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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr.

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Die Entlassung Kriegsgefangener gegen Ehrenwort

Sieger. Wie immer folgte die Rechtswissenschaft nur zögernd und unter
mannigfachen Zweifeln der praktischen Anerkennung unseres Brauches. Seit
den Zeiten der italienischen Rechtslehrer des dreizehnten Jahrhunderts beschäftigte
sich die Rechtswissenschaft mit unseren Verträgen. Das römische, das kanonische
Recht und endlich das Naturrecht des sechszehnten und siebzehnten Jahrhunderts
mußten zur Begründung und zur Ablehnung der Rechtsgültigkeit der Verträge
dienen, und erst die Wissenschaft des achtzehnten Jahrhunderts erhob sich über
alle Zweifel zur rückhaltlosen Anerkennung der lange geübten Kriegsbrauche.

Eine alte Streitfrage, die seit dem fünfzehnten Jahrhundert immer von
neuem aufgeworfen wird, und erst in unseren Tagen endlich durch internationale
Vereinbarung gelöst ist, ist die Frage, ob und wie weit der Kriegsherr, die
Obrigkeit der gefangenen Soldaten, gebunden ist an das Versprechen der
Gefangenen, nicht gegen den siegreichen Feind seines Vaterlandes die Waffen
zu tragen oder bei der vorläufigen Entlassung nach Ende eines Urlaubs in
die Gefangenschaft zurückzukehren. Einer der ersten Schriftsteller, der diese
Frage erörterte, Paride dal Pozzo, im fünfzehnten Jahrhundert maßgebend in
der Lehre des gerichtlichen Zweikampfes, geht vom Lehnswesen und dem
Vasallitätsverhältnis aus; er spricht dem Vasalleneide die stärkere Kraft
gegenüber dem Rechte des Feindes aus den Versprechen des gefangenen
Vasallen zu. Nur wenn der Lehnsherr selbst den Vasallen zur Heeresfolge
aufgefordert hat, muß das Recht aus dem Lehnsetde dem Rechte deZ Siegers
weichen. Schriftsteller des sechszehnten Jahrhunderts geben dem Untertanen-
und Fahneneide den Vorzug vor dem Versprechen gegen den Feind. Erst am
Ende des sechszehnten Jahrhunderts lehrt Gentilis, der große Rechtslehrer in
Oxford, Anfang des siebzehnten Jahrhunderts Hugo Grotius in seinem Buche
"lie jure belli ac pALÜ8", daß die Obrigkeit des Gefangenen nicht nur an
dessen Versprechen gegen den Sieger gebunden ist, sondern ihre Untertanen
auch anhalten muß, dem Feinde die Treue zu halten. Spätere Gelehrte unter¬
scheiden wieder zwischen Angriffs- und Verteidigungskriegen und wollen den
Gefangenen seines Wortes ledig sprechen, wenn das Vaterland in Gefahr ist.
Seit Mitte des achtzehnten Jahrhunderts endlich herrschte auch in der Wissen¬
schaft Einigkeit darüber, daß der Staat des gefangenen Soldaten an dessen
Versprechen gebunden sein müsse. Erst in neuester Zeit erfolgte ein Rückschlag
gegen die rückhaltlose Anerkennung der Bindung des Staates durch das Ver¬
sprechen des Angehörigen seines Heeres. Die allzu freigebige Anwendung der
ehrenwörtlichen Verträge erhielt nicht zum wenigsten durch die Erfahrungen
des deutsch-französischen Krieges einen argen Stoß. Man hob die Schatten¬
seiten des Versprechens, nichts ferner gegen das Interesse des Siegers zu
unternehmen, hervor; man erklärte das Versprechen für unvereinbar mit dem
Fahneneide und mit der Natur des neuzeitlichen Militärdienstes, dem man sich
nicht einseitig entziehen kaun; man verurteilte es, daß Offiziere in bedrängter
Lage ihr Schicksal von dem ihrer Untergebenen trennten, und wies endlich aus


