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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr.

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Das polnische Problem

auf die Ausrottung der Deutschen bedacht ist. Der Einfluß auf die Entwicklung
der Stimmungen im Weichselgebiet konnte sich aus diesem Zusammenhange
heraus um so mehr durchsetzen, als der russische Staat schwächer geworden und
je mehr die Kreise der russischen Intelligenz, die seit fünfzehn Jahren und länger
intime direkte Beziehungen zu den Polen in Warschau und in den polnischen
Kolonien gepflegt haben, Einfluß auf die Regierung gewannen und sich ihrerseits
nach Bundesgenossen umsahen. Waren es früher in erster Linie die Magnaten
in Litauen, Weißrußland und in der Ukraina, die mit ihrem Familienanhang
Träger der sogenannten russischen Orientierung -- später Ugoda -- waren, so
waren es bei Ausbruch des Krieges von 1914 laufende als Beamte, Ingenieure
und Kaufleute aus den breiten Schichten eines neuen Bürgerstandes, die die
Verbindung aufrechthielten und verinnerlichten. Aber die Gesamtheit dieser
Strömungen hatte doch nur dadurch eine größere national-politische Bedeutung
für die Polen, weil sie letzten Endes emporwuchsen aus dem polnischen Bauern¬
stande, den eine zwar nicht moralische aber doch konsequente Politik dem russischen
Staate eng durch wirkliche und vermeintliche Wohltaten verpflichtet hat und --
weil in einem für die Polen höchstentscheidenden Augenblick, nämlich als Fürst
Bülow im Preußischen Landtage das Enteignungsgesetz von 1908 durchdrückte,
die russische auswärtige Politik in Bahnen einlenkte, die entschieden von Berlin
fortführten. Gelingt es dem neuen polnischen Staate, die Bauern an sich zu
fesseln, so könnte der russisch-polnische Zusammenhang, in seiner Wurzel ge¬
troffen, auch an politischer Bedeutung einbüßen.




Die politischen Konsequenzen der geschilderten Entwicklung mußte Österreich-
Ungarn am härtesten empfinden, gegen dessen Existenz die russische auswärtige
Politik immer unverhohlener gerichtet war. Die weit vorgeschrittene Entwicklung
des Parlamentarismus und die große Freiheit, denen sich die einzelnen Natio¬
nalitäten in der Habsburgischen Monarchie erfreuen, bildeten die Brücke für den
unwillkommenen russischen Einfluß.

Die Niederlagen Rußlands auf den Schlachtfeldern der Mandschurei und
die im Anschluß daran in Rußland ausbrechenden Unruhen veranlaßten die
russische Regierung den kulturellen Wünschen der nicht orthodoxen Staats¬
angehörigen, darunter den Polen, verhältnismäßig weitgehende Zugeständnisse
zu machen. Die Polen griffen, wie ihre Ergebenheitsadresse an den Nach¬
folger Plewes im Amt eines Ministers des Innern, Fürsten Swjatopolk-
Mirski, vom Spätherbst 1904 beweist, um so lieber nach der dargebotenen Hand,
als sie eine Ausschaltung Rußlands aus den europäischen Fragen und damit
eine große Stärkung des deutschen Übergewichtes über die slawische Welt glaubten
befürchten zu müssen. Sie fanden sich in dieser Beurteilung der Lage mit den
Tschechen zusammen, die im Begriff standen, den Einfluß der Deutschen in
Böhmen ans ein Nichts herabzudrücken. -- Aus der russischen liberalen Ge¬
sellschaft, die in scharfer Opposition zur russischen Regierung stehend, zu Re-


Das polnische Problem

auf die Ausrottung der Deutschen bedacht ist. Der Einfluß auf die Entwicklung
der Stimmungen im Weichselgebiet konnte sich aus diesem Zusammenhange
heraus um so mehr durchsetzen, als der russische Staat schwächer geworden und
je mehr die Kreise der russischen Intelligenz, die seit fünfzehn Jahren und länger
intime direkte Beziehungen zu den Polen in Warschau und in den polnischen
Kolonien gepflegt haben, Einfluß auf die Regierung gewannen und sich ihrerseits
nach Bundesgenossen umsahen. Waren es früher in erster Linie die Magnaten
in Litauen, Weißrußland und in der Ukraina, die mit ihrem Familienanhang
Träger der sogenannten russischen Orientierung — später Ugoda — waren, so
waren es bei Ausbruch des Krieges von 1914 laufende als Beamte, Ingenieure
und Kaufleute aus den breiten Schichten eines neuen Bürgerstandes, die die
Verbindung aufrechthielten und verinnerlichten. Aber die Gesamtheit dieser
Strömungen hatte doch nur dadurch eine größere national-politische Bedeutung
für die Polen, weil sie letzten Endes emporwuchsen aus dem polnischen Bauern¬
stande, den eine zwar nicht moralische aber doch konsequente Politik dem russischen
Staate eng durch wirkliche und vermeintliche Wohltaten verpflichtet hat und —
weil in einem für die Polen höchstentscheidenden Augenblick, nämlich als Fürst
Bülow im Preußischen Landtage das Enteignungsgesetz von 1908 durchdrückte,
die russische auswärtige Politik in Bahnen einlenkte, die entschieden von Berlin
fortführten. Gelingt es dem neuen polnischen Staate, die Bauern an sich zu
fesseln, so könnte der russisch-polnische Zusammenhang, in seiner Wurzel ge¬
troffen, auch an politischer Bedeutung einbüßen.




