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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Drittes Vierteljahr.

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Zur ruthenischen Frage

Über das Problem der freien Ukraina hat, wie schon bemerkt, Cleinow
ausführlich gehandelt.*) Darauf gehen wir hier nicht weiter ein. Indessen
fühlen die Ruthenen selbst, daß dieses Ziel noch in ferner Zukunft steht und nur
nach langer Vorbereitung zu erreichen ist. Sie haben daher für den Fall, daß
ihr Ideal nicht zu erlangen wäre, zumindestens die Schaffung der autonomen
ukrainischen Provinz in Österreich ins Auge gefaßt. Es soll nämlich Ostgalizien,
das vorwiegend von Ruthenen bewohnt ist, vom polnischen Westgalizien getrennt
und zu einer besonderen Provinz umgestaltet werden. Mit dieser sollen die
eventuell von Nußland befreiten ruthenischen Gebiete vereinigt werden.**)

Wie der Wunsch nach einer freien Ukraine den heftigsten Widerstand in
Rußland gefunden hat, so erregt die Forderung der Loslösung Ostgaliziens
von der polnischen Herrschaft den stärksten Widerspruch der Polen. Man darf
sagen, daß diese Forderung der galizischen Jungruthenen viel dazu beigetragen
hat, daß ein großer Teil der Polen im letzten Jahrzehnt sich dem Neoslawismus
und dem Russentum in die Arme warf: Polen und Russen wollten vereint die
ihnen gefährliche neue Richtung erdrücken. Die Polen erheben in ihren Pro¬
grammen Anspruch auf das "ungelenke Galizien". Die Ruthenen verweisen zur
Unterstützung ihrer Forderung auf die frühere Selbständigkeit des ruthenischen
Ostgalizien. Sie machen geltend, daß die österreichische Regierung auch schon
selbst daran gedacht hatte, die Verwaltung der großen Provinz zu teilen. Auch
betonen sie, daß die Polen die Ruthenen bedrücken und daß die fortwährende
Spannung eine geordnete, geregelte Verwaltung unmöglich mache. Die Polen ver¬
weisen dagegen auf ihre historischen Rechte und auf den Umstand, daß in Ostgalizien
auch viele Polen (34 Prozent) wohnen, Lemberg sogar bloß 20 Prozent Ruthenen
zählt. Dieser starke Prozentsatz von Polen würde sich nicht leicht der ruthenischen
Majorität fügen - dadurch entstünden in der neuen Provinz sofort arge Reibungen.
Auch wird betont, daß die Ruthenen kaum die nötigen Kräfte besitzen, um die
Provinz selbst verwalten zu können. In Ostgalizien zählt man 50 bis 75
Prozent Analphabeten (im russischen Ruthenengebiet sogar über 75 Prozent).
Schließlich ist zu befürchten, daß in dem abgetrennten Ostgalizien der Panslawismus
weiter um sich greifen wird, da die Jungruthenen ihm kaum Einhalt gebieten könnten.

Aus allem ist zu ersehen, daß gegenwärtig auch die Verwirklichung des
Wunsches der Ruthenen, eine eigene Provinz in Österreich zu erhalten, auf große
Schwierigkeiten stößt. Man wird daher diesen Grenzgebieten eine militärische
Verwaltung geben müssen, bis verschiedene Schwierigkeiten beseitigt und die
russische Politik in andere Bahnen gelenkt sein wird. Nur eine Erstarkung
unserer Ostgrenze unter militärischer Leitung kann die panslawistische Gefahr
eindämmen und eine endgültige Ordnung der Verhältnisse vorbereiten. Die
Militarisierung Ostgaliziens war schon unter Kaiser Josef dem Zweiten geplant




") Vgl. den Aufsatz in Heft 4ö der "Grenzboten" d. I. 1914 über das "Problem der
Ukraina".
**) Vgl. darüber meine demnächst erscheinende Schrift "Polen" (Leipzig, Teubner).
Zur ruthenischen Frage