Die Entlassung Kriegsgefangener gegen Ehrenwort

Sieger. Wie immer folgte die Rechtswissenschaft nur zögernd und unter
mannigfachen Zweifeln der praktischen Anerkennung unseres Brauches. Seit
den Zeiten der italienischen Rechtslehrer des dreizehnten Jahrhunderts beschäftigte
sich die Rechtswissenschaft mit unseren Verträgen. Das römische, das kanonische
Recht und endlich das Naturrecht des sechszehnten und siebzehnten Jahrhunderts
mußten zur Begründung und zur Ablehnung der Rechtsgültigkeit der Verträge
dienen, und erst die Wissenschaft des achtzehnten Jahrhunderts erhob sich über
alle Zweifel zur rückhaltlosen Anerkennung der lange geübten Kriegsbrauche.

Eine alte Streitfrage, die seit dem fünfzehnten Jahrhundert immer von
neuem aufgeworfen wird, und erst in unseren Tagen endlich durch internationale
Vereinbarung gelöst ist, ist die Frage, ob und wie weit der Kriegsherr, die
Obrigkeit der gefangenen Soldaten, gebunden ist an das Versprechen der
Gefangenen, nicht gegen den siegreichen Feind seines Vaterlandes die Waffen
zu tragen oder bei der vorläufigen Entlassung nach Ende eines Urlaubs in
die Gefangenschaft zurückzukehren. Einer der ersten Schriftsteller, der diese
Frage erörterte, Paride dal Pozzo, im fünfzehnten Jahrhundert maßgebend in
der Lehre des gerichtlichen Zweikampfes, geht vom Lehnswesen und dem
Vasallitätsverhältnis aus; er spricht dem Vasalleneide die stärkere Kraft
gegenüber dem Rechte des Feindes aus den Versprechen des gefangenen
Vasallen zu. Nur wenn der Lehnsherr selbst den Vasallen zur Heeresfolge
aufgefordert hat, muß das Recht aus dem Lehnsetde dem Rechte deZ Siegers
weichen. Schriftsteller des sechszehnten Jahrhunderts geben dem Untertanen-
und Fahneneide den Vorzug vor dem Versprechen gegen den Feind. Erst am
Ende des sechszehnten Jahrhunderts lehrt Gentilis, der große Rechtslehrer in
Oxford, Anfang des siebzehnten Jahrhunderts Hugo Grotius in seinem Buche
„lie jure belli ac pALÜ8", daß die Obrigkeit des Gefangenen nicht nur an
dessen Versprechen gegen den Sieger gebunden ist, sondern ihre Untertanen
auch anhalten muß, dem Feinde die Treue zu halten. Spätere Gelehrte unter¬
scheiden wieder zwischen Angriffs- und Verteidigungskriegen und wollen den
Gefangenen seines Wortes ledig sprechen, wenn das Vaterland in Gefahr ist.
Seit Mitte des achtzehnten Jahrhunderts endlich herrschte auch in der Wissen¬
schaft Einigkeit darüber, daß der Staat des gefangenen Soldaten an dessen
Versprechen gebunden sein müsse. Erst in neuester Zeit erfolgte ein Rückschlag
gegen die rückhaltlose Anerkennung der Bindung des Staates durch das Ver¬
sprechen des Angehörigen seines Heeres. Die allzu freigebige Anwendung der
ehrenwörtlichen Verträge erhielt nicht zum wenigsten durch die Erfahrungen
des deutsch-französischen Krieges einen argen Stoß. Man hob die Schatten¬
seiten des Versprechens, nichts ferner gegen das Interesse des Siegers zu
unternehmen, hervor; man erklärte das Versprechen für unvereinbar mit dem
Fahneneide und mit der Natur des neuzeitlichen Militärdienstes, dem man sich
nicht einseitig entziehen kaun; man verurteilte es, daß Offiziere in bedrängter
Lage ihr Schicksal von dem ihrer Untergebenen trennten, und wies endlich aus


