die nationale Sitte (in Frankreich ist Abonnement und ständiger Gebrauch derselben Zeitung unbekannt) nicht zu siegen vermochte, daß also Parteidisziplin und innere Kraft sehr zu wünschen übrig lassen und mit den Verhältnissen in der deutschen Bruderpartei gar keinen Vergleich aus¬ zuhalten vermögen. Wenn man aber weiter beobachtet, daß auf die Million sozialistischer Wähler nur etwa sechzigtausend parteipolitisch Organisierte kommen, während Deutschland deren auf viereinhalb Millionen etwa eineinhalb Millionen zählt, wenn man steht, daß, wiederum im Gegensatz zu Deutschland, sozialistische Wahl- und sonstige Vereine in weiten Gegenden fehlen, daß in vielen Wahl¬ kreisen nicht einmal ein Kandidat der Partei aufgestellt wird, so kommen wir an die Wurzel der Schwäche, kommen zugleich an die Wurzel der Frage nach der Bedeutung der unifizierten Sozialisten für das französische Staatsleben und damit auch für den Internationalismus. Die französische Sozialdemokratie ist nicht eine Arbeiterpartei wie etwa die deutsche. Die Einheitlichkeit der Wählerschaft fehlt ihr. Zu weit höherem Pro¬ zentsatz als jene setzt sie sich aus Angehörigen anderer Berufsklassen zusammen. Nichts ist charakteristischer hierfür als eine Wahlversammlung oder ein Partei-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330971/272>, abgerufen am 23.07.2024.