Über das Problem der freien Ukraina hat, wie schon bemerkt, Cleinow
ausführlich gehandelt.*) Darauf gehen wir hier nicht weiter ein. Indessen
fühlen die Ruthenen selbst, daß dieses Ziel noch in ferner Zukunft steht und nur
nach langer Vorbereitung zu erreichen ist. Sie haben daher für den Fall, daß
ihr Ideal nicht zu erlangen wäre, zumindestens die Schaffung der autonomen
ukrainischen Provinz in Österreich ins Auge gefaßt. Es soll nämlich Ostgalizien,
das vorwiegend von Ruthenen bewohnt ist, vom polnischen Westgalizien getrennt
und zu einer besonderen Provinz umgestaltet werden. Mit dieser sollen die
eventuell von Nußland befreiten ruthenischen Gebiete vereinigt werden.**)

Wie der Wunsch nach einer freien Ukraine den heftigsten Widerstand in
Rußland gefunden hat, so erregt die Forderung der Loslösung Ostgaliziens
von der polnischen Herrschaft den stärksten Widerspruch der Polen. Man darf
sagen, daß diese Forderung der galizischen Jungruthenen viel dazu beigetragen
hat, daß ein großer Teil der Polen im letzten Jahrzehnt sich dem Neoslawismus
und dem Russentum in die Arme warf: Polen und Russen wollten vereint die
ihnen gefährliche neue Richtung erdrücken. Die Polen erheben in ihren Pro¬
grammen Anspruch auf das „ungelenke Galizien". Die Ruthenen verweisen zur
Unterstützung ihrer Forderung auf die frühere Selbständigkeit des ruthenischen
Ostgalizien. Sie machen geltend, daß die österreichische Regierung auch schon
selbst daran gedacht hatte, die Verwaltung der großen Provinz zu teilen. Auch
betonen sie, daß die Polen die Ruthenen bedrücken und daß die fortwährende
Spannung eine geordnete, geregelte Verwaltung unmöglich mache. Die Polen ver¬
weisen dagegen auf ihre historischen Rechte und auf den Umstand, daß in Ostgalizien
auch viele Polen (34 Prozent) wohnen, Lemberg sogar bloß 20 Prozent Ruthenen
zählt. Dieser starke Prozentsatz von Polen würde sich nicht leicht der ruthenischen
Majorität fügen - dadurch entstünden in der neuen Provinz sofort arge Reibungen.
Auch wird betont, daß die Ruthenen kaum die nötigen Kräfte besitzen, um die
Provinz selbst verwalten zu können. In Ostgalizien zählt man 50 bis 75
Prozent Analphabeten (im russischen Ruthenengebiet sogar über 75 Prozent).
Schließlich ist zu befürchten, daß in dem abgetrennten Ostgalizien der Panslawismus
weiter um sich greifen wird, da die Jungruthenen ihm kaum Einhalt gebieten könnten.

Aus allem ist zu ersehen, daß gegenwärtig auch die Verwirklichung des
Wunsches der Ruthenen, eine eigene Provinz in Österreich zu erhalten, auf große
Schwierigkeiten stößt. Man wird daher diesen Grenzgebieten eine militärische
Verwaltung geben müssen, bis verschiedene Schwierigkeiten beseitigt und die
russische Politik in andere Bahnen gelenkt sein wird. Nur eine Erstarkung
unserer Ostgrenze unter militärischer Leitung kann die panslawistische Gefahr
eindämmen und eine endgültige Ordnung der Verhältnisse vorbereiten. Die
Militarisierung Ostgaliziens war schon unter Kaiser Josef dem Zweiten geplant




