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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr.

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Der germanische Schönheitsbegriff

Programm nach die Musik überschreitet, ist in der Tat durchaus gotisch und
von den Italienern z. B. stets so empfunden worden. Es betont den charakte¬
ristischen Ausdruck, aber die Gestalten bleiben trotzdem flächenhaft und von
metaphysischen Nebel umwoben, ja es ist die ausgesprochene Absicht des
Meisters, eben durch die Musik schon die transzendente Atmosphäre zu er¬
halten, die seit alters der Gotik eigen ist. Und die unendliche Melodie, ti
grellen Kontraste, die ekstatischen Aufschwünge, alles das ist gotisch in dem
von uns gezeichneten Sinne.

Wir lassen es bei diesen Anregungen bewenden. Sie dürften genügen,
um darzutun, daß in der germanischen Kunst ein Formwille wirksam ist, der
vielleicht dem klassischen Ideal nicht entspricht, in gewissem Sinne sogar deren
Verneinung darstellt. Aber braucht er sich darum vor jenem zu verstecken?
Wo in aller Welt ist der Klassik das alleinige Privileg der wahren Kunst ver¬
brieft? Es ist ein alter Zug der Deutschen, stets das von außen kommende
zu überschätzen und eine mehr als tausendjährige Tradition hat uns gewöhnt,
das Klassische schlechthin mit dem Vollendeten gleichzusetzen, so sehr, daß unsere
größten Dichter sich fremdes Kostüm borgten und ihren Ehrgeiz darein setzten
für "klassisch" gehalten zu werden. Aber seien wir ehrlich! Was hat unser Volk
am tiefsten auch an Goethe erlebt: etwa die "rein" klassischen Werke wie
Pandora, die Elegien, den Helenaakt im Faust oder die freiströmende, von
keinem klassischen Ideal beeinflußte Lyrik, den Wilhelm Meister, den Götz
oder Faust, der Tragödie ersten Teil? Die Antwort kann nicht schwer sein!
Und wer weiß, ob selbst Iphigenie nicht trotz statt wegen der klassischen Form wirkt,
ob nicht das Deutsche darin die tieferen Wirkungen erweckt gegenüber dem
"Klassischen". Was uns nottut, ist Selbstbesinnung nicht bloß im Hinblick auf
unsere Schwächen, auch im Hinblick auf unsere Stärke. Wir müssen den Mut
haben zu unserer eigenen Größe, zu unserer eigenen Schönheit. Dieser Krieg,
der uns unsere ungeahnte Kraft in militärischer Hinsicht gezeigt hat, wird
hoffentlich auch die Folge haben, daß wir lernen, uns kulturell auf eigene
Füße zu stellen und nicht immer von Hellas und Paris Maß und Norm
für das zu holen, was schön zu sein hat. Wahre Vollendung wird nie er¬
reicht, indem man fremde Triebe sich aufpfropft oder in fremde Kostüme sich
hüllt, sondern nur dadurch, daß man das eigene Wesen zur vollkommensten Blüte
und reichsten Frucht ausreifen läßt.




Der germanische Schönheitsbegriff

Programm nach die Musik überschreitet, ist in der Tat durchaus gotisch und
von den Italienern z. B. stets so empfunden worden. Es betont den charakte¬
ristischen Ausdruck, aber die Gestalten bleiben trotzdem flächenhaft und von
metaphysischen Nebel umwoben, ja es ist die ausgesprochene Absicht des
Meisters, eben durch die Musik schon die transzendente Atmosphäre zu er¬
halten, die seit alters der Gotik eigen ist. Und die unendliche Melodie, ti
grellen Kontraste, die ekstatischen Aufschwünge, alles das ist gotisch in dem
von uns gezeichneten Sinne.

