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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr.

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Zur ideologischen Deutung der Gegenwart

Zusammenhang damit ein weiteres Wesensmerkmal: daß sie nämlich auch als
Verkündigung aufzufassen ist und damit einerseits zur religiösen Prophetie, an¬
drerseits zum Moralistentum in verwandtschaftliche Beziehungen gelangt. Wie
ihre Annäherung an die Philosophie bei Hegel offenbar wird, so verdeutlicht
sich ihre Nähe zur Prophetie und zur Kunst bei Nietzsche, der vielleicht als
unser letzter Jdeologe größeren Stiles gelten kann. Sein offener oder versteckter
Einfluß auf alle gegenwärtigen Ideologien ist denn auch ganz ungeheuer. Erst
der spätere Historiker wird ihn voll zu ermessen vermögen.

Daß die ideologische Begabung dem Deutschen nicht fehlt, zeigen bereits
zur Genüge die genannten Namen, denen noch u. a. Herder, Schiller und die
Romantiker hinzuzufügen sind. Auf eine merkwürdige Grenze des deutschen
Geistes, die ein Durchdrungen dieser Ideologien hintanhält, wird man jedoch
aufmerksam, wenn man -- etwa an Hand des verdienstvollen Masarykschen
Werkes Rußland und Europa (Jena, Verlag Eugen Diederichs 1913) -- sich
den Einfluß vor Augen stellt, den diese deutschen Ideologen außerhalb des
Deutschtums, nämlich in Rußland, ausgeübt haben. Das Rußland des neun¬
zehnten Jahrhunderts kann man beinahe als das klassische Land der Ideologien
bezeichnen, und zwar trotz der offenkundiger Tatsache, daß die meisten Grund¬
gedanken der russischen Ideologien ihrem gedanklichen Urbestande nach dem
deutschen Geiste entstammen. Dieses deutsche philosophische Material hat das
Russentum dann entschlossen in die ideologische Form umgeprägt und damit in
einer Breite zur Wirkung gebracht, die in Deutschland ganz ausgeschlossen war.

So eröffnet sich unseren Blicken die merkwürdige Tatsache, daß in Deutsch¬
land einer Fülle ideologischer Einzelbegabungen nicht eine Intelligenz gegen¬
übersteht, die dafür das eigentliche Organ besäße, wie das in Rußland in weit höherem
Maße der Fall ist. Völkischen Nutzen und Schaden dieser Erscheinung abzuwägen,
ist ein kompliziertes Problem für sich. Zweifellos trägt bet uns neben der
naturgemäßen Gleichgültigkeit des wirtschaftlichen und bürokratischen Praktikers
der traditionelle Einfluß unserer Universitäten auf das geistige Leben der Nation
wesentlich dazu bei, das Mißtrauen gegen die verdächtige Ideologie in weite
Kreise zu tragen. Sind doch die meisten der deutschen Ideologien am Rande
des akademischen Geistes, vielfach im Gegensatz zu ihm entstanden. Auch neigt
der zweifellos tief im deutschen Wesen verwurzelte metaphysische Sinn bei uns
zu einer Überbetonung der theoretischen Seite im Ideologischen, während dessen
werbende Kraft beim Russen an den selbstzerstörerischen nihilistischen Aktivismus
appelliert. Wo, wie bei uns, die Ideologie im wesentlichen eine Ausdeutung
der mit sich selbst einigen völkischen Instinkte ist, kann die Ideologie eine Art
Liebhaberei der Wenigen bleiben, weil sie die allgemeine nationale Entwicklung
nicht herumreißen, sondern sie nur rational verklären, sich selbst in ihrer ganzen
Tiefe zum Bewußtsein bringen will. Der leidenschaftliche, von der breiten
Menge der Intelligenz getragene ideologische Kampf in Rußland ist dagegen
in seiner besonderen Ausprägung ein Anzeichen dafür, daß der Nationalgeist


