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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr.

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Das polnische Problem

Die durch die Teilungen bedingte Tatsache, daß die Staatenentwicklung in
Europa seit dem achtzehnten Jahrhundert ohne die Mitwirkung eines polnischen
Staatswesens und unbeeinflußt durch die Bedürfnisse eines solchen vor sich
gegangen ist, hat für die sich dem Zustande der Passivität energisch wider¬
setzenden Polen zur Folge gehabt, daß sie, in dem Bestreben sich realpolitische
Freundschaften zu gewinnen, eine Unmenge von Einflüssen auf sich wirken lassen
mußten, die sich, kraft ihrer Weltzusammenhänge stärker als die spezifisch polnischen
Ideale immer wieder als Selbstzweck durchzusetzen vermochten und schließlich
das nationale Empfinden der Polen völlig aufzulösen oder doch in Bahnen zu
lenken drohten, die den ursprünglichen Empfindungen und Wünschen der Führer
der polnischen Nation entschieden zuwider laufen mußten. Aus solchen zeit¬
weiligen Einflüssen sind im Laufe der Jahrzehnte politische Richtungen und
schließlich Parteiprogramme entstanden, die je nach der Größe ihrer Gefolgschaft
jedes neu erstehende polnische Staatswesen innerpolitisch mehr oder minder
stark belasten oder beleben müssen, je nachdem in welcher Richtung der neue
polnische Staatwirtschafts' und kulturpolitischen Anschluß nimmt. Hätten die
Russen rechtzeitig ihre Versprechungen einer polnischen Autonomie eingelöst, so
hätte das an Rußland angeschlossene Staatswesen alle europäischen Neigungen
und Strömungen als unbequem empfinden und seine innere Politik entsprechend
einrichten müssen, -- nun die polnischen Führer ihr Heil an Deutschlands
Seite suchen, wird sich ihre besondere Aufmerksamkeit gegen alle von Rußland
her eingewanderten Einflüsse richten.

Der Umfang und Charakter dieser russischen Einflüsse ist im Augenblick
nicht recht greifbar, da er naturgemäß hin und her schwankte; jedenfalls wird
er um so mehr zurücktreten, je gründlicher die Niederlagen sind, die wir Ru߬
land beibringen und je größer die Vorteile ausfallen, die wir den Polen bei
ihrem politischen Anschluß an Mitteleuropa gewähren können. Bei der augen¬
scheinlich starken Neigung der Polen zum Westen, die sich seit Einzug unserer
Truppen in Warschau besonders durch die Wirksamkeit der polnischen Universität
neu belebte, treten die russophilen Strömungen erheblich zurück in ihrer
politischen Bedeutung für den Augenblick. Wir erkennen sie wohl am klarsten
durch einen kurzen Überblick über den Entwicklungsgang des polnischen Denkens
seit den mißlungenen Aufständen von 1830/31 und 1861/63. Wir erkennen
denn auch den großen Anteil, den der Westen auf diesen Entwicklungsgang hat.

Der Aufstand von 1830/31 war der letzte rein nationalen Charakters, --
eine unverfälschte polnische Bewegung mit dem Ziel der Wiederaufrichtung eines
polnischen Staates auf der Grundlage des Nationalitätsprinzips und starker
Hinneigung an den Westen. Schon der Aufstand von 1863 trägt diese reinen
Züge nicht mehr; in ihm schwingen, -- ebenso wie bei den Bauernrevolten
von 1846 -- vom französischen Sozialismus durch Emigranten übertragene
Klasseninteressen stark mit. Die Bewegung trägt anarchische Züge. Ihr fehlt
ein scharf umrissenes positives Ziel und sie bleibt kaum mehr als eine Auf-


Das polnische Problem

Die durch die Teilungen bedingte Tatsache, daß die Staatenentwicklung in
Europa seit dem achtzehnten Jahrhundert ohne die Mitwirkung eines polnischen
Staatswesens und unbeeinflußt durch die Bedürfnisse eines solchen vor sich
gegangen ist, hat für die sich dem Zustande der Passivität energisch wider¬
setzenden Polen zur Folge gehabt, daß sie, in dem Bestreben sich realpolitische
Freundschaften zu gewinnen, eine Unmenge von Einflüssen auf sich wirken lassen
mußten, die sich, kraft ihrer Weltzusammenhänge stärker als die spezifisch polnischen
Ideale immer wieder als Selbstzweck durchzusetzen vermochten und schließlich
das nationale Empfinden der Polen völlig aufzulösen oder doch in Bahnen zu
lenken drohten, die den ursprünglichen Empfindungen und Wünschen der Führer
der polnischen Nation entschieden zuwider laufen mußten. Aus solchen zeit¬
weiligen Einflüssen sind im Laufe der Jahrzehnte politische Richtungen und
schließlich Parteiprogramme entstanden, die je nach der Größe ihrer Gefolgschaft
jedes neu erstehende polnische Staatswesen innerpolitisch mehr oder minder
stark belasten oder beleben müssen, je nachdem in welcher Richtung der neue
polnische Staatwirtschafts' und kulturpolitischen Anschluß nimmt. Hätten die
Russen rechtzeitig ihre Versprechungen einer polnischen Autonomie eingelöst, so
hätte das an Rußland angeschlossene Staatswesen alle europäischen Neigungen
und Strömungen als unbequem empfinden und seine innere Politik entsprechend
einrichten müssen, — nun die polnischen Führer ihr Heil an Deutschlands
Seite suchen, wird sich ihre besondere Aufmerksamkeit gegen alle von Rußland
her eingewanderten Einflüsse richten.