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[0252] Die Entlassung Kriegsgefangener gegen Ehrenwort Sieger. Wie immer folgte die Rechtswissenschaft nur zögernd und unter mannigfachen Zweifeln der praktischen Anerkennung unseres Brauches. Seit den Zeiten der italienischen Rechtslehrer des dreizehnten Jahrhunderts beschäftigte sich die Rechtswissenschaft mit unseren Verträgen. Das römische, das kanonische Recht und endlich das Naturrecht des sechszehnten und siebzehnten Jahrhunderts mußten zur Begründung und zur Ablehnung der Rechtsgültigkeit der Verträge dienen, und erst die Wissenschaft des achtzehnten Jahrhunderts erhob sich über alle Zweifel zur rückhaltlosen Anerkennung der lange geübten Kriegsbrauche. Eine alte Streitfrage, die seit dem fünfzehnten Jahrhundert immer von neuem aufgeworfen wird, und erst in unseren Tagen endlich durch internationale Vereinbarung gelöst ist, ist die Frage, ob und wie weit der Kriegsherr, die Obrigkeit der gefangenen Soldaten, gebunden ist an das Versprechen der Gefangenen, nicht gegen den siegreichen Feind seines Vaterlandes die Waffen zu tragen oder bei der vorläufigen Entlassung nach Ende eines Urlaubs in die Gefangenschaft zurückzukehren. Einer der ersten Schriftsteller, der diese Frage erörterte, Paride dal Pozzo, im fünfzehnten Jahrhundert maßgebend in der Lehre des gerichtlichen Zweikampfes, geht vom Lehnswesen und dem Vasallitätsverhältnis aus; er spricht dem Vasalleneide die stärkere Kraft gegenüber dem Rechte des Feindes aus den Versprechen des gefangenen Vasallen zu. Nur wenn der Lehnsherr selbst den Vasallen zur Heeresfolge aufgefordert hat, muß das Recht aus dem Lehnsetde dem Rechte deZ Siegers weichen. Schriftsteller des sechszehnten Jahrhunderts geben dem Untertanen- und Fahneneide den Vorzug vor dem Versprechen gegen den Feind. Erst am Ende des sechszehnten Jahrhunderts lehrt Gentilis, der große Rechtslehrer in Oxford, Anfang des siebzehnten Jahrhunderts Hugo Grotius in seinem Buche „lie jure belli ac pALÜ8", daß die Obrigkeit des Gefangenen nicht nur an dessen Versprechen gegen den Sieger gebunden ist, sondern ihre Untertanen auch anhalten muß, dem Feinde die Treue zu halten. Spätere Gelehrte unter¬ scheiden wieder zwischen Angriffs- und Verteidigungskriegen und wollen den Gefangenen seines Wortes ledig sprechen, wenn das Vaterland in Gefahr ist. Seit Mitte des achtzehnten Jahrhunderts endlich herrschte auch in der Wissen¬ schaft Einigkeit darüber, daß der Staat des gefangenen Soldaten an dessen Versprechen gebunden sein müsse. Erst in neuester Zeit erfolgte ein Rückschlag gegen die rückhaltlose Anerkennung der Bindung des Staates durch das Ver¬ sprechen des Angehörigen seines Heeres. Die allzu freigebige Anwendung der ehrenwörtlichen Verträge erhielt nicht zum wenigsten durch die Erfahrungen des deutsch-französischen Krieges einen argen Stoß. Man hob die Schatten¬ seiten des Versprechens, nichts ferner gegen das Interesse des Siegers zu unternehmen, hervor; man erklärte das Versprechen für unvereinbar mit dem Fahneneide und mit der Natur des neuzeitlichen Militärdienstes, dem man sich nicht einseitig entziehen kaun; man verurteilte es, daß Offiziere in bedrängter Lage ihr Schicksal von dem ihrer Untergebenen trennten, und wies endlich aus

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330971/252>, abgerufen am 23.07.2024.