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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Drittes Vierteljahr.

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Zur ruthenischen Frage

im eigentlichen Sinne nennen darf, mag dahingestellt bleiben. Seit dem Ende
des sechzehnten Jahrhunderts begannen die Kämpfe der Kosaken gegen die Polen.
Aber auch ihr tüchtigster Hetman Bostan Chmelnicki. der 1648 vom Dniepr
bis zum San (Galizien) alles Land gegen Polen in Aufruhr gebracht hatte,
sah sich genötigt bei den Tataren und Türken, die damals die Nordküste des
Schwarzen Meeres beherrschten, schließlich bei Moskau Hilfe zu suchen.

Damit war der letzte Versuch, im ruthenischen Gebiete ein selbständiges
Reich zu befestigen, gescheitert. Indem die Ruthenen bei Moskau Zuflucht
suchten, gaben sie den Anlaß zum Aufgehen des ruthenischen Gebietes in
den jüngeren russischen Staat. Dieser war aus einem der Teilfürstentümer
entstanden, in die das alte russische Reich zerfallen war. Nach dem Muster
und unter dem Einfluß der tatarischen Gewaltherrschaft wurden die Fürsten
dieses Gebietes unumschränkte Herrscher. Nach dem Verfalle der Mongolen-
Herrschaft hatten sich die Moskaner Fürsten selbständig gemacht. Es ist leicht
begreiflich, daß diese Alleinherrscher für die demokratischen Kosaken kein Ver¬
ständnis hatten. Schon 1667 verständigten sie sich mit Polen über die Teilung
der Ukraina; Rußland erhielt zunächst das Gebiet östlich von Dniepr und
Kijew, während Polen die westlichen Teile behielt. In beiden Anteilen währte
die Bedrückung weiter. Aufstände führten zu nichts. Jener des Hetman
Mazepa (1708) wurde trotz seiner Verbindung mit Karl dem Zwölften von
Schweden von Peter dem Großen unterdrückt, und Katharina die Zweite ver¬
nichtete die letzten Reste der alten Kosakenorganisation. Die heutigen Kosaken¬
regimenter haben damit nichts gemein. Im polnischen Anteil wurden ebenfalls
die Aufstände der "Hajdamaken" und zuletzt die sogenannte "Kolijivschtschyna"
niedergeworfen. Durch die Teilungen Polens (1772 bis 1795) kam sodann
auch das von Ruthenen bewohnte Gebiet rechts (westlich) vom Dniepr an
Rußland. Nur die Ruthenen in Ostgalizien fielen an Österreich. Außerdem
gelangten 1774 durch die Erwerbung der Bukowina die in diesem Lande
wohnenden Ruthenen unter österreichische Herrschaft. Ein kleiner Teil der
Ruthenen wohnt schließlich im nördlichen Ungarn.

In dem russischen Anteil Rutheniens wurde weiter mit größter Härte
gegen die Ruthenen verfahren. Trotzdem begann am Ende des achtzehnten
Jahrhunderts ein neuer Aufschwung. Er ging von Ruthenen aus, die an
westeuropäischen Universitäten ihre Bildung genossen hatten. Einer der hervor¬
ragendsten Vertreter dieser Wiedergeburt war Kotlarewskyj, der 1798 die erste
moderne ruthenische Dichtung, eine Travestie der vergilischen Aeneis, geschrieben
hat. 1846/7 wurde in Kijew von ruthenischen Gelehrten und Schriftstellern die
Cyrill- und Methodgesellschaft gegründet, um ruthenische Kultur und Literatur
zu pflegen. Die russische Regierung löste sie auf, und ihre Seele, der größte
ruthenische Dichter Taras Schewtschenko, wurde als gemeiner Soldat in die
Festungen der Kirgisensteppe geschickt, wo er weder lesen noch schreiben durfte.
Um die ruthenische Literatur vollständig zu unterdrücken, wurde 1376 das


Zur ruthenischen Frage

im eigentlichen Sinne nennen darf, mag dahingestellt bleiben. Seit dem Ende
des sechzehnten Jahrhunderts begannen die Kämpfe der Kosaken gegen die Polen.
Aber auch ihr tüchtigster Hetman Bostan Chmelnicki. der 1648 vom Dniepr
bis zum San (Galizien) alles Land gegen Polen in Aufruhr gebracht hatte,
sah sich genötigt bei den Tataren und Türken, die damals die Nordküste des
Schwarzen Meeres beherrschten, schließlich bei Moskau Hilfe zu suchen.

Damit war der letzte Versuch, im ruthenischen Gebiete ein selbständiges
Reich zu befestigen, gescheitert. Indem die Ruthenen bei Moskau Zuflucht
suchten, gaben sie den Anlaß zum Aufgehen des ruthenischen Gebietes in
den jüngeren russischen Staat. Dieser war aus einem der Teilfürstentümer
entstanden, in die das alte russische Reich zerfallen war. Nach dem Muster
und unter dem Einfluß der tatarischen Gewaltherrschaft wurden die Fürsten
dieses Gebietes unumschränkte Herrscher. Nach dem Verfalle der Mongolen-
Herrschaft hatten sich die Moskaner Fürsten selbständig gemacht. Es ist leicht
begreiflich, daß diese Alleinherrscher für die demokratischen Kosaken kein Ver¬
ständnis hatten. Schon 1667 verständigten sie sich mit Polen über die Teilung
der Ukraina; Rußland erhielt zunächst das Gebiet östlich von Dniepr und
Kijew, während Polen die westlichen Teile behielt. In beiden Anteilen währte
die Bedrückung weiter. Aufstände führten zu nichts. Jener des Hetman
Mazepa (1708) wurde trotz seiner Verbindung mit Karl dem Zwölften von
Schweden von Peter dem Großen unterdrückt, und Katharina die Zweite ver¬
nichtete die letzten Reste der alten Kosakenorganisation. Die heutigen Kosaken¬
regimenter haben damit nichts gemein. Im polnischen Anteil wurden ebenfalls
die Aufstände der „Hajdamaken" und zuletzt die sogenannte „Kolijivschtschyna"
niedergeworfen. Durch die Teilungen Polens (1772 bis 1795) kam sodann
auch das von Ruthenen bewohnte Gebiet rechts (westlich) vom Dniepr an
Rußland. Nur die Ruthenen in Ostgalizien fielen an Österreich. Außerdem
gelangten 1774 durch die Erwerbung der Bukowina die in diesem Lande
wohnenden Ruthenen unter österreichische Herrschaft. Ein kleiner Teil der
Ruthenen wohnt schließlich im nördlichen Ungarn.