Der Umfang und Charakter dieser russischen Einflüsse ist im Augenblick
nicht recht greifbar, da er naturgemäß hin und her schwankte; jedenfalls wird
er um so mehr zurücktreten, je gründlicher die Niederlagen sind, die wir Ru߬
land beibringen und je größer die Vorteile ausfallen, die wir den Polen bei
ihrem politischen Anschluß an Mitteleuropa gewähren können. Bei der augen¬
scheinlich starken Neigung der Polen zum Westen, die sich seit Einzug unserer
Truppen in Warschau besonders durch die Wirksamkeit der polnischen Universität
neu belebte, treten die russophilen Strömungen erheblich zurück in ihrer
politischen Bedeutung für den Augenblick. Wir erkennen sie wohl am klarsten
durch einen kurzen Überblick über den Entwicklungsgang des polnischen Denkens
seit den mißlungenen Aufständen von 1830/31 und 1861/63. Wir erkennen
denn auch den großen Anteil, den der Westen auf diesen Entwicklungsgang hat.

Der Aufstand von 1830/31 war der letzte rein nationalen Charakters, —
eine unverfälschte polnische Bewegung mit dem Ziel der Wiederaufrichtung eines
polnischen Staates auf der Grundlage des Nationalitätsprinzips und starker
Hinneigung an den Westen. Schon der Aufstand von 1863 trägt diese reinen
Züge nicht mehr; in ihm schwingen, — ebenso wie bei den Bauernrevolten
von 1846 — vom französischen Sozialismus durch Emigranten übertragene
Klasseninteressen stark mit. Die Bewegung trägt anarchische Züge. Ihr fehlt
ein scharf umrissenes positives Ziel und sie bleibt kaum mehr als eine Auf-


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[0211] Das polnische Problem Die durch die Teilungen bedingte Tatsache, daß die Staatenentwicklung in Europa seit dem achtzehnten Jahrhundert ohne die Mitwirkung eines polnischen Staatswesens und unbeeinflußt durch die Bedürfnisse eines solchen vor sich gegangen ist, hat für die sich dem Zustande der Passivität energisch wider¬ setzenden Polen zur Folge gehabt, daß sie, in dem Bestreben sich realpolitische Freundschaften zu gewinnen, eine Unmenge von Einflüssen auf sich wirken lassen mußten, die sich, kraft ihrer Weltzusammenhänge stärker als die spezifisch polnischen Ideale immer wieder als Selbstzweck durchzusetzen vermochten und schließlich das nationale Empfinden der Polen völlig aufzulösen oder doch in Bahnen zu lenken drohten, die den ursprünglichen Empfindungen und Wünschen der Führer der polnischen Nation entschieden zuwider laufen mußten. Aus solchen zeit¬ weiligen Einflüssen sind im Laufe der Jahrzehnte politische Richtungen und schließlich Parteiprogramme entstanden, die je nach der Größe ihrer Gefolgschaft jedes neu erstehende polnische Staatswesen innerpolitisch mehr oder minder stark belasten oder beleben müssen, je nachdem in welcher Richtung der neue polnische Staatwirtschafts' und kulturpolitischen Anschluß nimmt. Hätten die Russen rechtzeitig ihre Versprechungen einer polnischen Autonomie eingelöst, so hätte das an Rußland angeschlossene Staatswesen alle europäischen Neigungen und Strömungen als unbequem empfinden und seine innere Politik entsprechend einrichten müssen, — nun die polnischen Führer ihr Heil an Deutschlands Seite suchen, wird sich ihre besondere Aufmerksamkeit gegen alle von Rußland her eingewanderten Einflüsse richten. Der Umfang und Charakter dieser russischen Einflüsse ist im Augenblick nicht recht greifbar, da er naturgemäß hin und her schwankte; jedenfalls wird er um so mehr zurücktreten, je gründlicher die Niederlagen sind, die wir Ru߬ land beibringen und je größer die Vorteile ausfallen, die wir den Polen bei ihrem politischen Anschluß an Mitteleuropa gewähren können. Bei der augen¬ scheinlich starken Neigung der Polen zum Westen, die sich seit Einzug unserer Truppen in Warschau besonders durch die Wirksamkeit der polnischen Universität neu belebte, treten die russophilen Strömungen erheblich zurück in ihrer politischen Bedeutung für den Augenblick. Wir erkennen sie wohl am klarsten durch einen kurzen Überblick über den Entwicklungsgang des polnischen Denkens seit den mißlungenen Aufständen von 1830/31 und 1861/63. Wir erkennen denn auch den großen Anteil, den der Westen auf diesen Entwicklungsgang hat. Der Aufstand von 1830/31 war der letzte rein nationalen Charakters, — eine unverfälschte polnische Bewegung mit dem Ziel der Wiederaufrichtung eines polnischen Staates auf der Grundlage des Nationalitätsprinzips und starker Hinneigung an den Westen. Schon der Aufstand von 1863 trägt diese reinen Züge nicht mehr; in ihm schwingen, — ebenso wie bei den Bauernrevolten von 1846 — vom französischen Sozialismus durch Emigranten übertragene Klasseninteressen stark mit. Die Bewegung trägt anarchische Züge. Ihr fehlt ein scharf umrissenes positives Ziel und sie bleibt kaum mehr als eine Auf-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330971/211>, abgerufen am 23.07.2024.