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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr.

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Ivohin geht Rußland?

Nein, dies kann nicht wiederholt werden, man muß es selbst hören. Und
am wunderlichsten ist es, daß dieses unerhörte, im Herzen des Volkes, im
Herzen der Erde versteckt ruhende, nicht der Christ Tolstoj, nicht der recht¬
gläubige Dostojewski, sondern der "gottlose" Gorki gehört hat.

Was "Mutter Gottes" ist, weiß die Großmutter selbst nicht. Wenn
jemand sie darüber fragen würde, so würde sie auf das Bild des Kasanschen.
Tichwinskischen. Feodorowskischen oder eines anderen lokalen "Mütterchens"
hinweisen. So ist es in ihrem Bewußtsein, aber nicht so ist es in ihrer
unbewußten religiösen "Kenntnis", "Gnosis".

"Du bist mir eine wirkliche Mutter, wie die Erde", -- könnte sie zur
Mutter Gottes sagen, ebenso wie jemand zu ihr selbst sagte. Oder wie bei
Dostojewski (in den "Dämonen") eine Scharfsinnige sagt: "Die Mutter Gottes
ist die große Mutter: kühle Erde", das Geheimnis der Mutter ist das Geheimnis
' der Erde.

In der dogmatischen christlichen Dreieinigkeit sind Vater, Sohn und Geist;
aber in der gleichsam unchristlichen, ketzerischen Dreieinigkeit der Großmutter
sind Vater, Sohn und Mutter. Die verschlossene, unbekannte, unerfüllte Person
des Geistes tritt in der Person der Mutter Erde auf.

Der Vater ist im ersten Testament, der Sohn im zweiten. Ist nicht im
letzten, dem dritten, der Geist? Die Erscheinung des Geistes ist Heiliges Fleisch,
Heilige Erde, Ewige Mutterschaft. Ewige Weiblichkeit. Wenn die Offenbarung
des Vaters -- die Liebe zur Welt (das Irdische, Ungeborne. Kosmische in den
vorchristlichen Religionen), wenn die Offenbarung des Sohnes -- die Liebe zu
Gott (das Unirdische, Antikosmische, nicht von dieser Welt Seiende im Christen¬
tum) ist, so ist die Offenbarung des Geistes -- die Liebe zur Erde und Himmel,
die Liebe zur Welt und zu Gott zusammen. Und dies ist ja die Religion der
Großmutter. Seht, wohin sie gelangt ist, "die alte Närrin", die "Unvernünftige",
"Ungelehrte".

Lermontow, Tjutschew. Nekrassow, Wi. Solowjow, Dostojewski und die nach
ihnen folgenden russischen Leute von höherem religiösem Bewußtsein sind bei
demselben Punkte angelangt. "Das ist höchst wahr, höchst russisch". -- so sagt
jemand von der Religion der Großmutter.

Hier kommt die Höhe mit der Tiefe, -- die Höhe des russischen religiösen
Bewußtseins mit der Tiefe des russischen religiösen Elements zusammen: Und
wiederum ist es am wunderbarsten, daß dieses Zusammenkommen nicht der
Christ Tolstoj, nicht der rechtgläubige Dostojewski, sondern der "gottlose" Gorki,
auch nur in Blindheit tastend, wahrgenommen hat.

Er haßt und verachtet die russischen intelligenten "Gottessucher", und selbst
nähert er sich ihnen, wie sonst niemand; er entdeckt in seinem Volkselement
dasselbe, was sie in ihrem intelligenten Bewußtsein entdeckt haben. Mit
verschiedenen Worten sagen sie dasselbe.


Ivohin geht Rußland?

Nein, dies kann nicht wiederholt werden, man muß es selbst hören. Und
am wunderlichsten ist es, daß dieses unerhörte, im Herzen des Volkes, im
Herzen der Erde versteckt ruhende, nicht der Christ Tolstoj, nicht der recht¬
gläubige Dostojewski, sondern der „gottlose" Gorki gehört hat.

Was „Mutter Gottes" ist, weiß die Großmutter selbst nicht. Wenn
jemand sie darüber fragen würde, so würde sie auf das Bild des Kasanschen.
Tichwinskischen. Feodorowskischen oder eines anderen lokalen „Mütterchens"
hinweisen. So ist es in ihrem Bewußtsein, aber nicht so ist es in ihrer
unbewußten religiösen „Kenntnis", „Gnosis".

„Du bist mir eine wirkliche Mutter, wie die Erde", — könnte sie zur
Mutter Gottes sagen, ebenso wie jemand zu ihr selbst sagte. Oder wie bei
Dostojewski (in den „Dämonen") eine Scharfsinnige sagt: „Die Mutter Gottes
ist die große Mutter: kühle Erde", das Geheimnis der Mutter ist das Geheimnis
' der Erde.

In der dogmatischen christlichen Dreieinigkeit sind Vater, Sohn und Geist;
aber in der gleichsam unchristlichen, ketzerischen Dreieinigkeit der Großmutter
sind Vater, Sohn und Mutter. Die verschlossene, unbekannte, unerfüllte Person
des Geistes tritt in der Person der Mutter Erde auf.

