Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Das polnische Problem

formen auf breiter Grundlage drängte, erklangen gleichfalls Stimmen, die es
den Polen wünschenswert erscheinen ließen, jede nationale Engherzigkeit zurück¬
zuweisen und sich auf den Boden allslawischer Ideen zu stellen. Es entsteht in
Rußland schon 1905, in Galizien 1906 eine Bewegung zugunsten der Schaffung
einer slawischen Solidarität, mit der Spitze gegen das Deutschtum. In Peters¬
burg sammelt der Sohn des Begründers der "Nowoje Wremja" um die neu
ins Leben gerufene "Russj" die radikaleren Elemente, in Moskau Fürst Eugen
Trubetzkoj um den "Moskowski Jeshenedjelnik" die gebildeteren von hüben und
drüben. Die konstitutionellen Demokraten, zu denen Miljukow gehört, be¬
wirken Aussprachen auf den geheimen Sjemstwokongressen zu Moskau und in
den Sitzungen der Kaiserlichen ökonomischen Gesellschaft zu Se. Petersburg, in
denen Maxim Kowalewski, Herausgeber des "Wjestnik Jewropy" und späteres
Reichsratsmitglied, eine vermittelnde Rolle spielt. Man einigte sich nach Zu¬
sammentritt der russischen Volksvertretung auf der Autonomie des Weichfel¬
gebiets und Gleichberechtigung der polnischen Sprache mit der russischen in
ganz Rußland, nachdem schon 1905 dem polnischen Schulverein, der Naner?
8xlcolriA, die Genehmigung erteilt worden war, im Weichselgebiet und in
Litauen Schulen zu errichten.

Für die österreichischen Polen gewannen diese Besprechungen erst eine
realpolitische Bedeutung, als die russischen Patrioten den Panslawismus
als die Rettung Rußlands proklamierten und gleichzeitig jene Bewegung in
Petersburg die Oberhand zu gewinnen schien, die vom englischen Botschafter
mit Hilfe des russischen Historikers Pilenko in der gekauften "Nowoje Wremja"
klug genutzt, einen engeren Zusammenschluß der russischen mit der englischen
Politik mit ausgesprochener Spitze gegen Deutschland erstrebte.

In Kulan vertrat, zuerst wenig beachtet oder zurückgewiesen, der "swjet
Slowianski" die Idee der slawischen Solidarität mit wachsendem Erfolge. Sie
gewann sich die Mehrheit des Polenklubs im Jahre 1908 nach der Annahme
des Enteignungsgesetzes im Preußischen Landtage und der Zusammenkunft
König Eduards des Siebente" mit Nikolaus dem Zweiten in Reval. Daß aber
gerade diese beiden politischen Tatsachen es waren, die das polnische Denken
in Richtung auf den Panslawismus hinlenkten, und nicht etwa russische Kon¬
zessionen an die Polen auf kulturellen Gebiet, darf gefolgert werden, einmal
aus der Tätigkeit des bekannten englischen Publizisten Dillon in Nußland und
Polen und aus dem Umstände, daß nicht nur die oben erwähnten polnischen
Schulvereine längst (1907) aufgelöst waren, sondern Stolypin auch das Gesetz
der Lostrennung des Cholmer Landes vom Weichselgebiet in Vorbereitung hatte.
Wenn dennoch eine Verständigung zwischen Polen und Russen herbeigeführt
werden konnte, fo gebührt der Verdienst dafür Roman Dmowski, einen polnischen
Nationaldemokraten und Allpolen und den Polen im russischen Reichsrat.