") Vgl. den Aufsatz in Heft 4ö der „Grenzboten" d. I. 1914 über das „Problem der
Ukraina".
**) Vgl. darüber meine demnächst erscheinende Schrift „Polen" (Leipzig, Teubner).
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[0410] Zur ruthenischen Frage Über das Problem der freien Ukraina hat, wie schon bemerkt, Cleinow ausführlich gehandelt.*) Darauf gehen wir hier nicht weiter ein. Indessen fühlen die Ruthenen selbst, daß dieses Ziel noch in ferner Zukunft steht und nur nach langer Vorbereitung zu erreichen ist. Sie haben daher für den Fall, daß ihr Ideal nicht zu erlangen wäre, zumindestens die Schaffung der autonomen ukrainischen Provinz in Österreich ins Auge gefaßt. Es soll nämlich Ostgalizien, das vorwiegend von Ruthenen bewohnt ist, vom polnischen Westgalizien getrennt und zu einer besonderen Provinz umgestaltet werden. Mit dieser sollen die eventuell von Nußland befreiten ruthenischen Gebiete vereinigt werden.**) Wie der Wunsch nach einer freien Ukraine den heftigsten Widerstand in Rußland gefunden hat, so erregt die Forderung der Loslösung Ostgaliziens von der polnischen Herrschaft den stärksten Widerspruch der Polen. Man darf sagen, daß diese Forderung der galizischen Jungruthenen viel dazu beigetragen hat, daß ein großer Teil der Polen im letzten Jahrzehnt sich dem Neoslawismus und dem Russentum in die Arme warf: Polen und Russen wollten vereint die ihnen gefährliche neue Richtung erdrücken. Die Polen erheben in ihren Pro¬ grammen Anspruch auf das „ungelenke Galizien". Die Ruthenen verweisen zur Unterstützung ihrer Forderung auf die frühere Selbständigkeit des ruthenischen Ostgalizien. Sie machen geltend, daß die österreichische Regierung auch schon selbst daran gedacht hatte, die Verwaltung der großen Provinz zu teilen. Auch betonen sie, daß die Polen die Ruthenen bedrücken und daß die fortwährende Spannung eine geordnete, geregelte Verwaltung unmöglich mache. Die Polen ver¬ weisen dagegen auf ihre historischen Rechte und auf den Umstand, daß in Ostgalizien auch viele Polen (34 Prozent) wohnen, Lemberg sogar bloß 20 Prozent Ruthenen zählt. Dieser starke Prozentsatz von Polen würde sich nicht leicht der ruthenischen Majorität fügen - dadurch entstünden in der neuen Provinz sofort arge Reibungen. Auch wird betont, daß die Ruthenen kaum die nötigen Kräfte besitzen, um die Provinz selbst verwalten zu können. In Ostgalizien zählt man 50 bis 75 Prozent Analphabeten (im russischen Ruthenengebiet sogar über 75 Prozent). Schließlich ist zu befürchten, daß in dem abgetrennten Ostgalizien der Panslawismus weiter um sich greifen wird, da die Jungruthenen ihm kaum Einhalt gebieten könnten. Aus allem ist zu ersehen, daß gegenwärtig auch die Verwirklichung des Wunsches der Ruthenen, eine eigene Provinz in Österreich zu erhalten, auf große Schwierigkeiten stößt. Man wird daher diesen Grenzgebieten eine militärische Verwaltung geben müssen, bis verschiedene Schwierigkeiten beseitigt und die russische Politik in andere Bahnen gelenkt sein wird. Nur eine Erstarkung unserer Ostgrenze unter militärischer Leitung kann die panslawistische Gefahr eindämmen und eine endgültige Ordnung der Verhältnisse vorbereiten. Die Militarisierung Ostgaliziens war schon unter Kaiser Josef dem Zweiten geplant ") Vgl. den Aufsatz in Heft 4ö der „Grenzboten" d. I. 1914 über das „Problem der Ukraina". **) Vgl. darüber meine demnächst erscheinende Schrift „Polen" (Leipzig, Teubner).

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330533/410>, abgerufen am 23.07.2024.