Der Vater ist im ersten Testament, der Sohn im zweiten. Ist nicht im
letzten, dem dritten, der Geist? Die Erscheinung des Geistes ist Heiliges Fleisch,
Heilige Erde, Ewige Mutterschaft. Ewige Weiblichkeit. Wenn die Offenbarung
des Vaters — die Liebe zur Welt (das Irdische, Ungeborne. Kosmische in den
vorchristlichen Religionen), wenn die Offenbarung des Sohnes — die Liebe zu
Gott (das Unirdische, Antikosmische, nicht von dieser Welt Seiende im Christen¬
tum) ist, so ist die Offenbarung des Geistes — die Liebe zur Erde und Himmel,
die Liebe zur Welt und zu Gott zusammen. Und dies ist ja die Religion der
Großmutter. Seht, wohin sie gelangt ist, „die alte Närrin", die „Unvernünftige",
„Ungelehrte".

Lermontow, Tjutschew. Nekrassow, Wi. Solowjow, Dostojewski und die nach
ihnen folgenden russischen Leute von höherem religiösem Bewußtsein sind bei
demselben Punkte angelangt. „Das ist höchst wahr, höchst russisch". — so sagt
jemand von der Religion der Großmutter.

Hier kommt die Höhe mit der Tiefe, — die Höhe des russischen religiösen
Bewußtseins mit der Tiefe des russischen religiösen Elements zusammen: Und
wiederum ist es am wunderbarsten, daß dieses Zusammenkommen nicht der
Christ Tolstoj, nicht der rechtgläubige Dostojewski, sondern der „gottlose" Gorki,
auch nur in Blindheit tastend, wahrgenommen hat.

Er haßt und verachtet die russischen intelligenten „Gottessucher", und selbst
nähert er sich ihnen, wie sonst niemand; er entdeckt in seinem Volkselement
dasselbe, was sie in ihrem intelligenten Bewußtsein entdeckt haben. Mit
verschiedenen Worten sagen sie dasselbe.


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[0126] Ivohin geht Rußland? Nein, dies kann nicht wiederholt werden, man muß es selbst hören. Und am wunderlichsten ist es, daß dieses unerhörte, im Herzen des Volkes, im Herzen der Erde versteckt ruhende, nicht der Christ Tolstoj, nicht der recht¬ gläubige Dostojewski, sondern der „gottlose" Gorki gehört hat. Was „Mutter Gottes" ist, weiß die Großmutter selbst nicht. Wenn jemand sie darüber fragen würde, so würde sie auf das Bild des Kasanschen. Tichwinskischen. Feodorowskischen oder eines anderen lokalen „Mütterchens" hinweisen. So ist es in ihrem Bewußtsein, aber nicht so ist es in ihrer unbewußten religiösen „Kenntnis", „Gnosis". „Du bist mir eine wirkliche Mutter, wie die Erde", — könnte sie zur Mutter Gottes sagen, ebenso wie jemand zu ihr selbst sagte. Oder wie bei Dostojewski (in den „Dämonen") eine Scharfsinnige sagt: „Die Mutter Gottes ist die große Mutter: kühle Erde", das Geheimnis der Mutter ist das Geheimnis ' der Erde. In der dogmatischen christlichen Dreieinigkeit sind Vater, Sohn und Geist; aber in der gleichsam unchristlichen, ketzerischen Dreieinigkeit der Großmutter sind Vater, Sohn und Mutter. Die verschlossene, unbekannte, unerfüllte Person des Geistes tritt in der Person der Mutter Erde auf. Der Vater ist im ersten Testament, der Sohn im zweiten. Ist nicht im letzten, dem dritten, der Geist? Die Erscheinung des Geistes ist Heiliges Fleisch, Heilige Erde, Ewige Mutterschaft. Ewige Weiblichkeit. Wenn die Offenbarung des Vaters — die Liebe zur Welt (das Irdische, Ungeborne. Kosmische in den vorchristlichen Religionen), wenn die Offenbarung des Sohnes — die Liebe zu Gott (das Unirdische, Antikosmische, nicht von dieser Welt Seiende im Christen¬ tum) ist, so ist die Offenbarung des Geistes — die Liebe zur Erde und Himmel, die Liebe zur Welt und zu Gott zusammen. Und dies ist ja die Religion der Großmutter. Seht, wohin sie gelangt ist, „die alte Närrin", die „Unvernünftige", „Ungelehrte". Lermontow, Tjutschew. Nekrassow, Wi. Solowjow, Dostojewski und die nach ihnen folgenden russischen Leute von höherem religiösem Bewußtsein sind bei demselben Punkte angelangt. „Das ist höchst wahr, höchst russisch". — so sagt jemand von der Religion der Großmutter. Hier kommt die Höhe mit der Tiefe, — die Höhe des russischen religiösen Bewußtseins mit der Tiefe des russischen religiösen Elements zusammen: Und wiederum ist es am wunderbarsten, daß dieses Zusammenkommen nicht der Christ Tolstoj, nicht der rechtgläubige Dostojewski, sondern der „gottlose" Gorki, auch nur in Blindheit tastend, wahrgenommen hat. Er haßt und verachtet die russischen intelligenten „Gottessucher", und selbst nähert er sich ihnen, wie sonst niemand; er entdeckt in seinem Volkselement dasselbe, was sie in ihrem intelligenten Bewußtsein entdeckt haben. Mit verschiedenen Worten sagen sie dasselbe.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330971/126>, abgerufen am 23.07.2024.