Im Mai 1908 fanden, angeregt von einigen russischen Neichsratsmit-
gliedern Besprechungen in Petersburg zwischen Vertretern verschiedener slawischer


Das polnische Problem

formen auf breiter Grundlage drängte, erklangen gleichfalls Stimmen, die es
den Polen wünschenswert erscheinen ließen, jede nationale Engherzigkeit zurück¬
zuweisen und sich auf den Boden allslawischer Ideen zu stellen. Es entsteht in
Rußland schon 1905, in Galizien 1906 eine Bewegung zugunsten der Schaffung
einer slawischen Solidarität, mit der Spitze gegen das Deutschtum. In Peters¬
burg sammelt der Sohn des Begründers der „Nowoje Wremja" um die neu
ins Leben gerufene „Russj" die radikaleren Elemente, in Moskau Fürst Eugen
Trubetzkoj um den „Moskowski Jeshenedjelnik" die gebildeteren von hüben und
drüben. Die konstitutionellen Demokraten, zu denen Miljukow gehört, be¬
wirken Aussprachen auf den geheimen Sjemstwokongressen zu Moskau und in
den Sitzungen der Kaiserlichen ökonomischen Gesellschaft zu Se. Petersburg, in
denen Maxim Kowalewski, Herausgeber des „Wjestnik Jewropy" und späteres
Reichsratsmitglied, eine vermittelnde Rolle spielt. Man einigte sich nach Zu¬
sammentritt der russischen Volksvertretung auf der Autonomie des Weichfel¬
gebiets und Gleichberechtigung der polnischen Sprache mit der russischen in
ganz Rußland, nachdem schon 1905 dem polnischen Schulverein, der Naner?
8xlcolriA, die Genehmigung erteilt worden war, im Weichselgebiet und in
Litauen Schulen zu errichten.

Für die österreichischen Polen gewannen diese Besprechungen erst eine
realpolitische Bedeutung, als die russischen Patrioten den Panslawismus
als die Rettung Rußlands proklamierten und gleichzeitig jene Bewegung in
Petersburg die Oberhand zu gewinnen schien, die vom englischen Botschafter
mit Hilfe des russischen Historikers Pilenko in der gekauften „Nowoje Wremja"
klug genutzt, einen engeren Zusammenschluß der russischen mit der englischen
Politik mit ausgesprochener Spitze gegen Deutschland erstrebte.

In Kulan vertrat, zuerst wenig beachtet oder zurückgewiesen, der „swjet
Slowianski" die Idee der slawischen Solidarität mit wachsendem Erfolge. Sie
gewann sich die Mehrheit des Polenklubs im Jahre 1908 nach der Annahme
des Enteignungsgesetzes im Preußischen Landtage und der Zusammenkunft
König Eduards des Siebente» mit Nikolaus dem Zweiten in Reval. Daß aber
gerade diese beiden politischen Tatsachen es waren, die das polnische Denken
in Richtung auf den Panslawismus hinlenkten, und nicht etwa russische Kon¬
zessionen an die Polen auf kulturellen Gebiet, darf gefolgert werden, einmal
aus der Tätigkeit des bekannten englischen Publizisten Dillon in Nußland und
Polen und aus dem Umstände, daß nicht nur die oben erwähnten polnischen
Schulvereine längst (1907) aufgelöst waren, sondern Stolypin auch das Gesetz
der Lostrennung des Cholmer Landes vom Weichselgebiet in Vorbereitung hatte.
Wenn dennoch eine Verständigung zwischen Polen und Russen herbeigeführt
werden konnte, fo gebührt der Verdienst dafür Roman Dmowski, einen polnischen
Nationaldemokraten und Allpolen und den Polen im russischen Reichsrat.

