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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr.

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!L>iener Brief

Vor wenigen Wochen hieß es gelegentlich in der Presse: die Schuld liege
nicht an Stürgkh, sondern am System. Das Unglück sei eben, daß man in
Österreich nur lauter Stürgkhs habe. Ganz stimmt das nicht. Es fragt sich
nur: ist die Mehrheit, sind die Politiker da. die einen starken Staatsmann,
den Vertreter eines starken einheitlichen Österreichs genügend stützen könnten?
Die Unerschütterlichkeit, mit der sich Stürgkh weniger durch Handeln als durch
Verhindern behauptete, mochte pessimistisch stimmen. Immerhin würde ein weit¬
blickender und großzügiger Staatsmann gewiß eine arbeitsfähige und dauernde
Mehrheit formen können, wenn er den inneren Umbau Österreichs, der so
unbedingt nötig ist und, richtig begonnen, sehr fruchtbar wäre, entschlossen in
Angriff nähme. Die Deutsch-Österreicher, die doch die berufensten Führer der
österreichischen Politik nach ihren Opfern und Leistungen im Kriege sein müßten,
müßten bei stärkerer Einigkeit den Kern dieser Mehrheit zu bilden imstande sein.
Eines ist sicher: Die österreichische Stciatsidee, die in diesem Kriege im Bunde
mit Deutschland, im Widerstande gegen den Osten in den besten Köpfen und
im Herzen der wertvollsten Bevölkerungsteile Österreichs zu starkem Leben
erstanden ist, wird entweder jetzt, während des Krieges auf die Wirklichkeit
Einfluß gewinnen -- oder nie. Es ist kaum denkbar, daß die unendlich reichen
und wertvollen Kräfte der Doppelmonarchie nach dem Kriege wieder in der
alten Weise beiseite stehen sollen; daß nach so viel unerhörten Opfern und
Leistungen der aufbauenden Elemente wieder die zerstörenden und hemmenden
Einfluß gewinnen sollten, die jener Staatsidee widerstreben -- ohne eine andere
lebensfähige an ihre Stelle zu setzen. Österreich muß sich endgültig entscheiden:
ob es ein Tor des Ostens nach dem Westen werden will (wovon sich vor dem Kriege
starke Anzeichen offenbarten) oder die Vormacht Mitteleuropas gegen den Osten.
Ein Schwanken und Zögern zwischen beiden Gegensätzen ist nach dem Kriege
nicht mehr möglich. Die Entscheidung wird für Deutschland von wesentlicher
Bedeutung sein. Und anderseits: der Friede und die Stellung der Mittel¬
mächte in diesem Frieden wird bei dieser Entscheidung den Ausschlag geben.
Nach welcher Seite ein billiger Friede mit dem Osten die Wagschale senken
würde, kann für jeden, der Osterreich vor dem Kriege und während des Krieges
genauer beobachtet hat, nicht zweifelhaft sein.