Zur ideologischen Deutung der Gegenwart

Zusammenhang damit ein weiteres Wesensmerkmal: daß sie nämlich auch als
Verkündigung aufzufassen ist und damit einerseits zur religiösen Prophetie, an¬
drerseits zum Moralistentum in verwandtschaftliche Beziehungen gelangt. Wie
ihre Annäherung an die Philosophie bei Hegel offenbar wird, so verdeutlicht
sich ihre Nähe zur Prophetie und zur Kunst bei Nietzsche, der vielleicht als
unser letzter Jdeologe größeren Stiles gelten kann. Sein offener oder versteckter
Einfluß auf alle gegenwärtigen Ideologien ist denn auch ganz ungeheuer. Erst
der spätere Historiker wird ihn voll zu ermessen vermögen.

Daß die ideologische Begabung dem Deutschen nicht fehlt, zeigen bereits
zur Genüge die genannten Namen, denen noch u. a. Herder, Schiller und die
Romantiker hinzuzufügen sind. Auf eine merkwürdige Grenze des deutschen
Geistes, die ein Durchdrungen dieser Ideologien hintanhält, wird man jedoch
aufmerksam, wenn man — etwa an Hand des verdienstvollen Masarykschen
Werkes Rußland und Europa (Jena, Verlag Eugen Diederichs 1913) — sich
den Einfluß vor Augen stellt, den diese deutschen Ideologen außerhalb des
Deutschtums, nämlich in Rußland, ausgeübt haben. Das Rußland des neun¬
zehnten Jahrhunderts kann man beinahe als das klassische Land der Ideologien
bezeichnen, und zwar trotz der offenkundiger Tatsache, daß die meisten Grund¬
gedanken der russischen Ideologien ihrem gedanklichen Urbestande nach dem
deutschen Geiste entstammen. Dieses deutsche philosophische Material hat das
Russentum dann entschlossen in die ideologische Form umgeprägt und damit in
einer Breite zur Wirkung gebracht, die in Deutschland ganz ausgeschlossen war.

So eröffnet sich unseren Blicken die merkwürdige Tatsache, daß in Deutsch¬
land einer Fülle ideologischer Einzelbegabungen nicht eine Intelligenz gegen¬
übersteht, die dafür das eigentliche Organ besäße, wie das in Rußland in weit höherem
Maße der Fall ist. Völkischen Nutzen und Schaden dieser Erscheinung abzuwägen,
ist ein kompliziertes Problem für sich. Zweifellos trägt bet uns neben der
naturgemäßen Gleichgültigkeit des wirtschaftlichen und bürokratischen Praktikers
der traditionelle Einfluß unserer Universitäten auf das geistige Leben der Nation
wesentlich dazu bei, das Mißtrauen gegen die verdächtige Ideologie in weite
Kreise zu tragen. Sind doch die meisten der deutschen Ideologien am Rande
des akademischen Geistes, vielfach im Gegensatz zu ihm entstanden. Auch neigt
der zweifellos tief im deutschen Wesen verwurzelte metaphysische Sinn bei uns
zu einer Überbetonung der theoretischen Seite im Ideologischen, während dessen
werbende Kraft beim Russen an den selbstzerstörerischen nihilistischen Aktivismus
appelliert. Wo, wie bei uns, die Ideologie im wesentlichen eine Ausdeutung
der mit sich selbst einigen völkischen Instinkte ist, kann die Ideologie eine Art
Liebhaberei der Wenigen bleiben, weil sie die allgemeine nationale Entwicklung
nicht herumreißen, sondern sie nur rational verklären, sich selbst in ihrer ganzen
Tiefe zum Bewußtsein bringen will. Der leidenschaftliche, von der breiten
Menge der Intelligenz getragene ideologische Kampf in Rußland ist dagegen
in seiner besonderen Ausprägung ein Anzeichen dafür, daß der Nationalgeist