Im Mai 1908 fanden, angeregt von einigen russischen Neichsratsmit-
gliedern Besprechungen in Petersburg zwischen Vertretern verschiedener slawischer


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0219" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/331191"/>
          <fw type="header" place="top"> Das polnische Problem</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_751" prev="#ID_750"> formen auf breiter Grundlage drängte, erklangen gleichfalls Stimmen, die es<lb/>
den Polen wünschenswert erscheinen ließen, jede nationale Engherzigkeit zurück¬<lb/>
zuweisen und sich auf den Boden allslawischer Ideen zu stellen. Es entsteht in<lb/>
Rußland schon 1905, in Galizien 1906 eine Bewegung zugunsten der Schaffung<lb/>
einer slawischen Solidarität, mit der Spitze gegen das Deutschtum. In Peters¬<lb/>
burg sammelt der Sohn des Begründers der &#x201E;Nowoje Wremja" um die neu<lb/>
ins Leben gerufene &#x201E;Russj" die radikaleren Elemente, in Moskau Fürst Eugen<lb/>
Trubetzkoj um den &#x201E;Moskowski Jeshenedjelnik" die gebildeteren von hüben und<lb/>
drüben. Die konstitutionellen Demokraten, zu denen Miljukow gehört, be¬<lb/>
wirken Aussprachen auf den geheimen Sjemstwokongressen zu Moskau und in<lb/>
den Sitzungen der Kaiserlichen ökonomischen Gesellschaft zu Se. Petersburg, in<lb/>
denen Maxim Kowalewski, Herausgeber des &#x201E;Wjestnik Jewropy" und späteres<lb/>
Reichsratsmitglied, eine vermittelnde Rolle spielt. Man einigte sich nach Zu¬<lb/>
sammentritt der russischen Volksvertretung auf der Autonomie des Weichfel¬<lb/>
gebiets und Gleichberechtigung der polnischen Sprache mit der russischen in<lb/>
ganz Rußland, nachdem schon 1905 dem polnischen Schulverein, der Naner?<lb/>
8xlcolriA, die Genehmigung erteilt worden war, im Weichselgebiet und in<lb/>
Litauen Schulen zu errichten.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_752"> Für die österreichischen Polen gewannen diese Besprechungen erst eine<lb/>
realpolitische Bedeutung, als die russischen Patrioten den Panslawismus<lb/>
als die Rettung Rußlands proklamierten und gleichzeitig jene Bewegung in<lb/>
Petersburg die Oberhand zu gewinnen schien, die vom englischen Botschafter<lb/>
mit Hilfe des russischen Historikers Pilenko in der gekauften &#x201E;Nowoje Wremja"<lb/>
klug genutzt, einen engeren Zusammenschluß der russischen mit der englischen<lb/>
Politik mit ausgesprochener Spitze gegen Deutschland erstrebte.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_753"> In Kulan vertrat, zuerst wenig beachtet oder zurückgewiesen, der &#x201E;swjet<lb/>
Slowianski" die Idee der slawischen Solidarität mit wachsendem Erfolge. Sie<lb/>
gewann sich die Mehrheit des Polenklubs im Jahre 1908 nach der Annahme<lb/>
des Enteignungsgesetzes im Preußischen Landtage und der Zusammenkunft<lb/>
König Eduards des Siebente» mit Nikolaus dem Zweiten in Reval. Daß aber<lb/>
gerade diese beiden politischen Tatsachen es waren, die das polnische Denken<lb/>
in Richtung auf den Panslawismus hinlenkten, und nicht etwa russische Kon¬<lb/>
zessionen an die Polen auf kulturellen Gebiet, darf gefolgert werden, einmal<lb/>
aus der Tätigkeit des bekannten englischen Publizisten Dillon in Nußland und<lb/>
Polen und aus dem Umstände, daß nicht nur die oben erwähnten polnischen<lb/>
Schulvereine längst (1907) aufgelöst waren, sondern Stolypin auch das Gesetz<lb/>
der Lostrennung des Cholmer Landes vom Weichselgebiet in Vorbereitung hatte.<lb/>
Wenn dennoch eine Verständigung zwischen Polen und Russen herbeigeführt<lb/>
werden konnte, fo gebührt der Verdienst dafür Roman Dmowski, einen polnischen<lb/>