In dem russischen Anteil Rutheniens wurde weiter mit größter Härte
gegen die Ruthenen verfahren. Trotzdem begann am Ende des achtzehnten
Jahrhunderts ein neuer Aufschwung. Er ging von Ruthenen aus, die an
westeuropäischen Universitäten ihre Bildung genossen hatten. Einer der hervor¬
ragendsten Vertreter dieser Wiedergeburt war Kotlarewskyj, der 1798 die erste
moderne ruthenische Dichtung, eine Travestie der vergilischen Aeneis, geschrieben
hat. 1846/7 wurde in Kijew von ruthenischen Gelehrten und Schriftstellern die
Cyrill- und Methodgesellschaft gegründet, um ruthenische Kultur und Literatur
zu pflegen. Die russische Regierung löste sie auf, und ihre Seele, der größte
ruthenische Dichter Taras Schewtschenko, wurde als gemeiner Soldat in die
Festungen der Kirgisensteppe geschickt, wo er weder lesen noch schreiben durfte.
Um die ruthenische Literatur vollständig zu unterdrücken, wurde 1376 das


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[0408] Zur ruthenischen Frage im eigentlichen Sinne nennen darf, mag dahingestellt bleiben. Seit dem Ende des sechzehnten Jahrhunderts begannen die Kämpfe der Kosaken gegen die Polen. Aber auch ihr tüchtigster Hetman Bostan Chmelnicki. der 1648 vom Dniepr bis zum San (Galizien) alles Land gegen Polen in Aufruhr gebracht hatte, sah sich genötigt bei den Tataren und Türken, die damals die Nordküste des Schwarzen Meeres beherrschten, schließlich bei Moskau Hilfe zu suchen. Damit war der letzte Versuch, im ruthenischen Gebiete ein selbständiges Reich zu befestigen, gescheitert. Indem die Ruthenen bei Moskau Zuflucht suchten, gaben sie den Anlaß zum Aufgehen des ruthenischen Gebietes in den jüngeren russischen Staat. Dieser war aus einem der Teilfürstentümer entstanden, in die das alte russische Reich zerfallen war. Nach dem Muster und unter dem Einfluß der tatarischen Gewaltherrschaft wurden die Fürsten dieses Gebietes unumschränkte Herrscher. Nach dem Verfalle der Mongolen- Herrschaft hatten sich die Moskaner Fürsten selbständig gemacht. Es ist leicht begreiflich, daß diese Alleinherrscher für die demokratischen Kosaken kein Ver¬ ständnis hatten. Schon 1667 verständigten sie sich mit Polen über die Teilung der Ukraina; Rußland erhielt zunächst das Gebiet östlich von Dniepr und Kijew, während Polen die westlichen Teile behielt. In beiden Anteilen währte die Bedrückung weiter. Aufstände führten zu nichts. Jener des Hetman Mazepa (1708) wurde trotz seiner Verbindung mit Karl dem Zwölften von Schweden von Peter dem Großen unterdrückt, und Katharina die Zweite ver¬ nichtete die letzten Reste der alten Kosakenorganisation. Die heutigen Kosaken¬ regimenter haben damit nichts gemein. Im polnischen Anteil wurden ebenfalls die Aufstände der „Hajdamaken" und zuletzt die sogenannte „Kolijivschtschyna" niedergeworfen. Durch die Teilungen Polens (1772 bis 1795) kam sodann auch das von Ruthenen bewohnte Gebiet rechts (westlich) vom Dniepr an Rußland. Nur die Ruthenen in Ostgalizien fielen an Österreich. Außerdem gelangten 1774 durch die Erwerbung der Bukowina die in diesem Lande wohnenden Ruthenen unter österreichische Herrschaft. Ein kleiner Teil der Ruthenen wohnt schließlich im nördlichen Ungarn. In dem russischen Anteil Rutheniens wurde weiter mit größter Härte gegen die Ruthenen verfahren. Trotzdem begann am Ende des achtzehnten Jahrhunderts ein neuer Aufschwung. Er ging von Ruthenen aus, die an westeuropäischen Universitäten ihre Bildung genossen hatten. Einer der hervor¬ ragendsten Vertreter dieser Wiedergeburt war Kotlarewskyj, der 1798 die erste moderne ruthenische Dichtung, eine Travestie der vergilischen Aeneis, geschrieben hat. 1846/7 wurde in Kijew von ruthenischen Gelehrten und Schriftstellern die Cyrill- und Methodgesellschaft gegründet, um ruthenische Kultur und Literatur zu pflegen. Die russische Regierung löste sie auf, und ihre Seele, der größte ruthenische Dichter Taras Schewtschenko, wurde als gemeiner Soldat in die Festungen der Kirgisensteppe geschickt, wo er weder lesen noch schreiben durfte. Um die ruthenische Literatur vollständig zu unterdrücken, wurde 1376 das

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330533/408>, abgerufen am 23.07.2024.