Uarl Hermann


!L>iener Brief

Vor wenigen Wochen hieß es gelegentlich in der Presse: die Schuld liege
nicht an Stürgkh, sondern am System. Das Unglück sei eben, daß man in
Österreich nur lauter Stürgkhs habe. Ganz stimmt das nicht. Es fragt sich
nur: ist die Mehrheit, sind die Politiker da. die einen starken Staatsmann,
den Vertreter eines starken einheitlichen Österreichs genügend stützen könnten?
Die Unerschütterlichkeit, mit der sich Stürgkh weniger durch Handeln als durch
Verhindern behauptete, mochte pessimistisch stimmen. Immerhin würde ein weit¬
blickender und großzügiger Staatsmann gewiß eine arbeitsfähige und dauernde
Mehrheit formen können, wenn er den inneren Umbau Österreichs, der so
unbedingt nötig ist und, richtig begonnen, sehr fruchtbar wäre, entschlossen in
Angriff nähme. Die Deutsch-Österreicher, die doch die berufensten Führer der
österreichischen Politik nach ihren Opfern und Leistungen im Kriege sein müßten,
müßten bei stärkerer Einigkeit den Kern dieser Mehrheit zu bilden imstande sein.
Eines ist sicher: Die österreichische Stciatsidee, die in diesem Kriege im Bunde
mit Deutschland, im Widerstande gegen den Osten in den besten Köpfen und
im Herzen der wertvollsten Bevölkerungsteile Österreichs zu starkem Leben
erstanden ist, wird entweder jetzt, während des Krieges auf die Wirklichkeit
Einfluß gewinnen — oder nie. Es ist kaum denkbar, daß die unendlich reichen
und wertvollen Kräfte der Doppelmonarchie nach dem Kriege wieder in der
alten Weise beiseite stehen sollen; daß nach so viel unerhörten Opfern und
Leistungen der aufbauenden Elemente wieder die zerstörenden und hemmenden
Einfluß gewinnen sollten, die jener Staatsidee widerstreben — ohne eine andere
lebensfähige an ihre Stelle zu setzen. Österreich muß sich endgültig entscheiden:
ob es ein Tor des Ostens nach dem Westen werden will (wovon sich vor dem Kriege
starke Anzeichen offenbarten) oder die Vormacht Mitteleuropas gegen den Osten.
Ein Schwanken und Zögern zwischen beiden Gegensätzen ist nach dem Kriege
nicht mehr möglich. Die Entscheidung wird für Deutschland von wesentlicher
Bedeutung sein. Und anderseits: der Friede und die Stellung der Mittel¬
mächte in diesem Frieden wird bei dieser Entscheidung den Ausschlag geben.
Nach welcher Seite ein billiger Friede mit dem Osten die Wagschale senken
würde, kann für jeden, der Osterreich vor dem Kriege und während des Krieges
genauer beobachtet hat, nicht zweifelhaft sein.


Uarl Hermann


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[0167] !L>iener Brief Vor wenigen Wochen hieß es gelegentlich in der Presse: die Schuld liege nicht an Stürgkh, sondern am System. Das Unglück sei eben, daß man in Österreich nur lauter Stürgkhs habe. Ganz stimmt das nicht. Es fragt sich nur: ist die Mehrheit, sind die Politiker da. die einen starken Staatsmann, den Vertreter eines starken einheitlichen Österreichs genügend stützen könnten? Die Unerschütterlichkeit, mit der sich Stürgkh weniger durch Handeln als durch Verhindern behauptete, mochte pessimistisch stimmen. Immerhin würde ein weit¬ blickender und großzügiger Staatsmann gewiß eine arbeitsfähige und dauernde Mehrheit formen können, wenn er den inneren Umbau Österreichs, der so unbedingt nötig ist und, richtig begonnen, sehr fruchtbar wäre, entschlossen in Angriff nähme. Die Deutsch-Österreicher, die doch die berufensten Führer der österreichischen Politik nach ihren Opfern und Leistungen im Kriege sein müßten, müßten bei stärkerer Einigkeit den Kern dieser Mehrheit zu bilden imstande sein. Eines ist sicher: Die österreichische Stciatsidee, die in diesem Kriege im Bunde mit Deutschland, im Widerstande gegen den Osten in den besten Köpfen und im Herzen der wertvollsten Bevölkerungsteile Österreichs zu starkem Leben erstanden ist, wird entweder jetzt, während des Krieges auf die Wirklichkeit Einfluß gewinnen — oder nie. Es ist kaum denkbar, daß die unendlich reichen und wertvollen Kräfte der Doppelmonarchie nach dem Kriege wieder in der alten Weise beiseite stehen sollen; daß nach so viel unerhörten Opfern und Leistungen der aufbauenden Elemente wieder die zerstörenden und hemmenden Einfluß gewinnen sollten, die jener Staatsidee widerstreben — ohne eine andere lebensfähige an ihre Stelle zu setzen. Österreich muß sich endgültig entscheiden: ob es ein Tor des Ostens nach dem Westen werden will (wovon sich vor dem Kriege starke Anzeichen offenbarten) oder die Vormacht Mitteleuropas gegen den Osten. Ein Schwanken und Zögern zwischen beiden Gegensätzen ist nach dem Kriege nicht mehr möglich. Die Entscheidung wird für Deutschland von wesentlicher Bedeutung sein. Und anderseits: der Friede und die Stellung der Mittel¬ mächte in diesem Frieden wird bei dieser Entscheidung den Ausschlag geben. Nach welcher Seite ein billiger Friede mit dem Osten die Wagschale senken würde, kann für jeden, der Osterreich vor dem Kriege und während des Krieges genauer beobachtet hat, nicht zweifelhaft sein. Uarl Hermann

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330971/167>, abgerufen am 23.07.2024.