Wir lassen es bei diesen Anregungen bewenden. Sie dürften genügen,
um darzutun, daß in der germanischen Kunst ein Formwille wirksam ist, der
vielleicht dem klassischen Ideal nicht entspricht, in gewissem Sinne sogar deren
Verneinung darstellt. Aber braucht er sich darum vor jenem zu verstecken?
Wo in aller Welt ist der Klassik das alleinige Privileg der wahren Kunst ver¬
brieft? Es ist ein alter Zug der Deutschen, stets das von außen kommende
zu überschätzen und eine mehr als tausendjährige Tradition hat uns gewöhnt,
das Klassische schlechthin mit dem Vollendeten gleichzusetzen, so sehr, daß unsere
größten Dichter sich fremdes Kostüm borgten und ihren Ehrgeiz darein setzten
für „klassisch" gehalten zu werden. Aber seien wir ehrlich! Was hat unser Volk
am tiefsten auch an Goethe erlebt: etwa die „rein" klassischen Werke wie
Pandora, die Elegien, den Helenaakt im Faust oder die freiströmende, von
keinem klassischen Ideal beeinflußte Lyrik, den Wilhelm Meister, den Götz
oder Faust, der Tragödie ersten Teil? Die Antwort kann nicht schwer sein!
Und wer weiß, ob selbst Iphigenie nicht trotz statt wegen der klassischen Form wirkt,
ob nicht das Deutsche darin die tieferen Wirkungen erweckt gegenüber dem
„Klassischen". Was uns nottut, ist Selbstbesinnung nicht bloß im Hinblick auf
unsere Schwächen, auch im Hinblick auf unsere Stärke. Wir müssen den Mut
haben zu unserer eigenen Größe, zu unserer eigenen Schönheit. Dieser Krieg,
der uns unsere ungeahnte Kraft in militärischer Hinsicht gezeigt hat, wird
hoffentlich auch die Folge haben, daß wir lernen, uns kulturell auf eigene
Füße zu stellen und nicht immer von Hellas und Paris Maß und Norm
für das zu holen, was schön zu sein hat. Wahre Vollendung wird nie er¬
reicht, indem man fremde Triebe sich aufpfropft oder in fremde Kostüme sich
hüllt, sondern nur dadurch, daß man das eigene Wesen zur vollkommensten Blüte
und reichsten Frucht ausreifen läßt.




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[0234] Der germanische Schönheitsbegriff Programm nach die Musik überschreitet, ist in der Tat durchaus gotisch und von den Italienern z. B. stets so empfunden worden. Es betont den charakte¬ ristischen Ausdruck, aber die Gestalten bleiben trotzdem flächenhaft und von metaphysischen Nebel umwoben, ja es ist die ausgesprochene Absicht des Meisters, eben durch die Musik schon die transzendente Atmosphäre zu er¬ halten, die seit alters der Gotik eigen ist. Und die unendliche Melodie, ti grellen Kontraste, die ekstatischen Aufschwünge, alles das ist gotisch in dem von uns gezeichneten Sinne. Wir lassen es bei diesen Anregungen bewenden. Sie dürften genügen, um darzutun, daß in der germanischen Kunst ein Formwille wirksam ist, der vielleicht dem klassischen Ideal nicht entspricht, in gewissem Sinne sogar deren Verneinung darstellt. Aber braucht er sich darum vor jenem zu verstecken? Wo in aller Welt ist der Klassik das alleinige Privileg der wahren Kunst ver¬ brieft? Es ist ein alter Zug der Deutschen, stets das von außen kommende zu überschätzen und eine mehr als tausendjährige Tradition hat uns gewöhnt, das Klassische schlechthin mit dem Vollendeten gleichzusetzen, so sehr, daß unsere größten Dichter sich fremdes Kostüm borgten und ihren Ehrgeiz darein setzten für „klassisch" gehalten zu werden. Aber seien wir ehrlich! Was hat unser Volk am tiefsten auch an Goethe erlebt: etwa die „rein" klassischen Werke wie Pandora, die Elegien, den Helenaakt im Faust oder die freiströmende, von keinem klassischen Ideal beeinflußte Lyrik, den Wilhelm Meister, den Götz oder Faust, der Tragödie ersten Teil? Die Antwort kann nicht schwer sein! Und wer weiß, ob selbst Iphigenie nicht trotz statt wegen der klassischen Form wirkt, ob nicht das Deutsche darin die tieferen Wirkungen erweckt gegenüber dem „Klassischen". Was uns nottut, ist Selbstbesinnung nicht bloß im Hinblick auf unsere Schwächen, auch im Hinblick auf unsere Stärke. Wir müssen den Mut haben zu unserer eigenen Größe, zu unserer eigenen Schönheit. Dieser Krieg, der uns unsere ungeahnte Kraft in militärischer Hinsicht gezeigt hat, wird hoffentlich auch die Folge haben, daß wir lernen, uns kulturell auf eigene Füße zu stellen und nicht immer von Hellas und Paris Maß und Norm für das zu holen, was schön zu sein hat. Wahre Vollendung wird nie er¬ reicht, indem man fremde Triebe sich aufpfropft oder in fremde Kostüme sich hüllt, sondern nur dadurch, daß man das eigene Wesen zur vollkommensten Blüte und reichsten Frucht ausreifen läßt.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330971/234>, abgerufen am 23.07.2024.