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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr.

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Zur ideologischen Deutung der Gegenwart

von tiefen Zwiespalten durchfurcht, von inneren Kämpfen aufgewühlt wird, die
er nicht nur mit brudermörderischer Bomben und Revolvern, sondern auch im
Felde des Geistes blutig auszufechten entschlossen ist. Europa, der Westen, ist
für Rußland das unendlich erregende nationale Lebensproblem, und es ist er¬
schütternd anzusehen, wie die Vertreter nationaler Hingabe wie nationaler Selbst¬
behauptung in gleicher Weise die Munition des ideologischen Kampfes aus dem
fragwürdigen Westen beziehen müssen.

Mit schlafwandlerischer Sicherheit ging trotz leichter, kaum bemerkter Schwan¬
kungen der deutsche Mensch seinen Weg, der ihn schließlich in diesen schreckens¬
reichen Krieg hineingeführt hat. Schon vorher freilich war auch bei uns einer
aufgestanden, der den furchtbaren Zwiespalt der kommenden Jahrzehnte in
seinem schweren Leben bereits auszutragen hatte: Friedrich Nietzsche. Aber er
wurde bei uns mehr angestaunt, mißtrauisch hier, bewundernd da, als in der
Tiefe recht eigentlich verstanden. Sein Blick reichte weiter als der unsrige, erst
jetzt gelangen wir allmählich an den Punkt, wo er, der zu früh Geborene, der
Last seiner Gesichte nicht Gewachsene, schon damals stand, bis er unter fürchter¬
lichen intellektuellen Zuckungen zusammenbrach. Ja, selbst noch der Anfang
dieses Krieges, der Schlußstein einer langen Entwicklung des deutschen Geistes,
schien eine glänzende Probe auf die innerlich geschlossene, tief in sich selbst be¬
friedigte Selbstversöhntheit des deutschen Geistes und Wesens. Aber schon der
Fortgang des Krieges macht dem aufmerksamen Ohr das unterirdische Grollen
einer nahenden Selbstentzweiung vernehmlich. Der Traum vom inneren Frieden
naht seinem Ende. Unruhig wälzt sich schon der Schläfer. Und während wir
in mustergültiger Disziplin und Selbstbeherrschung noch die unzerteilte völkische
Kraft an die Austragung des äußeren Streites gegen den zum unnatürlichen
Bunde vereinten Westen und Osten wenden, bewegen uns schon die Ahnungen
gewaltiger innerer Kämpfe, die der deutsche Geist mit sich selbst auszufechten
haben wird, wenn er -- wir hoffen: siegreich -- den Kampf nach außen be¬
standen hat. Wir glaubten, nur für Rußland gäbe es ein Problem "der
Westen". Nun dämmert den Besten unter uns die Einsicht: auch für uns wird
der Westen das gewaltige Problem sein, an das alle geistige Kampfkraft des
Deutschtums nach diesem Krieg gewandt werden muß.

Es ist nicht meine Absicht, diese Problematik hier bereits auseinander
zu legen, so deutlich ihre Grundzüge schon heute überschaubar sind. Hier kommt
es mir lediglich auf den Hinweis an, daß die deutsche Intelligenz nicht länger
einer in die Tiefe gehenden politischen Ideologie entraten kann. Es ist ohne
jeden Belang, wenn ängstliche Gemüter in halbbewußter Voraussicht der
kommenden Kämpfe jetzt intellektuelle Toleranzedikte erlassen und die Schalmeien
eines geistigen Pazifismus blasen. Der Kampf kommt mit unentrinnbarer Not¬
wendigkeit. Worauf es vielmehr ankommt, ist dies: daß er nicht in der Schicht
kleinlicher parlamentarisch-parteipolitischer Zänkereien ausgefochten wird, sondern
vielmehr mit der edlen Waffe der Ideen, die des Deutschen allein würdig ist.


Zur ideologischen Deutung der Gegenwart

von tiefen Zwiespalten durchfurcht, von inneren Kämpfen aufgewühlt wird, die
er nicht nur mit brudermörderischer Bomben und Revolvern, sondern auch im
Felde des Geistes blutig auszufechten entschlossen ist. Europa, der Westen, ist
für Rußland das unendlich erregende nationale Lebensproblem, und es ist er¬
schütternd anzusehen, wie die Vertreter nationaler Hingabe wie nationaler Selbst¬
behauptung in gleicher Weise die Munition des ideologischen Kampfes aus dem
fragwürdigen Westen beziehen müssen.

Mit schlafwandlerischer Sicherheit ging trotz leichter, kaum bemerkter Schwan¬
kungen der deutsche Mensch seinen Weg, der ihn schließlich in diesen schreckens¬
reichen Krieg hineingeführt hat. Schon vorher freilich war auch bei uns einer
aufgestanden, der den furchtbaren Zwiespalt der kommenden Jahrzehnte in
seinem schweren Leben bereits auszutragen hatte: Friedrich Nietzsche. Aber er
wurde bei uns mehr angestaunt, mißtrauisch hier, bewundernd da, als in der
Tiefe recht eigentlich verstanden. Sein Blick reichte weiter als der unsrige, erst
jetzt gelangen wir allmählich an den Punkt, wo er, der zu früh Geborene, der
Last seiner Gesichte nicht Gewachsene, schon damals stand, bis er unter fürchter¬
lichen intellektuellen Zuckungen zusammenbrach. Ja, selbst noch der Anfang
dieses Krieges, der Schlußstein einer langen Entwicklung des deutschen Geistes,
schien eine glänzende Probe auf die innerlich geschlossene, tief in sich selbst be¬
friedigte Selbstversöhntheit des deutschen Geistes und Wesens. Aber schon der
Fortgang des Krieges macht dem aufmerksamen Ohr das unterirdische Grollen
einer nahenden Selbstentzweiung vernehmlich. Der Traum vom inneren Frieden
naht seinem Ende. Unruhig wälzt sich schon der Schläfer. Und während wir
in mustergültiger Disziplin und Selbstbeherrschung noch die unzerteilte völkische
Kraft an die Austragung des äußeren Streites gegen den zum unnatürlichen
Bunde vereinten Westen und Osten wenden, bewegen uns schon die Ahnungen
gewaltiger innerer Kämpfe, die der deutsche Geist mit sich selbst auszufechten
haben wird, wenn er — wir hoffen: siegreich — den Kampf nach außen be¬
standen hat. Wir glaubten, nur für Rußland gäbe es ein Problem „der
Westen". Nun dämmert den Besten unter uns die Einsicht: auch für uns wird
der Westen das gewaltige Problem sein, an das alle geistige Kampfkraft des
Deutschtums nach diesem Krieg gewandt werden muß.