Nationaldemokraten und Allpolen und den Polen im russischen Reichsrat.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_754" next="#ID_755"> Im Mai 1908 fanden, angeregt von einigen russischen Neichsratsmit-<lb/>
gliedern Besprechungen in Petersburg zwischen Vertretern verschiedener slawischer</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0219] Das polnische Problem formen auf breiter Grundlage drängte, erklangen gleichfalls Stimmen, die es den Polen wünschenswert erscheinen ließen, jede nationale Engherzigkeit zurück¬ zuweisen und sich auf den Boden allslawischer Ideen zu stellen. Es entsteht in Rußland schon 1905, in Galizien 1906 eine Bewegung zugunsten der Schaffung einer slawischen Solidarität, mit der Spitze gegen das Deutschtum. In Peters¬ burg sammelt der Sohn des Begründers der „Nowoje Wremja" um die neu ins Leben gerufene „Russj" die radikaleren Elemente, in Moskau Fürst Eugen Trubetzkoj um den „Moskowski Jeshenedjelnik" die gebildeteren von hüben und drüben. Die konstitutionellen Demokraten, zu denen Miljukow gehört, be¬ wirken Aussprachen auf den geheimen Sjemstwokongressen zu Moskau und in den Sitzungen der Kaiserlichen ökonomischen Gesellschaft zu Se. Petersburg, in denen Maxim Kowalewski, Herausgeber des „Wjestnik Jewropy" und späteres Reichsratsmitglied, eine vermittelnde Rolle spielt. Man einigte sich nach Zu¬ sammentritt der russischen Volksvertretung auf der Autonomie des Weichfel¬ gebiets und Gleichberechtigung der polnischen Sprache mit der russischen in ganz Rußland, nachdem schon 1905 dem polnischen Schulverein, der Naner? 8xlcolriA, die Genehmigung erteilt worden war, im Weichselgebiet und in Litauen Schulen zu errichten. Für die österreichischen Polen gewannen diese Besprechungen erst eine realpolitische Bedeutung, als die russischen Patrioten den Panslawismus als die Rettung Rußlands proklamierten und gleichzeitig jene Bewegung in Petersburg die Oberhand zu gewinnen schien, die vom englischen Botschafter mit Hilfe des russischen Historikers Pilenko in der gekauften „Nowoje Wremja" klug genutzt, einen engeren Zusammenschluß der russischen mit der englischen Politik mit ausgesprochener Spitze gegen Deutschland erstrebte. In Kulan vertrat, zuerst wenig beachtet oder zurückgewiesen, der „swjet Slowianski" die Idee der slawischen Solidarität mit wachsendem Erfolge. Sie gewann sich die Mehrheit des Polenklubs im Jahre 1908 nach der Annahme des Enteignungsgesetzes im Preußischen Landtage und der Zusammenkunft König Eduards des Siebente» mit Nikolaus dem Zweiten in Reval. Daß aber gerade diese beiden politischen Tatsachen es waren, die das polnische Denken in Richtung auf den Panslawismus hinlenkten, und nicht etwa russische Kon¬ zessionen an die Polen auf kulturellen Gebiet, darf gefolgert werden, einmal aus der Tätigkeit des bekannten englischen Publizisten Dillon in Nußland und Polen und aus dem Umstände, daß nicht nur die oben erwähnten polnischen Schulvereine längst (1907) aufgelöst waren, sondern Stolypin auch das Gesetz der Lostrennung des Cholmer Landes vom Weichselgebiet in Vorbereitung hatte. Wenn dennoch eine Verständigung zwischen Polen und Russen herbeigeführt werden konnte, fo gebührt der Verdienst dafür Roman Dmowski, einen polnischen Nationaldemokraten und Allpolen und den Polen im russischen Reichsrat. Im Mai 1908 fanden, angeregt von einigen russischen Neichsratsmit- gliedern Besprechungen in Petersburg zwischen Vertretern verschiedener slawischer

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330971
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330971/219
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330971/219>, abgerufen am 23.07.2024.