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[0258] Zur ideologischen Deutung der Gegenwart Zusammenhang damit ein weiteres Wesensmerkmal: daß sie nämlich auch als Verkündigung aufzufassen ist und damit einerseits zur religiösen Prophetie, an¬ drerseits zum Moralistentum in verwandtschaftliche Beziehungen gelangt. Wie ihre Annäherung an die Philosophie bei Hegel offenbar wird, so verdeutlicht sich ihre Nähe zur Prophetie und zur Kunst bei Nietzsche, der vielleicht als unser letzter Jdeologe größeren Stiles gelten kann. Sein offener oder versteckter Einfluß auf alle gegenwärtigen Ideologien ist denn auch ganz ungeheuer. Erst der spätere Historiker wird ihn voll zu ermessen vermögen. Daß die ideologische Begabung dem Deutschen nicht fehlt, zeigen bereits zur Genüge die genannten Namen, denen noch u. a. Herder, Schiller und die Romantiker hinzuzufügen sind. Auf eine merkwürdige Grenze des deutschen Geistes, die ein Durchdrungen dieser Ideologien hintanhält, wird man jedoch aufmerksam, wenn man — etwa an Hand des verdienstvollen Masarykschen Werkes Rußland und Europa (Jena, Verlag Eugen Diederichs 1913) — sich den Einfluß vor Augen stellt, den diese deutschen Ideologen außerhalb des Deutschtums, nämlich in Rußland, ausgeübt haben. Das Rußland des neun¬ zehnten Jahrhunderts kann man beinahe als das klassische Land der Ideologien bezeichnen, und zwar trotz der offenkundiger Tatsache, daß die meisten Grund¬ gedanken der russischen Ideologien ihrem gedanklichen Urbestande nach dem deutschen Geiste entstammen. Dieses deutsche philosophische Material hat das Russentum dann entschlossen in die ideologische Form umgeprägt und damit in einer Breite zur Wirkung gebracht, die in Deutschland ganz ausgeschlossen war. So eröffnet sich unseren Blicken die merkwürdige Tatsache, daß in Deutsch¬ land einer Fülle ideologischer Einzelbegabungen nicht eine Intelligenz gegen¬ übersteht, die dafür das eigentliche Organ besäße, wie das in Rußland in weit höherem Maße der Fall ist. Völkischen Nutzen und Schaden dieser Erscheinung abzuwägen, ist ein kompliziertes Problem für sich. Zweifellos trägt bet uns neben der naturgemäßen Gleichgültigkeit des wirtschaftlichen und bürokratischen Praktikers der traditionelle Einfluß unserer Universitäten auf das geistige Leben der Nation wesentlich dazu bei, das Mißtrauen gegen die verdächtige Ideologie in weite Kreise zu tragen. Sind doch die meisten der deutschen Ideologien am Rande des akademischen Geistes, vielfach im Gegensatz zu ihm entstanden. Auch neigt der zweifellos tief im deutschen Wesen verwurzelte metaphysische Sinn bei uns zu einer Überbetonung der theoretischen Seite im Ideologischen, während dessen werbende Kraft beim Russen an den selbstzerstörerischen nihilistischen Aktivismus appelliert. Wo, wie bei uns, die Ideologie im wesentlichen eine Ausdeutung der mit sich selbst einigen völkischen Instinkte ist, kann die Ideologie eine Art Liebhaberei der Wenigen bleiben, weil sie die allgemeine nationale Entwicklung nicht herumreißen, sondern sie nur rational verklären, sich selbst in ihrer ganzen Tiefe zum Bewußtsein bringen will. Der leidenschaftliche, von der breiten Menge der Intelligenz getragene ideologische Kampf in Rußland ist dagegen in seiner besonderen Ausprägung ein Anzeichen dafür, daß der Nationalgeist

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Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

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Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330971/258>, abgerufen am 23.07.2024.