Es ist nicht meine Absicht, diese Problematik hier bereits auseinander
zu legen, so deutlich ihre Grundzüge schon heute überschaubar sind. Hier kommt
es mir lediglich auf den Hinweis an, daß die deutsche Intelligenz nicht länger
einer in die Tiefe gehenden politischen Ideologie entraten kann. Es ist ohne
jeden Belang, wenn ängstliche Gemüter in halbbewußter Voraussicht der
kommenden Kämpfe jetzt intellektuelle Toleranzedikte erlassen und die Schalmeien
eines geistigen Pazifismus blasen. Der Kampf kommt mit unentrinnbarer Not¬
wendigkeit. Worauf es vielmehr ankommt, ist dies: daß er nicht in der Schicht
kleinlicher parlamentarisch-parteipolitischer Zänkereien ausgefochten wird, sondern
vielmehr mit der edlen Waffe der Ideen, die des Deutschen allein würdig ist.


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[0259] Zur ideologischen Deutung der Gegenwart von tiefen Zwiespalten durchfurcht, von inneren Kämpfen aufgewühlt wird, die er nicht nur mit brudermörderischer Bomben und Revolvern, sondern auch im Felde des Geistes blutig auszufechten entschlossen ist. Europa, der Westen, ist für Rußland das unendlich erregende nationale Lebensproblem, und es ist er¬ schütternd anzusehen, wie die Vertreter nationaler Hingabe wie nationaler Selbst¬ behauptung in gleicher Weise die Munition des ideologischen Kampfes aus dem fragwürdigen Westen beziehen müssen. Mit schlafwandlerischer Sicherheit ging trotz leichter, kaum bemerkter Schwan¬ kungen der deutsche Mensch seinen Weg, der ihn schließlich in diesen schreckens¬ reichen Krieg hineingeführt hat. Schon vorher freilich war auch bei uns einer aufgestanden, der den furchtbaren Zwiespalt der kommenden Jahrzehnte in seinem schweren Leben bereits auszutragen hatte: Friedrich Nietzsche. Aber er wurde bei uns mehr angestaunt, mißtrauisch hier, bewundernd da, als in der Tiefe recht eigentlich verstanden. Sein Blick reichte weiter als der unsrige, erst jetzt gelangen wir allmählich an den Punkt, wo er, der zu früh Geborene, der Last seiner Gesichte nicht Gewachsene, schon damals stand, bis er unter fürchter¬ lichen intellektuellen Zuckungen zusammenbrach. Ja, selbst noch der Anfang dieses Krieges, der Schlußstein einer langen Entwicklung des deutschen Geistes, schien eine glänzende Probe auf die innerlich geschlossene, tief in sich selbst be¬ friedigte Selbstversöhntheit des deutschen Geistes und Wesens. Aber schon der Fortgang des Krieges macht dem aufmerksamen Ohr das unterirdische Grollen einer nahenden Selbstentzweiung vernehmlich. Der Traum vom inneren Frieden naht seinem Ende. Unruhig wälzt sich schon der Schläfer. Und während wir in mustergültiger Disziplin und Selbstbeherrschung noch die unzerteilte völkische Kraft an die Austragung des äußeren Streites gegen den zum unnatürlichen Bunde vereinten Westen und Osten wenden, bewegen uns schon die Ahnungen gewaltiger innerer Kämpfe, die der deutsche Geist mit sich selbst auszufechten haben wird, wenn er — wir hoffen: siegreich — den Kampf nach außen be¬ standen hat. Wir glaubten, nur für Rußland gäbe es ein Problem „der Westen". Nun dämmert den Besten unter uns die Einsicht: auch für uns wird der Westen das gewaltige Problem sein, an das alle geistige Kampfkraft des Deutschtums nach diesem Krieg gewandt werden muß. Es ist nicht meine Absicht, diese Problematik hier bereits auseinander zu legen, so deutlich ihre Grundzüge schon heute überschaubar sind. Hier kommt es mir lediglich auf den Hinweis an, daß die deutsche Intelligenz nicht länger einer in die Tiefe gehenden politischen Ideologie entraten kann. Es ist ohne jeden Belang, wenn ängstliche Gemüter in halbbewußter Voraussicht der kommenden Kämpfe jetzt intellektuelle Toleranzedikte erlassen und die Schalmeien eines geistigen Pazifismus blasen. Der Kampf kommt mit unentrinnbarer Not¬ wendigkeit. Worauf es vielmehr ankommt, ist dies: daß er nicht in der Schicht kleinlicher parlamentarisch-parteipolitischer Zänkereien ausgefochten wird, sondern vielmehr mit der edlen Waffe der Ideen, die des Deutschen allein würdig ist.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330971/259>, abgerufen am 23.07.2024.