Die politischen Konsequenzen der geschilderten Entwicklung mußte Österreich-
Ungarn am härtesten empfinden, gegen dessen Existenz die russische auswärtige
Politik immer unverhohlener gerichtet war. Die weit vorgeschrittene Entwicklung
des Parlamentarismus und die große Freiheit, denen sich die einzelnen Natio¬
nalitäten in der Habsburgischen Monarchie erfreuen, bildeten die Brücke für den
unwillkommenen russischen Einfluß.

Die Niederlagen Rußlands auf den Schlachtfeldern der Mandschurei und
die im Anschluß daran in Rußland ausbrechenden Unruhen veranlaßten die
russische Regierung den kulturellen Wünschen der nicht orthodoxen Staats¬
angehörigen, darunter den Polen, verhältnismäßig weitgehende Zugeständnisse
zu machen. Die Polen griffen, wie ihre Ergebenheitsadresse an den Nach¬
folger Plewes im Amt eines Ministers des Innern, Fürsten Swjatopolk-
Mirski, vom Spätherbst 1904 beweist, um so lieber nach der dargebotenen Hand,
als sie eine Ausschaltung Rußlands aus den europäischen Fragen und damit
eine große Stärkung des deutschen Übergewichtes über die slawische Welt glaubten
befürchten zu müssen. Sie fanden sich in dieser Beurteilung der Lage mit den
Tschechen zusammen, die im Begriff standen, den Einfluß der Deutschen in
Böhmen ans ein Nichts herabzudrücken. — Aus der russischen liberalen Ge¬
sellschaft, die in scharfer Opposition zur russischen Regierung stehend, zu Re-


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[0218] Das polnische Problem auf die Ausrottung der Deutschen bedacht ist. Der Einfluß auf die Entwicklung der Stimmungen im Weichselgebiet konnte sich aus diesem Zusammenhange heraus um so mehr durchsetzen, als der russische Staat schwächer geworden und je mehr die Kreise der russischen Intelligenz, die seit fünfzehn Jahren und länger intime direkte Beziehungen zu den Polen in Warschau und in den polnischen Kolonien gepflegt haben, Einfluß auf die Regierung gewannen und sich ihrerseits nach Bundesgenossen umsahen. Waren es früher in erster Linie die Magnaten in Litauen, Weißrußland und in der Ukraina, die mit ihrem Familienanhang Träger der sogenannten russischen Orientierung — später Ugoda — waren, so waren es bei Ausbruch des Krieges von 1914 laufende als Beamte, Ingenieure und Kaufleute aus den breiten Schichten eines neuen Bürgerstandes, die die Verbindung aufrechthielten und verinnerlichten. Aber die Gesamtheit dieser Strömungen hatte doch nur dadurch eine größere national-politische Bedeutung für die Polen, weil sie letzten Endes emporwuchsen aus dem polnischen Bauern¬ stande, den eine zwar nicht moralische aber doch konsequente Politik dem russischen Staate eng durch wirkliche und vermeintliche Wohltaten verpflichtet hat und — weil in einem für die Polen höchstentscheidenden Augenblick, nämlich als Fürst Bülow im Preußischen Landtage das Enteignungsgesetz von 1908 durchdrückte, die russische auswärtige Politik in Bahnen einlenkte, die entschieden von Berlin fortführten. Gelingt es dem neuen polnischen Staate, die Bauern an sich zu fesseln, so könnte der russisch-polnische Zusammenhang, in seiner Wurzel ge¬ troffen, auch an politischer Bedeutung einbüßen. Die politischen Konsequenzen der geschilderten Entwicklung mußte Österreich- Ungarn am härtesten empfinden, gegen dessen Existenz die russische auswärtige Politik immer unverhohlener gerichtet war. Die weit vorgeschrittene Entwicklung des Parlamentarismus und die große Freiheit, denen sich die einzelnen Natio¬ nalitäten in der Habsburgischen Monarchie erfreuen, bildeten die Brücke für den unwillkommenen russischen Einfluß. Die Niederlagen Rußlands auf den Schlachtfeldern der Mandschurei und die im Anschluß daran in Rußland ausbrechenden Unruhen veranlaßten die russische Regierung den kulturellen Wünschen der nicht orthodoxen Staats¬ angehörigen, darunter den Polen, verhältnismäßig weitgehende Zugeständnisse zu machen. Die Polen griffen, wie ihre Ergebenheitsadresse an den Nach¬ folger Plewes im Amt eines Ministers des Innern, Fürsten Swjatopolk- Mirski, vom Spätherbst 1904 beweist, um so lieber nach der dargebotenen Hand, als sie eine Ausschaltung Rußlands aus den europäischen Fragen und damit eine große Stärkung des deutschen Übergewichtes über die slawische Welt glaubten befürchten zu müssen. Sie fanden sich in dieser Beurteilung der Lage mit den Tschechen zusammen, die im Begriff standen, den Einfluß der Deutschen in Böhmen ans ein Nichts herabzudrücken. — Aus der russischen liberalen Ge¬ sellschaft, die in scharfer Opposition zur russischen Regierung stehend, zu Re-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330971/218>, abgerufen am 23.07.2024.